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Dienstleistungsorientierung der Verwaltung weiter steigern

Mit der E-Government-Strategie Schweiz verfolgen Bund, Kantone und Gemeinden das Ziel, die Dienstleistungsorientierung ihrer Verwaltungen weiter zu optimieren. Mit der Umsetzung verschiedener strategischer Projekte und Leistungen soll die Qualität der elektronischen Dienste und ihre Nutzerfreundlichkeit gesteigert werden.

Am Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer lässt sich der Erfolg von E-Government-Angeboten ablesen. Sind E-Services unbekannt, schwer auffindbar oder nicht medienbruchfrei nutzbar, wirkt sich dies auf die Nutzungsquote aus. Dies hat die kürzlich veröffentlichte Studie „E-Government-Monitor“, eine vergleichende Untersuchung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, einmal mehr verdeutlicht. Knapp 60 Prozent der Befragten in der Schweiz gaben an, Angebote nicht zu nutzen, weil sie diese nicht kennen, 2/5 werden von Medienbrüchen oder undurchschaubaren Websitestrukturen abgeschreckt und 30 Prozent finden die Online-Angebote sprachlich unverständlich. Für die Verwaltungen sind diese Befunde wichtige Hinweise. Sie belegen das grundsätzliche Interesse und die Bereitschaft der Bevölkerung, elektronische Behördenleistungen zu nutzen und zeigen auf, wo die Behörden ihre Dienste im Internet noch verbessern müssen.

Nutzerinnen und Nutzer im Fokus der E-Government-Strategie Schweiz
Mit der gemeinsamen E-Government-Strategie wollen Bund, Kantone und Gemeinden die Dienstleistungsorientierung ihrer Behörden optimieren. Elektronische Behördenleistungen sollen so umgesetzt werden, dass sie einfach, transparent und sicher nutzbar sind. Sie sollen für Nutzerinnen und Nutzer einen tatsächlichen Mehrwert stiften – über einen Gewinn an Zeit, Komfort oder, insbesondere im geschäftlichen Umfeld, an Effizienz.

Der Schwerpunktplan, das Umsetzungsinstrument der E-Government-Strategie, enthält denn auch verschiedene strategische Projekte und dauerhafte Aufgaben („Leistungen“), welche der Bevölkerung und Wirtschaft ihren Geschäftsverkehr mit den Behörden bedeutend vereinfachen sollen. So erarbeitet die Bundeskanzlei ein Konzept, um den Zugang zu elektronischen Behördenleistungen für die Bevölkerung so zu optimieren, dass die heute bestehenden Nutzungsbarrieren reduziert werden können. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) baut ein Transaktionsportal auf, über das Unternehmen zukünftig medienbruchfreie E-Services von Bund, Kantonen und Gemeinden beziehen können, ohne sich um die Frage der Zuständigkeit kümmern zu müssen. Eine erste Version dieses Portals für Unternehmen wird 2017 lanciert. Ein weiteres strategisches Projekt, das den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Behörden optimiert, ist „eMWST“. Die Eidgenössische Steuerverwaltung treibt in dessen Rahmen die Ausbreitung der elektronischen Mehrwertsteuerrechnung voran, die Unternehmen grosse Effizienzgewinne ermöglicht. Bis im September haben bereits 20 Prozent der in der Schweiz mehrwertsteuerpflichtigen Unternehmen dieses Angebot genutzt. Mit der Erweiterung des Portals SuisseTax um die Funktionalität, direkt aus den Finanzbuchhaltungssystemen exportierte Daten hochladen zu können, ist per 2018 eine weitere Zunahme der Nutzung zu erwarten.

Für die privaten Nutzerinnen und Nutzer sollen bis 2019 zwei oft nachgefragte elektronische Behördenleistung nahezu schweizweit realisiert sein: das elektronische Wählen und Abstimmen und die schweizweite Umzugsmeldung über das Internet. Aber auch die Umsetzung von Basismodulen wie die Etablierung einer staatlich anerkannten elektronischen Identität (eID) sind für die Bevölkerung von grossem Interesse. Während wir heute alle viele verschiedene Nutzernamen und Passwörter besitzen, um im Internet einzukaufen, Reisen zu buchen oder Bankgeschäfte abzuwickeln, wird mit der staatlich anerkannten eID ein elektronisches Identifizierungsmittel zur Verfügung gestellt, das für alle Portale eingesetzt werden kann. Im strategischen Projekt eID hat das Bundesamt für Polizei (fedpol) ein Umsetzungskonzept und einen Gesetzesentwurf erarbeitet, der per Anfang 2017 in die Vernehmlassung übergeben wird.

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Strategische Projekte und Leistungen des E-Government-Schwerpunktplans 2016 – 2019

To do: Transparenz steigern, Basismodule etablieren
Eine weitere international vergleichende Studie, der E-Government-Benchmark der EU, zeigt, dass die Schweiz noch einen grossen Aufholbedarf hat, was die Bereiche der Schlüsselmodule und der Transparenz betrifft. Auch diese sind für die Qualität von elektronischen Behördenleistungen und eine hohe Nutzerorientierung zentral. Zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung haben ein grosses Interesse, zu erfahren, wie ihre Daten von den Behörden verwendet werden. Die Nachvollziehbarkeit von Online-Prozessen sowie die Transparenz bezüglich der Verwendung persönlicher Daten durch die Verwaltung ist, wie die EU-Studie zeigt, in der Schweiz aber noch wenig ausgebaut. Basismodule, wie elektronische Identitäten, sichere Dokumentablagen und Einmalanmeldungen ermöglichen eine einfache medienbruchfreie Nutzung von E-Services. Die Schweizer Verwaltungen liegen hier noch hinter dem europäischen Durchschnitt zurück. Neben dem Aufbau der eID umfasst der Schwerpunktplan daher weitere wichtige Infrastrukturprojekte, wie den Aufbau eines Identitätsverbundes für ein einheitliches Anmeldeverfahren. Der E-Government-Schwerpunktplan unterliegt zudem einer rollenden Planung. Das heisst, er wird jährlich überprüft und bei Bedarf angepasst. Planungs- und Steuerungsausschuss von E-Government Schweiz können so auf Lücken im Ausbau der hiesigen E-Verwaltung reagieren und Massnahmen für eine Verbesserung in den Schwerpunktplan aufnehmen.

Gute Vorzeichen für die weitere Entwicklung
Der E-Government-Monitor 2016 liefert weitere wertvolle Befunde: Über die letzten zwei Jahre ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden gewachsen, die Bedenken bezüglich Datenschutz haben abgenommen und die oben zitierten Nutzungsbarrieren konnten deutlich reduziert werden. Auch die Zufriedenheit mit den E-Government-Leistungen der Behörden ist in der Schweiz konstant hoch. Dies sind gute Voraussetzungen für den Ausbau der Verwaltung im Internet und eine stärkere Nutzung durch die Bevölkerung. Für eine hohe Dienstleistungsorientierung ist aber auch die Optimierung in der Transparenz und der Bereitstellung von Basismodulen unumgänglich. Die Steuerungsgremien von E-Government Schweiz werden prüfen, mit welchen Massnahmen diese Bereiche weiterentwickelt werden können. Denn Bund, Kantone und Gemeinden wollen mit der Umsetzung ihrer E-Government-Strategie erreichen, dass der elektronische Geschäftsverkehr selbstverständlich wird, so dass Nutzerinnen und Nutzer von den E-Services der Verwaltung ebenso alltäglich Gebrauch machen, wie sie es auf privaten Auktions-, Einkauf- oder Reiseportalen tun.


logo-mit-schweizE-Government Schweiz ist die Organisation von Bund, Kantonen und Gemeinden für die Ausbreitung elektronischer Behördenleistungen. Sie steuert, plant und koordiniert die gemeinsamen E-Government-Aktivitäten der drei Staatsebenen.

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E-Government November 2016

Landauf landab – also mindestens auf internationaler Ebene – wird vom transformativen beziehungsweise vom transformationellen E-Government gesprochen. Das heisst: Verändert soll sie werden, die öffentliche Verwaltung, und zwar recht kräftig. Mein natürlicher erster Gedanke dazu stammt von Goethe: „Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Wenn ich es aber recht überlege, so meine ich, dass mit einer kleinen grammatikalischen Umstellung die Sache Hand und Fuss haben könnte: Verändern wird sie sich, die öffentliche Verwaltung!

Das Schweizer E-Government Symposium am 30. November setzt sich in diesem Kontext mit Open Innovation auseinander, unter anderem mit einer Keynote von Dirk Helbing zu „Open and responsible Innovation, important for the public sector“. Helbing vertritt (ich beziehe mich u.a. auf den Technology Outlook an der ETH am 30. September) eindrucksvoll die Vision einer neuen Gesellschaft, die sich selber organisiert und vor den Gefahren der Digitalisierung schützt. Dass solche Visionen an E-Government Veranstaltungen zu Wort kommen, ist erstens neu und zweitens allein schon ein Fortschritt. Es schafft Bewusstsein dafür, dass ein Weiterbestand etablierter Strukturen keine realistische Option ist und dass viele alten Ideale entsorgt werden müssen, beispielsweise jenes von einer klaren Trennung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wir werden aber nur dann vorwärts kommen, wenn wir das Vorhandene nutzen. Dort wo die Verwaltung funktioniert, verkörpert sie sehr viel Information und besteht aus viel Wissen und Knowhow. Dies kann mit ein paar Bürgerideen kaum verbessert werden, weil solche Ideen von einer guten Verwaltung sowieso dauernd beobachtet und bei Nutzen internalisiert werden. Ein simples Ersetzen der Verwaltung durch Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation würde sogar einen grossen Rückschritt darstellen, weil Information in grossem Stil vernichtet würde, ohne dass klar ist, unter welchen Bedingungen diese Information in der Gesellschaft neu entstehen könnte.

Aber natürlich ist es richtig, dass sich Information, Wissen und Knowhow in der Verwaltung oft der Weiterentwicklung verweigern und von Natur aus zur Auflösung tendieren. Ersteres weil es in der menschlichen Natur und letzteres weil es in der Natur abgeschlossener Systeme liegt. Es gilt deshalb die Bedingungen so zu gestalten, dass im Gegenteil die, von der Verwaltung verkörperte, Information wächst und sich ihr Wissen und Knowhow weiterentwickeln. Technologie und Vernetzung werden dabei grosse Rollen spielen, aber es wird dabei NICHT darum gehen, vermeintliche Schwächen auszumerzen, sondern darum, die existierenden Stärken weiter zu stärken und sowohl intern als auch extern mit den Stärken anderer Akteure zu verbinden.

Zu dieser Ausgabe
Die Schweiz hat eine neue E-Government Strategie 2016 bis 2019. In dieser Ausgabe finden sie zwei Beiträge dazu. Anna Faoro von der Geschäftsstelle E-Government Schweiz schreibt über die Dienstleistungsorientierung (Ziel 1), ich selber schreibe über die Nachhaltigkeit (Ziel 4). Daneben präsentieren wir zwei Schlüsselprojekte des Schweizer E-Government, ein bereits sehr etabliertes und ein äusserst innovatives. Oliver Koller schreibt über das Projekt Unternehmensidentifikationsnummer, kurz UID, und Nadia Zürcher schreibt über das Linked Data Projekt LINDAS. Ausserdem präsentieren wir einen Beitrag von Fabian Reinhard zu Open Source in der E-Government Praxis und zwei Beiträge aus der Unterrichtspraxis: Stefan Grolimund, Student an der BFH und Wirtschaftsinformatiker beim Kanton Solothurn fasst seine Masterarbeit zusammen und Andreas Spichiger, Leiter des E-Government-Instituts, berichtet über ein grosses Studierendenprojekt. Den Abschluss bildet ein Beitrag von mir zum Thema Transformatives E-Government. Die Beiträge erscheinen im Laufe des Monats November.

Geplant sind überdies kurze Berichte zum eGov Fokus „Linked Data in der Praxis“ (28. Oktober im Berner Rathaus) und zur 13. Tagung Informatik und Recht zur Digitalisierung der Justiz (2. November im Berner Rathaus). Den eGov Fokus veranstalten wir selber in Zusammenarbeit mit der ETH-Bibliothek, der Schweizer Informatik Gesellschaft, eCH, dem Schweizer Staatsekretariat für Wirtschaft und dem Schweizer Bundesarchiv. Bei der von eJustice.ch ausgerichteten Tagung Informatik und Recht sind wir zusammen mit dem Bundesamt für Justiz und der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) Mitveranstalter.

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5. eGovernment Symposium Romand in Martigny

Am 12. Mai 2016 fand in Martigny das 5. eGovernment Symposium Romand zum Thema «Smart Cities» statt. Die Vorträge mit einem Fokus auf Energie und Städte präsentierten den Stand der Technik und die nahe Zukunft. Der Realitätsbezug von Ideen und Visionen wurde in der Diskussionsrunde unter die Lupe genommen.

Auch 2016 hat sich die Reise ans eGovernment Symposium Romand [1] gelohnt, zumal andere Themen aus dem Kontext E-Government präsentiert wurden, insofernin der Romandie etwas eine pragmatischere Sicht herrscht. Cédric Roy, Leiter E-Government Schweiz, hatte als ehemaliger E-Government-Verantwortlicher des Kantons Wallis ein Heimspiel, als er den aktuellen Stand von E-Government Schweiz und die Umsetzungsplanung vorstellte.

Als erste präsentierte Frau Menon, Projektverantwortliche bei der Internationalen Telekommunikationsunion ITU, den Stand der Standardisierung zu Smart Cities der ITU-T Study Group 20. Seitens ITU wurde ein sehr umfassendes Übersichtswerk [2] erstellt, das allen Lesern empfohlen ist.

Herr Berclaz, operativer Leiter der EPFL Wallis, stellte Energypolis, die gemeinsame Forschungseinrichtung der EPFL, der HES-SO, des Kantons Wallis und der Stadt Sion, vor, welche die Energieproduktion und -speicherung der Zukunft erforscht.

Der Moderator Herr Steiner, Kommunikationsverantwortlicher der Staatskanzlei Wallis, skizzierte am Anfang der Diskussionsrunde eine phantastische Geschichte, vom Wecken am Morgen über seine Fahrt im Elektrofahrzeug ins automatisierte Parkhaus mit Aufladestation, seine Fahrt zum Arbeitsplatz in der Waadt mit öffentlichem Verkehr, seinen visionären Arbeitstag, seine Rückkehr am Abend ins Wallis, wo er mit dem selbstfahrenden Publibus wieder nach Hause kommt, weil ein anderes Famillienmitglied inzwischen mit dem Elektrofahrzeug weiter ist. Bei der Diskussion wurde rasch klar, dass diese eine phantastische Geschichte in relativ naher Zukunft umgesetzt sein könnte. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, dies nicht zwischen zwei Destinationen für eine bestimmte Person zu ermöglichen, sondern diese Dienste in der überwiegenden Zahl der Gemeinden für die Mehrheit der Bevölkerung anzubieten.

In zwei parallelen Sessionen wurden am Nachmittag die nachstehenden vier Themen vorgestellt:

  • Herr Zufferey, Professor an der HES-SO Wallis, beleuchtete den Stellenwert der Informatik im Kontext der Energiewende. Am Beispiel der Gemeinde Sierre zeigte er, dass 20% der Verbraucher 80% der Energie konsumieren. Mit einer Verbrauchsanalyse der Gemeinde wird rasch klar, wo man anpacken kann.
  • Herr Oggier, Verantwortlicher des Kompetenzzentrums Géomatique Wallis, stellte das Geoportal des Kantons vor. Die Verfügbarkeit von guten Karten ist eine zentrale Vorbedingung für Smart Cities.
  • Herr Gindrat, CEO von BestMile, präsentierte die aktuelle Situation im Kontext von autonomen Fahrzeugen (u.a. autonomes Postauto SmartShuttle in Sion). Dabei liegt deren Hauptnutzen weniger in ihrer eigenen Dienstleistung, als im Potential, wenn diese übergreifend gemanagt werden.
  • Herr Cerf, Informatikverantwortlicher beim ASTRA, erläuterte die Verbesserung der Strassensicherheit durch die E-Government-Anwendung MISTRA, die über die letzten 10 Jahre stetig ausgebaut wurde und eine analytische Sicht auf Unfallursachen ermöglicht.

Im letzten inhaltlichen Vortrag ging Herr Cherix, Leiter des Forschungszentrums für Energie und Gemeinden, auf die Herausforderung des guten Umgangs mit Energie in Smart Energy Cities ein.

Abgerundet wurde der spannende Tag in Martigny durch Herrn Schwab, E-Government-Verantwortlicher des Kantons Fribourg, der auf den Tag zurückblickte und alle Teilnehmenden zum 6. eGovernment Symposium Romand am 5.5.2017 in Fribourg einlud.


  1. Web-Seite des eGovernment Symposium Romand. Enthält auch Links auf alle Präsentationen des Tages. www.egovernment-symposium.ch/fr-CH/Symposium/Romand/Symposium-16.aspx
  2. ITU-T SG 20. Shaping smarter and more sustainable cities – striving for sustainable development goals. 2016. http://wftp3.itu.int/pub/epub_shared/TSB/ITUT-Tech-Report-Specs/2016/en/flipviewerxpress.html
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«Das Design von Bürger- und Unternehmensdiensten bleibt eine wichtige Aufgabe im E-Government»

Prof. Dr. Klaus Lenk spricht über die Probleme und Herausforderungen im heutigen E-Government wie auch von Marketing in der öffentlichen Verwaltung und der Bedeutung von gutem Serviceengineering.

Interview: Reinhard Riedl

Was sind die Probleme im heutigen E­-Government?

Die Durchdringung der Gesellschaft mit immer neuen Formen der Nutzung von Informationstechnik hält uns gegenwärtig so sehr in Atem, dass die zum Teil seit Jahrzehnten bekannten Formen der Nutzung dieser Technik für eine besser ansprechbare, effektivere und effizientere Verwaltung darüber fast in Vergessenheit geraten sind. So sind die organisatorischen Gestaltungspotenziale der Informationstechnik für einen besseren Bürgerservice und für reibungslosere Kommunikation zwischen öffentlicher Verwaltung und der Wirtschaft noch lange nicht ausgeschöpft. Shared-Service-Zentren und Dienstleistungen aus einer Hand in One-Stop-Läden oder -Portalen sind bei Weitem nicht so verbreitet, wie wir dies vor einem Vierteljahrhundert, vor der Ausrufung des E-Governments, für möglich gehalten und erwartet haben. Und die Aussicht auf eine Entlastung der Unternehmen von den zahlreichen Informationspflichten gegenüber öffentlichen Stellen, die mit einem 2009 in Deutschland entwickelten Konzept direkt aus den ERP-Systemen dieser Unternehmen möglich wäre, ist leider mangels weitblickender Finanzierung geschrumpft zu einem «Prozessdatenbeschleuniger», dem man kaum noch ansieht, wozu er gut sein kann.


Sie haben in Vorträgen empfohlen, die Unternehmerbrille aufzusetzen. Das passiert offensichtlich selten. Warum ist das so schwierig?

Das gerade erwähnte Beispiel zeigt, dass die Entwicklung von Anwendungssystemen immer noch eine technische Schlagseite hat. Der Nutzen einer «Compliance Engine», die den Unternehmen lästige Pflichten abnimmt, könnte alles in den Schatten stellen, was an Bürokratieabbau bislang geleistet wurde. Das gelingt aber nicht mit einem technisch ausgereiften System allein. Zu wenig wird gesehen, dass organisatorische Vorkehrungen erforderlich sind, die auf eine Vernetzung unter Beteiligung aller Stellen hinauslaufen, welche die Unternehmensdaten erhalten sollen. In den Frühzeiten der Informatisierung war die Vernachlässigung der organisatorischen Aspekte verständlich, denn die technischen Anteile der Systeme mussten überhaupt erst einmal zum Laufen gebracht werden. Aber die techniklastige Entwicklungskultur hat sich verfestigt. Man ist davon überzeugt, dass neue Technikanwendungen in jedem Fall segensbringend sind. Dabei glaubt man zu wissen, was die Unternehmen oder die Bürger brauchen, und schaut daher nicht genauer hin. Es fehlt die Kenntnis der tatsächlichen Lebenslagen bzw. Unternehmenssituationen, aus denen heraus öffentliche Dienste in Anspruch genommen werden.

Hinzu kommt, dass wir zunehmend in eine Welt der Zahlengläubigkeit hineinwachsen, einfach deswegen, weil die Daten vorliegen.


klaus-lenkProf. Dr. Klaus Lenk
ist nach juristischer Ausbildung und verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem im Wissenschaftsdirektorat der OECD, seit 1975 Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verwaltungsinformatik, Verwaltungsorganisation und Technikgestaltung. Er ist Fellow der deutschen Gesellschaft für Informatik, für die er vor seiner Emeritierung 2005 in verschiedenen Funktionen tätig war, sowie Mitbegründer des Institute for eGovernment an der Universität Potsdam. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren, unter anderem am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS) und an den Universitäten Edinburgh, Linz und Krems/Donau, sind ebenfalls Teil seiner Laufbahn. Für seine praxisbezogene wissenschaftliche Tätigkeit wurde ihm 2012 das deutsche Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen.



Einige der von Ihnen genannten Probleme werden in Unternehmen von der Marketingabteilung gelöst. Bräuchte es auch ein
E-­Government­ Marketing?

Die Unterschiede des öffentlichen Sektors zur Wirtschaft liegen darin, dass in der Wirtschaft Versäumnisse im Marketing unmittelbar auf die Erfolgslage durchschlagen. An sich sollte es auch im öffentlichen Sektor eine Selbstverständlichkeit sein, Angebote auf die Abnehmer zuzuschneiden, sodass diese auch für sich selbst einen Nutzen davon haben. Aber leider wird Marketing in vielen Verwaltungen immer noch ganz eng als ein Verkaufen von nun einmal vorhandenen Dingen gesehen. Dabei sollte Marketing bereits in der Konzeptionsphase dieser Dinge handlungsleitend sein.

Im klassischen Marketingmix von «promotion», «product», «place» und «price» geht es nicht nur um «promotion» (Verbreitung der Kenntnis von Angeboten), sondern zuerst um das «product», das vermarktet werden soll, also um die Produktgestaltung. Ferner spielt der «place» eine Rolle, heute im Sinne der Gestaltung der Art und Weise des Angebots und der – digitalen wie auch physischen – Vertriebskanäle. Und der «price» ist auch für öffentliche Angebote zum Nulltarif ein Gesichtspunkt für die Gestaltung, nämlich wenn es um den nötigen Aufwand geht, um das Produkt zu erlangen; auch wenn die Leistung gratis erscheint, können Bürokratiekosten entstehen. Verwaltungen bedenken diese Zusammenhänge normalerweise nicht, und das sollte sich ändern.


Was ist mit dem neuerdings immer mehr propagierten Servicedesign bzw. Serviceengineering gemeint?

Die ganzheitliche Planung des gesamten Lebenszyklus von öffentlichen Diensten aus einem Marketingverständnis heraus ist möglich, wenn man neuere Ansätze zu einem Serviceengineering in den öffentlichen Sektor einführt. Serviceentwicklung kann geplant werden, wobei es nicht nur um ihren technisch realisierbaren Teil geht. Das gesamte Anwendungssystem, das in der Regel ein soziotechnisches System ist, muss im Hinblick auf die spätere Nutzung und den dabei erwünschten Komfort gestaltet werden. Was dabei technisch erledigt oder unterstützt wird, sollte im Vorhinein festgelegt werden. Manches, etwa das Erklären von Zusammenhängen oder das Eingehen auf Kundenwünsche, können Menschen immer noch besser als Maschinen …

Nach dieser konzeptionellen Arbeit, die am besten von den Verwaltungen selbst am runden Tisch zusammen mit Organisatoren und Ingenieuren geleistet werden sollte, folgt die nicht weniger schwierige Phase der Umsetzung. Die technische und organisatorische Implementation neuer Dienstleistungen darf nicht dem Zufall überlassen werden. Auch sie muss designt werden. Und der anschliessende Übergang in den Routinebetrieb ist besonders schwierig; nach vollbrachter Implementation legen vor allem Verwaltungsspitzen gern die Hände in den Schoss. Wie uns viele Fallstudien über «erfolgreiches Scheitern» von Systemen lehren, geht es dann aber erst richtig los mit den Schwierigkeiten. Es braucht ein Anlaufmanagement, und es muss darauf geachtet werden, dass eine Weiterentwicklung im laufenden Routinebetrieb, ein Design-in-Use, möglich bleibt. Ein immer wieder begangener Fehler liegt darin, sofortige Einsparungen zu erwarten, obwohl diese erst nach geraumer Zeit im Alltagsbetrieb anfallen und dann nicht mehr beachtet werden.


Oft hapert es im E­-Government mit dem Anforderungsverständnis. Was ist dabei die Herausforderung, und wie geht man am besten damit um?

Nicht nur Anforderungen an das technische System, sondern auch die von der Informatik gern als extrafunktional bezeichneten Anforderungen an das gesamte soziotechnische Anwendungssystem müssen erhoben werden. Dies erfordert ein Zusammenwirken von Organisatoren und Technikern. Im Einzelnen halte ich oftmals die Anforderungen an die Vertriebsformen, die Distributionskanäle, die Verständlichkeit der Angebote für unzureichend ermittelt. Das hat mit der Bestimmung der Zielgruppen zu tun, an die sich das Angebot richtet. Man muss Wege finden, auf denen diese Zielgruppen auch wirklich erreicht werden können.


Wie kommt man zur Identifikation der Zielgruppen?

Im Falle von Bürgerdiensten können Zielgruppen zunächst nach vorliegenden Erkenntnissen der Sozialforschung identifiziert werden. Schon vor Jahrzehnten wurden in Bezug auf den Umgang mit der Verwaltung Bürgertypen herausgearbeitet. Dabei zeigte sich, dass nur etwa ein Fünftel der Bürgerinnen und Bürger als «verwaltungskompetent» eingestuft werden kann. Andere lassen sich im Umgang mit Verwaltungsstellen oft von Bekannten helfen, die sie selbst als kompetent einschätzen. Das Ersetzen von Amtswegen durch Onlineangebote ändert an den Schwierigkeiten der weniger kompetenten Bürger nur wenig, solange in ihrer Sprache keine ausreichenden Erklärungen verfügbar sind, die ihrem Verständnishorizont entsprechen.


Wenn man Zielgruppen definiert hat, was gilt es dann beim Serviceentwurf besonders zu beachten?

Man sollte sich davor hüten, allein selig machende Wege zu propagieren oder, wie die deutsche Steuerverwaltung, Unternehmern das Einreichen von Umsatzsteuererklärungen auf Papier zu verbieten. Man hatte dabei wohl ein Bild des Unternehmers mit mehreren Mitarbeitenden vor Augen. Aber auch Menschen wie ich selbst mit einem kleinen Nebenverdienst und ohne Mitarbeiter sind Unternehmer im steuerrechtlichen Sinn. Warum soll ihnen die Wahlfreiheit genommen werden? Ein Zugang auf mehreren Kanälen ist in vielen Fällen sinnvoll, und er sollte nicht behindert werden, auch wenn der physische Kanal mehr kostet. Aber entscheidend ist, dass die Zugangskanäle auf die Bedarfe zugeschnitten werden, die sich auch ändern können. Nicht allen Zielgruppen ist mit einer an Lebenslagen ausgerichteten Bündelung von Angeboten in One-Stop-Frontoffices gedient.


Bislang galten Lebenslagen als Zaubermittel. Auch in Zukunft?

Als erste Orientierung sind statisch konzipierte Lebenslagen sicher sinnvoll. So kann man alle Pflichten und Leistungen, die in einer bestimmten Lebenslage wie der Geburt eines Kindes oder der Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit in Betracht kommen, in einen «Lebenslagenantrag» zusammenfassen. Damit käme man dem Grundsatz «Anliegen vor Leistung vor Zuständigkeit» schon näher. Aber reicht das? Jede individuelle Lebenslage ist im Grunde eine andere, und man kann sie kaum vorhersehen. Versucht man sie auf Grund vorhandener Daten vorzustrukturieren, dann ist das auch keine Garantie dafür, es den Menschen recht zu machen. Verwaltungen können sich oft kaum vorstellen, wo der Schuh drückt. Bei einer Untersuchung der Bürokratiebelastung von Eltern eines behinderten Kindes waren wir regelrecht erschrocken darüber, dass die Elternvertreter und die Vertreter beteiligter Verwaltungen völlig unterschiedliche Sichten entwickelten zu unserem Vorschlag, eine Art Fallmanager einzuführen, um die Belastung zu reduzieren.


Die Hochschulen rund um den Bodensee setzen ihre Hoffnung auf Open Government. Was wird das bringen?

So gut wie nichts für das zentrale Ziel von E-Government: eine bessere, weniger belastende und belästigende Verwaltung. Open Government wirkt eher kontraproduktiv. Es hält die Verantwortlichen davon ab, ihre Geschäftsprozesse zu verbessern, im Sinne einer kreativen Nutzung des organisatorischen Gestaltungspotentials von E-Government für effektiveren, bürokratiesparenden und effizienteren Service. Und es schafft der Verwaltung zusätzliche Arbeit, deren Nutzen noch nicht erwiesen ist. Der Druck der kritiklos nachgebeteten Ziele von Open Government (Transparenz, Partizipation, Kollaboration) ist so stark, dass die Verwaltungen nachweisen müssen, etwas zu tun, um nicht an den Pranger gestellt zu werden.


Sie kennen das Schweizer E-­Government gut. Was sind die drei wichtigsten Empfehlungen, die Sie der Schweiz dazu geben können?

Eigentlich ist es nur eine Empfehlung: Weiter so, und lassen Sie sich von EU-Rankings und den zweimal jährlich ausgerufenen neuen technikbezogenen Moden nicht beirren! Bei zwei Evaluationen der Informationsgesellschaft Schweiz 2002 und 2008 konnte ich feststellen, das viel mehr vorhanden als international bekannt war. Das liegt an der föderalen Grundstruktur, die dazu führt, dass gute Entwicklungen auf Gemeinde- und Kantonsebene draussen schlicht nicht wahrgenommen werden. Mit dem Ausspruch «Mehr Sein als Scheinen» kennzeichnete ich damals die Lage in der Schweiz.

Deutschland hat mit seinem Exekutivföderalismus und den oft bemerkenswerten Innovationen der grossen Städte das gleiche Problem mangelnder Sichtbarkeit guter Lösungen, löst es aber seit einigen Jahren nicht nur durch eine – anfänglich recht grossspurige und überzogene – Rhetorik der Bundesebene, die kaum exekutive Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, sondern auch organisatorisch. Hier sticht die Gründung des IT-Planungsrats 2010 hervor, auf der Grundlage einer Verfassungsänderung, die ein Zusammenwirken von Bund und Ländern beim Aufbau der IT-Systeme explizit erlaubt. Ein vergleichbares Gremium für die Schweiz wird im Rahmenkonzept «Vernetzte Verwaltung Schweiz» (eCH 0126) gefordert, an dem ich mitarbeiten durfte.

Auf seiner Grundlage kann es zu einer gesamtschweizerischen Verwaltungsarchitektur kommen, bei der die föderalen Strukturen und die kommunale Selbstverwaltung nicht nur bewahrt, sondern letztlich gestärkt werden. Der entscheidende Hebel dafür ist die Bereitschaft und auch die Fähigkeit, auf und zwischen allen staatlichen Ebenen intensiv zu kooperieren.

Die in diesem Dokument in Vordergrund stehende Sicht auf die Geschäftsprozesse der Verwaltung soll verdeutlichen, dass alle Beteiligten aus intensiver Kooperation Nutzen ziehen. Gebietsreformen und Zuständigkeitsänderungen sind nicht erforderlich, um die organisatorischen Gestaltungspotenziale von E-Government in den Dienst einer neuen Architektur der Exekutive zu stellen. Denn einzelne Geschäftsmodule, zum Beispiel Identitätsfeststellung, können konzentriert bearbeitet und in lokale Geschäftsprozesse mit nur geringen Fallzahlen eingefügt werden. Das kann zu Einsparungen führen, zur Schaffung von Shared Service Zentren und zu einem Bürgerservice «Alles aus einer Hand».

Was in dem genannten Dokument noch nicht so deutlich angesprochen wird, ist die Notwendigkeit gesamtschweizerischer Infrastrukturen. Erwähnt sind übergreifend nutzbare Prozessbausteine, aber es geht auch um die Verfügbarkeit von Daten und von Wissen. So sollte auch in der Schweiz, wie in Österreich und in den Niederlanden, über harmonisierte Basisregister betreffend «Erde, Einwohner, Einkommen» nachgedacht werden. Und übergreifend nützliches Rechts- und Faktenwissen könnte in gemeinsamen Einrichtungen des Wissensmanagements bereitstehen.


Unsere traditionelle Abschlussfrage: Wie wird das E­-Government in 25 Jahren aussehen?

Der Zeitraum verführt zu hemmungsloser Spekulation. Ich möchte mich auf 15 Jahre beschränken. Das gestattet mir eine Trendprognose, an die ich aber auch nicht so recht glaube. Im Jahre 2000 erarbeitete ich zusammen mit Kollegen ein Memorandum des Fachausschusses Verwaltungsinformatik der deutschen Gesellschaft für Informatik und der Informationstechnischen Gesellschaft. Es trug den Titel «Electronic Government als Schlüssel zur Modernisierung von Staat und Verwaltung». Enttäuschend für mich ist, dass das allermeiste, was wir darin forderten, noch nicht realisiert ist. Wird das in 15 Jahren anders sein?

Folgt man der kondratievschen Theorie der «langen Wellen» der Wirtschafts- und Technikentwicklung, dann befinden wir uns gegenwärtig in der Abschwungphase des «fünften Kondratievs», der auf der IT aufbaut. Das geradezu verzweifelte Suchen des anlagebereiten Kapitals nach neuen Geschäftsfeldern ist ein Indiz dafür. Was kommt danach? Ich erwarte Umbrüche, die nicht allein mit dem zyklischen Denken in langen Wellen zu erklären sind. Wir stossen an die Grenzen der Nutzung unserer Erde, und die Gesellschaften driften zunehmend auseinander. Daher erwarte ich auch für unseren Bereich, der letztlich mit der künftigen Rolle von Staaten im Weltgeschehen zu tun hat, einschneidende Veränderungen, die wir nicht vorhersagen können. Dabei sollte man aber das Beharrungsvermögen von in der Gesellschaft fest verankerten Institutionen wie Staat und Kommune nicht unterschätzen. Für die Bewältigung vieler noch nicht bekannter Herausforderungen wird eine zwar stabile, aber in ihrer Arbeitsweise von Grund auf transformierte, vernetzte öffentliche Verwaltung eine wichtige Instanz sein.

Vielen Dank für das Interview.

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Der steinige Weg zum einheitlichen Personenidentifikator

Obwohl die Schaffung eines eindeutigen, universellen Personenidentifikators in Form der heutigen AHV- Nummer im Grundsatz weitherum begrüsst wird, verhindern Bedenken aus Datenschutzkreisen bislang einen solchen. Ein neues Gutachten zeigt indessen, dass sich universeller Personenidentifikator und Datenschutz nicht ausschliessen. Die Fallbeispiele schildern zudem die Gefahren von Falschidentifikation bzw. Nichtidentifikation bei Verzicht auf einen Identifikator und untermauern damit die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs.

Die Digitalisierung der Verwaltung erfordert die Schaffung eines eindeutigen, universellen Personenidentifikators. Die Diskussion darüber wird bereits seit Jahrzehnten geführt. Dabei können zwei Meinungspositionen ausgemacht werden:

  • diejenigen, die in einem universellen Identifikator einen klaren Effizienzgewinn sehen
  • diejenigen, die wegen Datenschutzbedenken eine entsprechende Entwicklung zu verhindern suchen

Die Notwendigkeit eines behördenübergreifenden, eindeutigen Personenidentifikators wurde letztmals eingehend bei der Einführung des Registerharmonisierungsgesetzes (RHG) diskutiert (vgl. 1). Ziel des RHG ist, die Einwohnerregister in den Kantonen und Gemeinden zu harmonisieren und sie (wie auch die Personenregister des Bundes) für die bevölkerungsstatistischen Erhebungen und für die Modernisierung der Volkszählung nutzbar zu machen. Dabei braucht es einen behördenübergreifenden, eindeutigen Personenidentifikator für den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Bundesregistern und den Einwohnerämtern. Die Verwendung der damals neuen AHV-Nummer bot sich an, zumal sie aufgrund ihrer Beschaffenheit  (im  Gegensatz  zur  alten «sprechenden» Nummer) keine Rückschlüsse mehr auf Personen zulässt.

Schaffung eines administrativen Personenidentifikators
Bereits damals war klar, dass ein behördenübergreifender, eindeutiger Personenidentifikator auch ausserhalb des statistischen Bereichs gebraucht wird. Der Botschaft des Bundesrates vom 23. November 2005 (vgl. 2) ist zu entnehmen, dass die neue AHV-Nummer ursprünglich als universeller Personenidentifikator angedacht war. Die Botschaft verweist auf den Nutzen einer solchen Entwicklung für das E-Government und für die Bevölkerung. Etwa zeitgleich debattierten die Räte über die Einführung der neuen AHV-Nummer (der sogenannten AHVN13) 3. Beide Vorlagen erkannten die Notwendigkeit, einen behördenübergreifenden Personenidentifikator zur Verfügung zu stellen. So listete der Bundesrat bereits damals konkrete Punkte für die Eignung der neuen AHV-Nummer zum universellen Personenidentifikator auf, nämlich die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, der weit verbreitete Einsatz sowie die Tatsache, dass die Nummer keine Rückschlüsse auf personenbezogene Merkmale zulässt und an die gesamte Wohnbevölkerung der Schweiz ausgegeben wird (vgl.. 3, p.516).

Datenschutzbedenken
Die Schaffung eines universellen Personenidentifikators in Form der neuen AHV-Nummer wurde im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens zum RHG grossmehrheitlich positiv beurteilt und für die Weiterentwicklung von E-Government als unerlässlich betrachtet. Bedenken kamen dagegen aus Datenschutzkreisen, wo eine missbräuchliche Verknüpfung von Daten befürchtet wurde. Am deutlichsten kommt dies in einer gemeinsamen Stellungnahme von EDÖB und privatim (der Vereinigung der schweizerischen Datenschutzbeauftragten) zum Ausdruck: «Die AHV-Versichertennummer führt dazu, dass die Register auf einfachste Weise verknüpft werden könnten. Damit wird ein erhebliches Missbrauchspotential geschaffen: Flächendeckende Auswertungen werden ermöglicht und der gläserne Bürger rückt in greifbare Nähe.» (vgl. 4)

Datenschutzbedenken waren auch der Grund, weshalb die AHVG-Vorlage nur eine eingeschränkte Verwendung der neuen AHV-Nummer vorschlug (vgl. 3, p.516). Damit sollte (neben den bereits bestehenden Massnahmen aufgrund der geltenden Datenschutzgesetzgebung) dem erwähnten Missbrauchspotenzial begegnet werden (vgl. 3, p.516).

Resultat dieser Debatten sind Gesetze, welche die Nutzung der AHV-Nummer ausserhalb des Sozialversicherungsbereichs stark einschränken. Dort ist die Verwendung der AHV-Nummer auf Ebene Bund oder Kanton grundsätzlich nur gestützt auf eine gesetzliche Grundlage erlaubt. Gemäss einem Brief des damaligen Direktors des BSV, Yves Rossier, an den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten Hanspeter Thür zielt die heutige Regelung darauf ab, jede Verwendung der AHV-Nummer ausserhalb der Sozialversicherungen einer demokratischen Kontrolle zu unterziehen. So soll von Fall zu Fall zwischen Datenqualität, Effizienz und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte abgewogen werden. Damit wird die Entwicklung der AHV-Nummer hin zu einem administrativen Personenidentifikator explizit nicht ausgeschlossen. Die heutige Regelung bezweckt aber, dass der Prozess demokratisch begleitet wird (vgl. 5).

Rechtlicher Flickenteppich
Der andauernde bzw. stetig wachsende Bedarf nach einem universellen, eindeutigen Personenidentifikator äussert sich u.a. in der Zahl der Gesetzesentwürfe und Gesetze, die eine Nutzung der AHV-Nummer zu administrativen Zwecken vorsehen. Eine von der entsprechenden SIK-Arbeitsgruppe 2011 durchgeführte Umfrage ergab, dass 13 Kantone bereits eigene rechtliche Regelungen im Hinblick auf den Gebrauch der AHVN13 getroffen haben; fünf weitere Kantone äusserten einen Bedarf, haben aber noch keine eigene Regelung getroffen (vgl. 6, p.2). Aktuell liegen schon nur auf Bundesebene Vorlagen zum Grundbuch, Handelsregister und Strafregister vor.

Interessanterweise zeigen die Ergebnisse der Umfrage (vgl. 6, p.3) bei den Kantonen grosse Unsicherheiten, ob die von ihnen geschaffenen Grundlagen den Anforderungen des AHVG genügen. So wurde in acht Kantonen die kantonale Gesetzesgrundlage als pauschale Generalklausel gestaltet, welche weder den Verwendungszweck noch die Nutzungsberechtigten explizit definiert. Bei vier Kantonen wird die Definition des Verwendungszwecks und/oder der Nutzungsberechtigten auf die Verordnungsebene delegiert. Wie das Bundesrecht auf Kantonsebene korrekt auszulegen ist, ist unklar bzw. umstritten. Ein klärender höchstrichterlicher Entscheid in dieser Frage steht nach wie vor aus.

Der Abschlussbericht zum priorisierten Vorhaben «Rechtsgrundlagen» (B1.02) schlägt in die gleiche Kerbe. Er anerkennt den Handlungsbedarf ausdrücklich als dringend. Als Konsequenz empfiehlt er die Erarbeitung eines Konzeptes für einen nationalen E-Government-Personenidentifikator (vgl. 7,  p.16).

Bedarf nach einheitlicher Normierung
Die Umfrage der SIK aus dem Jahre 2011 ergab auch, dass die Kantone an einer einfachen, den dynamischen Bedürfnissen des E-Governments angepassten Lösung in hohem Masse interessiert sind. Die Fixierung des Verwendungszwecks und der Nutzungsberechtigten in der (starren) Gesetzesform wird als erhebliche Hürde empfunden, wodurch die prozessorientierte Zusammenarbeit zwi- schen Behörden in einem dynamischen Informatikumfeld erschwert wird (vgl. 6, p.3). Aus den Umfrageergebnissen schliesst die SIK-Arbeitsgruppe, dass eine einheitliche, abschliessende und klare Regelung von Verwendung und Nutzungsberechtigten der AHV-Nummer auf Stufe Bund erhebliche Verbesserungen brächte. Sie empfiehlt deshalb entweder die Anpassung des AHVG (insbesondere von Art. 50e) an die Bedürfnisse des E-Government oder die Herauslösung des Identifikators aus dem AHVG und dessen Regelung in einem E-Government-Gesetz auf Stufe Bund (vgl. 6, p.4).

In dieselbe Richtung zielt das Schreiben der Konferenz der Kantonalen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren (FDK) Anfang 2014 an die Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD), Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (vgl. 8). Sie wird gebeten, die Schaffung von bundesgesetzlichen Grundlagen zur Einführung eines eindeutigen, universell einsetzbaren behördlichen Personenidentifikators zu prüfen. Mit Hinweis auf ein von der SIK-Arbeitsgruppe erarbeitetes Argumentarium (vgl. 9) listet es eine beträchtliche Zahl an Gründen auf, weshalb sich die Verwendung der AHV-Nummer eignet und mit dem Datenschutz vereinbar ist. In ihrer Antwort bestätigt Eveline Widmer-Schlumpf die Notwendigkeit eines eindeutigen Personenidentifikators für den Austausch von Personendaten. Vorbehalte äussert sie namentlich hinsichtlich der Kompetenz des Bundes zur Einführung eines zentralen Identifikators. In der Folge wurde das Informatiksteuerungsorgan (ISB) beauftragt, zuhanden des Bundesrates ein Grundlagenpapier als Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten (vgl. 10).

Wie weiter?
Um neue Impulse in die festgefahrene Diskussion zu bringen, erstellte die Berner Fachhochschule im Auftrag der SIK das Gutachten «AHV-Nummer als einheitlicher, organisationsübergreifender Personenidentifikator» (vgl. 11). Es zeigt Risiken auf, die mit einem fehlenden Identifikator verbunden sind und untermauert damit die Dringlichkeit der Angelegenheit. Gleichzeitig belegt es, dass andere Länder (teils seit Jahrzehnten) gute Erfahrungen mit einem universell einsetzbaren Personenidentifikator gemacht haben und ihn daher auch der Schweiz empfehlen können.

Nun ist die Politik gefordert, das Anliegen eines einheitlichen Identifikators zu vertreten. Dank dem Gutachten der BFH riskiert dabei aber niemand mehr den Vorwurf, den «gläsernen Bürger» in Kauf zu nehmen oder gar anzustreben.


Quellen

  1. Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, «Bundesgesetz über die Harmonisierung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Personenregister (Registerharmonisierungsgesetz RHG; SR 431.02)», 23. Juni 2006. [Online]. Available: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20052012/index.html. [Zugriff am 21. 10. 2015].
  2. Der Schweizerische Bundesrat, «Botschaft zur Harmonisierung amtlicher Personenregister vom 23. November 2005». [Online]. Available: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2006/427.pdf. [Zugriff am 12. 10. 2015].
  3. Der Schweizerische Bundesrat, «Botschaft zur Änderung des Bundesgeset- zes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (Neue AHV-Versichertennummer) vom 23. November 2005». [Online]. Available: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2006/501.pdf. [Zugriff am 21. 10. 2015].
  4. Eidgenössischer Datenschutz- und Öff    tlichkeitsbeauftragter EDÖB und privatim, «Stellungnahme vom EDÖB und privatem zur Verwendung der AHV-Versichertennummer in den Kantonen vom 1. Dezember 2006». [Online]. Available: http://www.edoeb.admin.ch/datenschutz/00786/ 00946/00949/index.html?lang=de. [Zugriff am 21. 10. 2015].
  5. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, «Stellungnahme des BSV zur Verwendung der AHV-Versichertennummer in den Kantonen vom 23. Oktober 2006». [Online]. Available: http://www.edoeb.admin.ch/datenschutz/ 00786/00946/00949/index.html?lang=de. [Zugriff am 21. 10. 2015].
  6. SIK-Arbeitsgruppe, «Zusammenfassung der Erkenntnisse aus der Umfrage zur systematischen Verwendung der AHVN13 im kantonalen Zuständigkeitsbereich». Schweizerische Informatikkonferenz (SIK), Bern, 2011.
  7. Bundesamt für Justiz BJ, «Abschlussbericht Lösungsansätze und Massnahmen», Mai 2012. [Online]. Available: https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/rechtsinformatik/magglingen/2013/10b_konzept-d.pdf. [Zugriff   am  21. 10. 2015].
  8. Konferenz der Kantonalen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren (FDK), «AHV-Nummer Personenidentifikator. Brief der FDK an Vorsteherin EFD vom 31.01.2014». [Online]. Available: http://www.fdk-cdf.ch/downloads/lu/kr/dateien/140131_personenid_e-brf_sik_def_d_uz.pdf. [Zugriff am 23. 10. 2015].
  9. SIK-Arbeitsgruppe, «Argumentation für die Verwendung der AHV-Nummer als Personenidentifikator aus Sicht der Verwaltung». Schweizerische Informatikkonferenz (SIK), Bern, 2012.
  10. Die Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartements EFD, Eindeutiger und universell einsetzbarer behördlicher Personenidentifikator. Antwortbrief vom 2. April 2014 an die Konferenz der Kantonalen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren. Bern.
  11. Berner Fachhochschule (BFH), im Auftrag der SIK-Arbeitsgruppe, «AHV-Nummer als einheitlicher, organisationsübergreifender Personenidentifikator. Gutachten». Schweizerische Informatikkonferenz (SIK), Bern, 2015.
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Big Data – schnell erklärt

Big Data steht für verschiedenste Methoden, implizit in Daten vorhandene Informationen explizit zu machen. Das ermöglicht unter anderem mehr Personalisierung – von der Politik über den Produktverkauf bis zur Medizin!

In aller Regel wird der Begriff dafür verwendet, dass mit mathematischen Instrumenten Informationen, die in Datensätzen implizit vorhanden sind, explizit gemacht werden. Dafür werden typischerweise grosse und nicht selten unterschiedliche Datensätze zuerst zusammengeführt und dann mit Mathematikinstrumenten und Informatikwerkzeugen ausgewertet. Dabei gibt es drei Standardformen:

  • «Klassisches» Big Data schätzt den Wert einer Kenngrösse, indem es die Korrelation mit anderen Kenngrössen nutzt – Obama identifizierte so im Wahlkampf die noch unentschiedenen Wähler, auf die er dann seine Kampagne konzentrierte
  • Exploratives Big Data sucht nach bisher unbekannten Mustern, die eventuell Bedeutung haben – z.B. weil sie auf Risiken hinweisen oder interessante Gruppen von Kunden identifizieren
  • Big Data «auf dem Graphen» nutzt komplexe semantische Zusammenhänge – z.B. um das Fehlen von Informationen zu entdecken

Neueste Formen von Big Data gehen über diese drei Standardformen hinaus und experimentieren beispielsweise mit Simulationswerkzeugen. Vorstellbar ist auch die Kombination von statischen Werkzeugen mit weiteren Modellen der abstrakten Algebra.

Konkrete Beispiele
Was heisst das alles konkret? Nun, das Vorgehen beim klassischen Big Data ist eigentlich recht simpel. Es wird erst kompliziert, wenn man es abstrakt zu erklären versucht. Darum einige einfache Beispiele. Angenommen Sie besitzen Daten über das Kaufverhalten von als Person identifizierten Kunden. Und sie möchten ein neues Produkt lancieren und gezielt bewerben. Dann werden sie zuerst ähnliche, bereits existierende Produkte in ihrem Verkaufsportfolio identifizieren und dann jene Kunden herausfiltern, die diese Produkte öfters gekauft haben. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie sich für das neue Produkt ebenfalls interessieren werden und es macht Sinn, die Marketingkampagne für das neue Produkt auf sie zu konzentrieren. Im Customer Relationship Management vieler Banken wird seit Langem ein ähnliches Verfahren eingesetzt, um neue Finanzprodukte gezielt Kunden zu promoten.

Ein anderes konkretes Beispiel lieferte der letzte Präsidentschaftswahlkampfs in den USA. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf geht es darum, in genügend vielen Staaten die meisten Stimmen zu bekommen. In der Schlussphase des Wahlkampfs ist in vielen Staaten klar, wer die Mehrheit haben wird. Dort wird dann kaum mehr Wahlkampf betrieben, weil es eine Ressourcenverschleuderung wäre. Der Wahlkampf konzentriert sich ganz auf die umkämpften Staaten. Aber auch dort macht es wenig Sinn, Wähler anzusprechen, die sich bereits klar entschieden haben, wen sie wählen werden. Wenn es also dem Team eines Kandidaten gelingt, die Unentschiedenen zu identifiziert, kann es seine ganze Energie auf deren Überzeugung konzentrieren, während eventuell die Konkurrenz einen Grossteil ihrer Energie auf Wähler konzentriert, deren Entscheidung bereits feststeht. Da die verfügbaren Ressourcen beschränkt sind, bedeutet die Identifikation der Unentschiedenen einen grossen Vorteil. Und genau dieser Vorteil hatte wesentlichen Anteil daran, dass Obama auch die zweite Wahl gewann. Sein Team konnte mittels Big Data die Unentschiedenen identifizieren. Sie nutzten dabei die Tatsache, dass in den USA über Personen weit mehr Informationen einfach beschaffbar sind als in Europa – u.a. Informationen zum Kaufverhalten – und überprüft en und verbesserten die Ergebnisse von Big Data mit gezielten Experimenten.

Ein Beispiel für Big Data auf dem Paragraphen ist das Suchen nach Anhaltspunkte für organisierte Kriminalität, in dem man verdächtige
Beziehungskonstellationen oder Transaktionsketten identifiziert, die auf Geldwäscherei hinweisen.

Andere Beispiele sind intelligente Suchanwendungen in der Wissenschaft und im Patentwesen, die von einem scheinbaren Paradoxon profitieren: Es ist einfacher ein Dokument in einer Menge ähnlicher Dokumente zu finden (zwischen denen Querbeziehungen existieren) als in einer Menge sehr unterschiedlicher Dokumente (die zueinander keinen Bezug haben).

Ein typisches Beispiel für exploratives Big Data ist das Suchen nach guten Produktkombinationen. Seit Langem bietet der Verkauf von Extraausstattungen im Autohandel eine lukrative Einnahmequelle. Eine Zusammenstellung von Extras kann für Kunden dadurch besonders attraktiv gemacht werden, das sie als Paket verkauft wird, wobei der Kunde beim Kauf des ganzen Pakets einiges «spart» (verglichen mit der Summe der Einzelpreise für die Extras). Um verlockende Pakete zu schnüren, ist es aber notwendig, zu wissen, welche Kombinationen von Extras für Kunden besonders attraktiv sind. Deshalb wird in Daten über Kundenpräferenzen nach Mustern gesucht, die auf attraktive Paketzusammenstellungen hinweisen. Dieses Vorgehen wird freilich nicht nur im Autohandel  praktiziert. Ganz ähnlich lassen sich so auch Produkte zusammensetzen, die am Ende teurer verkauft werden können als ihre Einzelbestandteile – nicht zuletzt im Lebensmittelhandel. Die Liste möglicher Beispiele ist lang. Wichtige Anwendungsbereiche für Big Data sind Marketing und Verkauf, Politikgestaltung (u.a. Stadtentwicklung, Sozial- und Gesundheitspolitik), öffentlichen Verwaltung (u.a. Verkehrsmanagement, in Zukunft eventuell Umgang mit Randalen), personalisierte Medizin und wissenschaftliche Forschung ganz generell. Das grosse Versprechen von Big Data ist dabei, dass schwierige und aufwendige Untersuchungen von kausalen Zusammenhängen («aus A folgt zwingend B») durch Korrelationsanalyse («A und B treten häufig gemeinsam auf») ersetzt werden können. Wobei insbesondere das klassische Big Data auf das Individuum spielt. Einzelne werden als Ziele für was auch immer ausgesucht, beziehungsweise bekommen sie personalisierte Angebote. Im Fall von personalisierten medizinischen Therapien ist der gesellschaftliche Nutzen hoch, mindestens kaum bestritten. Im Fall von personenbezogener manipulativer Werbung steht eine gesellschaftliche Bewertung von Big Data dagegen noch aus.

Das menschliche Big Data
Der Medienkünstler Peter Weibel thematisiert die Tatsache, dass wir alle in einer Big-Data-Welt leben. Tatsächlich können wir aus grossen Datenmengen relevante Information herauszufiltern und quasi eine Nadel im Heuhaufen finden – allerdings eine Nadel, an der ein Faden festgebunden ist, der uns das Finden erleichtert.

Das wichtigste Instrument für dieses menschliche Big Data ist die Nutzung von impliziten Hinweisen. Oft ist es die Summe von Details, von denen jedes für sich unbedeutend ist, die uns eine Lagebeurteilung ermöglicht – beispielsweise in der Polizeiarbeit. Wird ein ertappter Einbrecher zur Waffe greifen? Wird der Fanmarsch von Fussballfans in Gewalt ausarten? Die Antwort bestimmt den Fortgang des Geschehens. Sie lässt sich zwar nicht mit Sicherheit aus den verfügbaren Information ableiten, aber trotzdem kann sie von erfahrenen Polizisten ziemlich zuverlässig gegeben werden. Dabei kann man drei Phänomene beobachten: Erstens hängt die Zuverlässigkeit der Analyseergebnisse davon ab, dass die richtigen Informationen gesammelt werden. Zweitens wird der tatsächliche Ablauf durch Handlungen beeinflusst, die sich aus der Situationsanalyse ergeben. Teilweise haben wir es also mit selbsterfüllenden Prophezeiungen zu tun. Drittens lautet die Zielvorgabe deshalb nicht, möglichst präzise Prognosen zu generieren, sondern Geschäftsziele zu erreichen – in unserem Beispiel die Minimierung von Gewalt.

All das gilt auch für maschinelles Big Data:

  1. Es ist entscheidend, dass man die passenden Informationen besitzt. Je nach verfügbaren Informationen kann ganz Unterschiedliches beim Anwenden der Big-Data-Werkzeuge herauskommen.
  2. Big Data findet in einem dynamischen Prozess statt, in dem die Daten sich durch Handeln verändern können. Die Umsetzung beeinflusst die Richtigkeit der Prognose.
  3. Big Data ist kein Glasperlenspiel mit dem Zweck von zweckfreien Zukunftsprognosen, sondern ein Mittel zur Nutzengenerierung im jeweiligen Geschäftskontext – sei es in der Wirtschaft, privat beim Wetten oder Pokern oder in der öffentlichen Verwaltung.

Denkfehler und verlockende Fiktionen
Eine Übertragung der Echtwelterfahrung auf Big Data ist also durchaus hilfreich. Sie beinhaltet aber auch die Gefahr, dass die Small-Data-Denkfehler aus dem Alltag uns auch bei der Nutzung von maschinellem Big Data in die Quere kommen. Wer den Satz von Bayes nicht verstanden hat, der sollte mit Big Data sehr vorsichtig umgehen. Zudem gibt es mehrere gefährliche Fiktionen, vor denen
man sich unbedingt hüten sollte.

  1. Erstens sollte man sich immer bewusst sein, dass Modellannahmen das Ergebnis von Big Data entscheidend beeinflussen, auch dann, wenn wir scheinbar ganz ohne Modelle Daten analysieren. Denn schon bei der Erzeugung von Daten spielen Modelle eine entscheidende Rolle. Es gibt in dieser Hinsicht keine natürlichen Rohdaten (Rohdatenfiktion).
  2. Zweitens können auch grossen Datenmengen einen klaren Bias haben. Nur weil wir viele Daten sammeln, können wir daraus nicht ableiten, dass unsere Daten in irgendeiner Weise repräsentativ sind (Statistikfiktion).
  3. Drittens liefert Big Data nicht einfach so gute Resultate (Simplizitätsfiktion) – es verlangt mindestens mathematische, technische, fachliche und rechtliche Kompetenzen.
  4. Viertens können Ergebnisse von Big Data Analysen ohne verständliche Erklärungsmodelle für die zugrunde liegenden Zusammenhänge oft nicht sinnvoll eingesetzt werden (Korrelationsfiktion). Stellen Sie sich einen Polizeieinsatz von Wasserwerfern vor, der damit begründet wird, dass Big Data Massenunruhen prognostiziert hat – und im Nachhinein stellt sich heraus, dass eine überdurchschnittlich hohe Zahl roter Halstücher der Auslöser war.
  5. Fünftens schaffen viele Daten noch keine Transparenz (Transparenzfiktion).
  6. Sechstens ist dauerhafte Anonymisierung schwer zu garantieren (Anonymisierungsfiktion).
  7. Siebtens bringen Big Data nicht notwendigerweise Nutzen für alle (Fairnessfiktion). Wer über die Daten von anderen verfügt, kann damit viel Gewinn machen. Die Masse der Datenlieferanten bekommt zwar meist im Tausch kostenlose Online-Dienste, hat aber keinen Anteil an den Milliardengewinnen und gerät im schlimmsten Fall sogar in ein Abhängigkeitsverhältnis.
  8. Last but not least: Was die Anwendungen von Big Data in der Politik betrifft, so besitzt die Vorstellung einer Welt mit einer computergestützten Demokratie, in der Fakten eine viel grössere Rolle spielen als in unserer heutigen Demokratie, recht viel Alptraumpotenzial – gerade weil dabei komplexe Probleme mit Computern vereinfacht werden. Denn es ist zu Recht sehr umstritten, dass man hohe Komplexität durch Automatisierung kontrollieren kann (Automatisierungsfiktion). Darüber hinaus kann der Einsatz von Big Data für Zukunftsprognosen in der Politik zu einer «Geschichtsbremse» führen. Da Big Data die Zukunft nur aus der Vergangenheit ableiten kann, wird durch eine unreflektierte «gläubige» Anwendung der Raum für kreative Innovationen eingeschränkt. Das ist gerade dort, wo die nächste (prognostizierbare) Wahl wichtiger ist als der langfristige (viel weniger prognostizierbare) Erfolg, eine echte Gefahr.

Schlussfolgerung
Big Data besitzt ein gewaltiges, derzeit nur in Ansätzen abschätzbares, Nutzenpotential. Es wird die Wirtschaft, unser persönliches Leben und das Staatswesen sehr stark verändern. Ignoriert die öffentliche Verwaltung das Thema, wird sie in Zukunft ihre Aufgaben nicht mehr zufriedenstellend erfüllen können. Gleichzeitig schafft aber Big Data auch neue, grosse Gefahren für die Gesellschaft, die sich verheerend auswirken könn(t)en. Es ist deshalb Zeit, dass wir uns ernsthaft mit Big Data auseinandersetzen!

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