«Das Design von Bürger- und Unternehmensdiensten bleibt eine wichtige Aufgabe im E-Government»

Prof. Dr. Klaus Lenk spricht über die Probleme und Herausforderungen im heutigen E-Government wie auch von Marketing in der öffentlichen Verwaltung und der Bedeutung von gutem Serviceengineering.

Interview: Reinhard Riedl

Was sind die Probleme im heutigen E­-Government?

Die Durchdringung der Gesellschaft mit immer neuen Formen der Nutzung von Informationstechnik hält uns gegenwärtig so sehr in Atem, dass die zum Teil seit Jahrzehnten bekannten Formen der Nutzung dieser Technik für eine besser ansprechbare, effektivere und effizientere Verwaltung darüber fast in Vergessenheit geraten sind. So sind die organisatorischen Gestaltungspotenziale der Informationstechnik für einen besseren Bürgerservice und für reibungslosere Kommunikation zwischen öffentlicher Verwaltung und der Wirtschaft noch lange nicht ausgeschöpft. Shared-Service-Zentren und Dienstleistungen aus einer Hand in One-Stop-Läden oder -Portalen sind bei Weitem nicht so verbreitet, wie wir dies vor einem Vierteljahrhundert, vor der Ausrufung des E-Governments, für möglich gehalten und erwartet haben. Und die Aussicht auf eine Entlastung der Unternehmen von den zahlreichen Informationspflichten gegenüber öffentlichen Stellen, die mit einem 2009 in Deutschland entwickelten Konzept direkt aus den ERP-Systemen dieser Unternehmen möglich wäre, ist leider mangels weitblickender Finanzierung geschrumpft zu einem «Prozessdatenbeschleuniger», dem man kaum noch ansieht, wozu er gut sein kann.


Sie haben in Vorträgen empfohlen, die Unternehmerbrille aufzusetzen. Das passiert offensichtlich selten. Warum ist das so schwierig?

Das gerade erwähnte Beispiel zeigt, dass die Entwicklung von Anwendungssystemen immer noch eine technische Schlagseite hat. Der Nutzen einer «Compliance Engine», die den Unternehmen lästige Pflichten abnimmt, könnte alles in den Schatten stellen, was an Bürokratieabbau bislang geleistet wurde. Das gelingt aber nicht mit einem technisch ausgereiften System allein. Zu wenig wird gesehen, dass organisatorische Vorkehrungen erforderlich sind, die auf eine Vernetzung unter Beteiligung aller Stellen hinauslaufen, welche die Unternehmensdaten erhalten sollen. In den Frühzeiten der Informatisierung war die Vernachlässigung der organisatorischen Aspekte verständlich, denn die technischen Anteile der Systeme mussten überhaupt erst einmal zum Laufen gebracht werden. Aber die techniklastige Entwicklungskultur hat sich verfestigt. Man ist davon überzeugt, dass neue Technikanwendungen in jedem Fall segensbringend sind. Dabei glaubt man zu wissen, was die Unternehmen oder die Bürger brauchen, und schaut daher nicht genauer hin. Es fehlt die Kenntnis der tatsächlichen Lebenslagen bzw. Unternehmenssituationen, aus denen heraus öffentliche Dienste in Anspruch genommen werden.

Hinzu kommt, dass wir zunehmend in eine Welt der Zahlengläubigkeit hineinwachsen, einfach deswegen, weil die Daten vorliegen.


klaus-lenkProf. Dr. Klaus Lenk
ist nach juristischer Ausbildung und verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem im Wissenschaftsdirektorat der OECD, seit 1975 Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verwaltungsinformatik, Verwaltungsorganisation und Technikgestaltung. Er ist Fellow der deutschen Gesellschaft für Informatik, für die er vor seiner Emeritierung 2005 in verschiedenen Funktionen tätig war, sowie Mitbegründer des Institute for eGovernment an der Universität Potsdam. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren, unter anderem am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS) und an den Universitäten Edinburgh, Linz und Krems/Donau, sind ebenfalls Teil seiner Laufbahn. Für seine praxisbezogene wissenschaftliche Tätigkeit wurde ihm 2012 das deutsche Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen.



Einige der von Ihnen genannten Probleme werden in Unternehmen von der Marketingabteilung gelöst. Bräuchte es auch ein
E-­Government­ Marketing?

Die Unterschiede des öffentlichen Sektors zur Wirtschaft liegen darin, dass in der Wirtschaft Versäumnisse im Marketing unmittelbar auf die Erfolgslage durchschlagen. An sich sollte es auch im öffentlichen Sektor eine Selbstverständlichkeit sein, Angebote auf die Abnehmer zuzuschneiden, sodass diese auch für sich selbst einen Nutzen davon haben. Aber leider wird Marketing in vielen Verwaltungen immer noch ganz eng als ein Verkaufen von nun einmal vorhandenen Dingen gesehen. Dabei sollte Marketing bereits in der Konzeptionsphase dieser Dinge handlungsleitend sein.

Im klassischen Marketingmix von «promotion», «product», «place» und «price» geht es nicht nur um «promotion» (Verbreitung der Kenntnis von Angeboten), sondern zuerst um das «product», das vermarktet werden soll, also um die Produktgestaltung. Ferner spielt der «place» eine Rolle, heute im Sinne der Gestaltung der Art und Weise des Angebots und der – digitalen wie auch physischen – Vertriebskanäle. Und der «price» ist auch für öffentliche Angebote zum Nulltarif ein Gesichtspunkt für die Gestaltung, nämlich wenn es um den nötigen Aufwand geht, um das Produkt zu erlangen; auch wenn die Leistung gratis erscheint, können Bürokratiekosten entstehen. Verwaltungen bedenken diese Zusammenhänge normalerweise nicht, und das sollte sich ändern.


Was ist mit dem neuerdings immer mehr propagierten Servicedesign bzw. Serviceengineering gemeint?

Die ganzheitliche Planung des gesamten Lebenszyklus von öffentlichen Diensten aus einem Marketingverständnis heraus ist möglich, wenn man neuere Ansätze zu einem Serviceengineering in den öffentlichen Sektor einführt. Serviceentwicklung kann geplant werden, wobei es nicht nur um ihren technisch realisierbaren Teil geht. Das gesamte Anwendungssystem, das in der Regel ein soziotechnisches System ist, muss im Hinblick auf die spätere Nutzung und den dabei erwünschten Komfort gestaltet werden. Was dabei technisch erledigt oder unterstützt wird, sollte im Vorhinein festgelegt werden. Manches, etwa das Erklären von Zusammenhängen oder das Eingehen auf Kundenwünsche, können Menschen immer noch besser als Maschinen …

Nach dieser konzeptionellen Arbeit, die am besten von den Verwaltungen selbst am runden Tisch zusammen mit Organisatoren und Ingenieuren geleistet werden sollte, folgt die nicht weniger schwierige Phase der Umsetzung. Die technische und organisatorische Implementation neuer Dienstleistungen darf nicht dem Zufall überlassen werden. Auch sie muss designt werden. Und der anschliessende Übergang in den Routinebetrieb ist besonders schwierig; nach vollbrachter Implementation legen vor allem Verwaltungsspitzen gern die Hände in den Schoss. Wie uns viele Fallstudien über «erfolgreiches Scheitern» von Systemen lehren, geht es dann aber erst richtig los mit den Schwierigkeiten. Es braucht ein Anlaufmanagement, und es muss darauf geachtet werden, dass eine Weiterentwicklung im laufenden Routinebetrieb, ein Design-in-Use, möglich bleibt. Ein immer wieder begangener Fehler liegt darin, sofortige Einsparungen zu erwarten, obwohl diese erst nach geraumer Zeit im Alltagsbetrieb anfallen und dann nicht mehr beachtet werden.


Oft hapert es im E­-Government mit dem Anforderungsverständnis. Was ist dabei die Herausforderung, und wie geht man am besten damit um?

Nicht nur Anforderungen an das technische System, sondern auch die von der Informatik gern als extrafunktional bezeichneten Anforderungen an das gesamte soziotechnische Anwendungssystem müssen erhoben werden. Dies erfordert ein Zusammenwirken von Organisatoren und Technikern. Im Einzelnen halte ich oftmals die Anforderungen an die Vertriebsformen, die Distributionskanäle, die Verständlichkeit der Angebote für unzureichend ermittelt. Das hat mit der Bestimmung der Zielgruppen zu tun, an die sich das Angebot richtet. Man muss Wege finden, auf denen diese Zielgruppen auch wirklich erreicht werden können.


Wie kommt man zur Identifikation der Zielgruppen?

Im Falle von Bürgerdiensten können Zielgruppen zunächst nach vorliegenden Erkenntnissen der Sozialforschung identifiziert werden. Schon vor Jahrzehnten wurden in Bezug auf den Umgang mit der Verwaltung Bürgertypen herausgearbeitet. Dabei zeigte sich, dass nur etwa ein Fünftel der Bürgerinnen und Bürger als «verwaltungskompetent» eingestuft werden kann. Andere lassen sich im Umgang mit Verwaltungsstellen oft von Bekannten helfen, die sie selbst als kompetent einschätzen. Das Ersetzen von Amtswegen durch Onlineangebote ändert an den Schwierigkeiten der weniger kompetenten Bürger nur wenig, solange in ihrer Sprache keine ausreichenden Erklärungen verfügbar sind, die ihrem Verständnishorizont entsprechen.


Wenn man Zielgruppen definiert hat, was gilt es dann beim Serviceentwurf besonders zu beachten?

Man sollte sich davor hüten, allein selig machende Wege zu propagieren oder, wie die deutsche Steuerverwaltung, Unternehmern das Einreichen von Umsatzsteuererklärungen auf Papier zu verbieten. Man hatte dabei wohl ein Bild des Unternehmers mit mehreren Mitarbeitenden vor Augen. Aber auch Menschen wie ich selbst mit einem kleinen Nebenverdienst und ohne Mitarbeiter sind Unternehmer im steuerrechtlichen Sinn. Warum soll ihnen die Wahlfreiheit genommen werden? Ein Zugang auf mehreren Kanälen ist in vielen Fällen sinnvoll, und er sollte nicht behindert werden, auch wenn der physische Kanal mehr kostet. Aber entscheidend ist, dass die Zugangskanäle auf die Bedarfe zugeschnitten werden, die sich auch ändern können. Nicht allen Zielgruppen ist mit einer an Lebenslagen ausgerichteten Bündelung von Angeboten in One-Stop-Frontoffices gedient.


Bislang galten Lebenslagen als Zaubermittel. Auch in Zukunft?

Als erste Orientierung sind statisch konzipierte Lebenslagen sicher sinnvoll. So kann man alle Pflichten und Leistungen, die in einer bestimmten Lebenslage wie der Geburt eines Kindes oder der Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit in Betracht kommen, in einen «Lebenslagenantrag» zusammenfassen. Damit käme man dem Grundsatz «Anliegen vor Leistung vor Zuständigkeit» schon näher. Aber reicht das? Jede individuelle Lebenslage ist im Grunde eine andere, und man kann sie kaum vorhersehen. Versucht man sie auf Grund vorhandener Daten vorzustrukturieren, dann ist das auch keine Garantie dafür, es den Menschen recht zu machen. Verwaltungen können sich oft kaum vorstellen, wo der Schuh drückt. Bei einer Untersuchung der Bürokratiebelastung von Eltern eines behinderten Kindes waren wir regelrecht erschrocken darüber, dass die Elternvertreter und die Vertreter beteiligter Verwaltungen völlig unterschiedliche Sichten entwickelten zu unserem Vorschlag, eine Art Fallmanager einzuführen, um die Belastung zu reduzieren.


Die Hochschulen rund um den Bodensee setzen ihre Hoffnung auf Open Government. Was wird das bringen?

So gut wie nichts für das zentrale Ziel von E-Government: eine bessere, weniger belastende und belästigende Verwaltung. Open Government wirkt eher kontraproduktiv. Es hält die Verantwortlichen davon ab, ihre Geschäftsprozesse zu verbessern, im Sinne einer kreativen Nutzung des organisatorischen Gestaltungspotentials von E-Government für effektiveren, bürokratiesparenden und effizienteren Service. Und es schafft der Verwaltung zusätzliche Arbeit, deren Nutzen noch nicht erwiesen ist. Der Druck der kritiklos nachgebeteten Ziele von Open Government (Transparenz, Partizipation, Kollaboration) ist so stark, dass die Verwaltungen nachweisen müssen, etwas zu tun, um nicht an den Pranger gestellt zu werden.


Sie kennen das Schweizer E-­Government gut. Was sind die drei wichtigsten Empfehlungen, die Sie der Schweiz dazu geben können?

Eigentlich ist es nur eine Empfehlung: Weiter so, und lassen Sie sich von EU-Rankings und den zweimal jährlich ausgerufenen neuen technikbezogenen Moden nicht beirren! Bei zwei Evaluationen der Informationsgesellschaft Schweiz 2002 und 2008 konnte ich feststellen, das viel mehr vorhanden als international bekannt war. Das liegt an der föderalen Grundstruktur, die dazu führt, dass gute Entwicklungen auf Gemeinde- und Kantonsebene draussen schlicht nicht wahrgenommen werden. Mit dem Ausspruch «Mehr Sein als Scheinen» kennzeichnete ich damals die Lage in der Schweiz.

Deutschland hat mit seinem Exekutivföderalismus und den oft bemerkenswerten Innovationen der grossen Städte das gleiche Problem mangelnder Sichtbarkeit guter Lösungen, löst es aber seit einigen Jahren nicht nur durch eine – anfänglich recht grossspurige und überzogene – Rhetorik der Bundesebene, die kaum exekutive Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, sondern auch organisatorisch. Hier sticht die Gründung des IT-Planungsrats 2010 hervor, auf der Grundlage einer Verfassungsänderung, die ein Zusammenwirken von Bund und Ländern beim Aufbau der IT-Systeme explizit erlaubt. Ein vergleichbares Gremium für die Schweiz wird im Rahmenkonzept «Vernetzte Verwaltung Schweiz» (eCH 0126) gefordert, an dem ich mitarbeiten durfte.

Auf seiner Grundlage kann es zu einer gesamtschweizerischen Verwaltungsarchitektur kommen, bei der die föderalen Strukturen und die kommunale Selbstverwaltung nicht nur bewahrt, sondern letztlich gestärkt werden. Der entscheidende Hebel dafür ist die Bereitschaft und auch die Fähigkeit, auf und zwischen allen staatlichen Ebenen intensiv zu kooperieren.

Die in diesem Dokument in Vordergrund stehende Sicht auf die Geschäftsprozesse der Verwaltung soll verdeutlichen, dass alle Beteiligten aus intensiver Kooperation Nutzen ziehen. Gebietsreformen und Zuständigkeitsänderungen sind nicht erforderlich, um die organisatorischen Gestaltungspotenziale von E-Government in den Dienst einer neuen Architektur der Exekutive zu stellen. Denn einzelne Geschäftsmodule, zum Beispiel Identitätsfeststellung, können konzentriert bearbeitet und in lokale Geschäftsprozesse mit nur geringen Fallzahlen eingefügt werden. Das kann zu Einsparungen führen, zur Schaffung von Shared Service Zentren und zu einem Bürgerservice «Alles aus einer Hand».

Was in dem genannten Dokument noch nicht so deutlich angesprochen wird, ist die Notwendigkeit gesamtschweizerischer Infrastrukturen. Erwähnt sind übergreifend nutzbare Prozessbausteine, aber es geht auch um die Verfügbarkeit von Daten und von Wissen. So sollte auch in der Schweiz, wie in Österreich und in den Niederlanden, über harmonisierte Basisregister betreffend «Erde, Einwohner, Einkommen» nachgedacht werden. Und übergreifend nützliches Rechts- und Faktenwissen könnte in gemeinsamen Einrichtungen des Wissensmanagements bereitstehen.


Unsere traditionelle Abschlussfrage: Wie wird das E­-Government in 25 Jahren aussehen?

Der Zeitraum verführt zu hemmungsloser Spekulation. Ich möchte mich auf 15 Jahre beschränken. Das gestattet mir eine Trendprognose, an die ich aber auch nicht so recht glaube. Im Jahre 2000 erarbeitete ich zusammen mit Kollegen ein Memorandum des Fachausschusses Verwaltungsinformatik der deutschen Gesellschaft für Informatik und der Informationstechnischen Gesellschaft. Es trug den Titel «Electronic Government als Schlüssel zur Modernisierung von Staat und Verwaltung». Enttäuschend für mich ist, dass das allermeiste, was wir darin forderten, noch nicht realisiert ist. Wird das in 15 Jahren anders sein?

Folgt man der kondratievschen Theorie der «langen Wellen» der Wirtschafts- und Technikentwicklung, dann befinden wir uns gegenwärtig in der Abschwungphase des «fünften Kondratievs», der auf der IT aufbaut. Das geradezu verzweifelte Suchen des anlagebereiten Kapitals nach neuen Geschäftsfeldern ist ein Indiz dafür. Was kommt danach? Ich erwarte Umbrüche, die nicht allein mit dem zyklischen Denken in langen Wellen zu erklären sind. Wir stossen an die Grenzen der Nutzung unserer Erde, und die Gesellschaften driften zunehmend auseinander. Daher erwarte ich auch für unseren Bereich, der letztlich mit der künftigen Rolle von Staaten im Weltgeschehen zu tun hat, einschneidende Veränderungen, die wir nicht vorhersagen können. Dabei sollte man aber das Beharrungsvermögen von in der Gesellschaft fest verankerten Institutionen wie Staat und Kommune nicht unterschätzen. Für die Bewältigung vieler noch nicht bekannter Herausforderungen wird eine zwar stabile, aber in ihrer Arbeitsweise von Grund auf transformierte, vernetzte öffentliche Verwaltung eine wichtige Instanz sein.

Vielen Dank für das Interview.

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