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Wie eine virtuelle Plattform die psychische Gesundheit fördert – ein Projekt der BFH Gesundheit und Pro Mente Sana

Welche Erwartungen stellen psychisch Erkrankte, Angehörige und Gesundheitsfachpersonen an eine digitale Plattform zur Förderung der psychischen Gesundheit? Dieser Frage ging ein Projektteam der Berner Fachhochschule Gesundheit, der Stiftung Pro Mente Sana Schweiz sowie einem Atelier für Kommunikationsdesign (Giessform) gemeinsam mit potentiellen Nutzerinnen und Nutzern nach. Gemeinsam entwickelten sie einen interaktiven Prototyp der Plattform inCLOUsiv, der im Januar 2020 in den Testbetrieb geht.

Soziale Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe sowie Mitsprachemöglichkeiten sind wichtige Ansprüche, wenn es um die Förderung und den Erhalt psychischer Gesundheit geht (Richter et al., 2006, Pro Mente Sana, 2018) Die Gesundheitsförderung Schweiz nennt dazu 10 praktische Schritte, darunter a) mit Freunden in Kontakt zu bleiben; b) sich zu beteiligen  und c) darüber zu reden. Die Digitalisierung bietet hierfür einerseits neue Möglichkeiten für den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen, jedoch andererseits auch für die soziale Vernetzung, unabhängig von Zeit und Ort. Internationale Forschungsarbeiten beschreiben in diesem Zusammenhang grosse Potentiale virtueller Gemeinschaften, insbesondere wenn sich Nutzerinnen und -Nutzer mit ähnlichen Interessen zu bestimmten Themen austauschen können (Joinson, 2001; McKenna et al., 2002).

Fehlende Angebote in der Schweiz

In der Schweiz leiden beispielsweise überdurchschnittlich viele jüngere Menschen (18 bis 34 Jahre) unter Einsamkeit oder Depressionssymptomen und diese Altersgruppe ist auch überdurchschnittlich vertreten, wenn es um Neuberentungen aufgrund einer psychischen Erkrankung geht (Schuler & Burla, 2016). Gerade diese Gruppe von jungen, schüchternen und sozial isolierten Menschen könnte stärker von virtuellen Kontakten und Angeboten profitieren. Denn grundsätzlich sind Menschen in virtuellen Interaktionen schneller bereit, persönliche Informationen zu teilen, wodurch kommunikative Probleme und Vorhaben besser gelöst werden können (Deterding, 2008).

In der Schweiz fehlen derzeit virtuelle Angebote zur Förderung der psychischen Gesundheit mit der Möglichkeit zur Interaktion durch die Nutzerinnen und Nutzer. Mit der geplanten Begegnungs- und Austauschplattform inCLOUsiv möchten wir diese Lücke schliessen und somit einen präventiven Beitrag leisten. Menschen mit psychischen Problemen sollen mit inCLOUsiv zielgruppengerechte sowie dem digitalen Zeitalter entsprechende Mitsprache- und Austauschmöglichkeiten zu diversen Themen rund um das Spektrum der «psychischen Gesundheit» erhalten. Das Angebot von inCLOUsiv richtet sich dabei an folgende potentielle Nutzerinnen- und Nutzergruppen:

  • Menschen mit psychischen Problemen,
  • Angehörige von Menschen mit psychischen Problemen,
  • Gesundheitsfachpersonen,
  • Vertreterinnen und Vertreter von Organisationen und Institutionen aus dem Themenfeld der psychischen Gesundheit.

Um die Bedürfnisse und Anforderungen der potentiellen Nutzerinnen und Nutzern aus den verschiedenen Anspruchsgruppen in den gesamten Entwicklungsprozess einbeziehen zu können, wählten wir ein User-zentriertes Projektdesign. Mit diesem Ansatz wurden Vertreterinnen und Vertreter aus den oben genannte Anspruchsgruppen von Beginn an in die Entwicklung und Konzeption der Begegnungs- und Austauschplattform involviert. Der kontinuierliche Einbezug der potentiellen Nutzerinnen und -Nutzer stellt dabei die verbindende Kerneigenschaft der diversen existierenden Modelle und Vorgehensweisen dieses methodischen Ansatzes dar und wurde im Projektverlauf mittels Workshops sowie Testläufen kontinuierlich umgesetzt (Abras, Maloney-Krichmar & Preece, 2004).

 Plattform, um nicht alleine zu sein

Während einer ersten Projektphase zur Konzeption von inCLOUsiv klärte das Projektteam zwischen Oktober 2017 und Mai 2018 mit insgesamt 30 potentiellen Nutzerinnen und Nutzern ihre Anforderungen an eine Austausch- und Begegnungsplattform im Rahmen zweier Workshops. Es zeigte sich, dass sich die potentiellen Nutzerinnen und Nutzer vor allem eine interaktive Austauschmöglichkeit mit anderen Akteuren wünschten. Ebenso sollte die Plattform Gefühle vermitteln, wie nicht alleine zu sein und durch die Nutzung Teil einer Gemeinschaft zu werden. Bezüglich Struktur und Organisation der Plattform wünschten die Befragten, dass sie auf der Plattform einerseits das eigene Wissen zur psychischen Gesundheit erweitern können und sich andererseits mit verschiedenen Personen mit diversen Erfahrung (Expertinnen und Experten mit eigener Krankheitserfahrung sowie Gesundheitsfachpersonen mit beruflicher Expertise) zu aktuellen Themen austauschen können. Die Plattform soll zudem jederzeit ohne Login als Gast besucht werden können. Die Veröffentlichung von Beiträgen sowie Austausch mit anderen Mitgliedern soll jedoch den registrierten Nutzerinnen und Nutzern vorbehalten bleiben.

Informativ und interaktiv

In einer zweiten Projektphase zwischen November 2018 und August 2019 wurde entsprechend dieser Anforderungen ein funktionaler Prototyp der virtuellen Plattform inCLOUsiv entwickelt und ebenfalls von künftigen Nutzerinnen und Nutzern getestet. Es wurde entschieden, die Struktur der Plattform in zwei Hauptaspekte zu unterteilen, einer redaktionellen Veröffentlichung von Beiträgen sowie einem interaktiven Austauschforum zwischen den Nutzerinnen und Nutzern der Plattform zu spezifischen Themen rund um psychische Gesundheit. Die Themen sollen dabei die gesamte Lebensspanne im Erwachsenenalter adressieren und besonders vulnerable Bereiche wie Beziehungsgestaltung; Familie sowie Schule und Berufsleben abdecken. Folgende Grafik 1 zeigt einen Überblick über die geplanten Themenbereiche:

Grafik 1: Themenbereiche im Austauschforum der virtuellen Plattform inCLOUsiv

Der virtuelle Austausch – und Begegnungsraum inCLOUsiv soll künftig von Mitarbeitenden der Stiftung Pro Mente Sana moderiert und betrieben werden. Nach einer weiteren geplanten Testphase mit 50 Nutzerinnen und Nutzern wird die Plattform voraussichtlich im Sommer 2020 definitiv online gehen. Wir sind gespannt, wie sich die Interaktionen zwischen den verschiedenen Nutzerinnen und Nutzergruppen zeigen werden und welche Themen besonders gefragt sind.


Förderorganisation

Die Stiftung Sanitas Krankenversicherung unterstützt in ihrem gesellschaftlichen Engagement Projekte im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung, insbesondere zugunsten junger Menschen in der Schweiz.


Referenzen

  1. Abras, C., Maloney-Krichmar, D., & Preece, J. (2004). User-centered design. Bainbridge, W. Encyclopedia of Human-Computer Interaction. Thousand Oaks: Sage Publications, 37(4), 445-456.
  2. Deterding, S. (2008). Virtual Communities. In Posttraditionale Gemeinschaften (pp. 115-131). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  3. Joinson, A. N. (2001). Self‐disclosure in computer‐mediated communication: The role of self‐awareness and visual anonymity. European journal of social psychology, 31(2), 177-192.
  4. McKenna, K. Y., Green, A. S., & Gleason, M. E. (2002). Relationship formation on the Internet: What’s the big attraction?. Journal of social issues, 58(1), 9-31.
  5. Pro mente sana (2018). Manifest. https://www.promentesana.ch/de/ueber-uns/portrait/manifest-2018.html. (Retrieved: 23.8.19)
  6. Richter, D., Eikelmann, B., & Reker, T. (2006). Arbeit, Einkommen, Partnerschaft: Die soziale Exklusion psychisch kranker Menschen. Das Gesundheitswesen, 68(11), 704-707.
  7. Schuler, Daniela; Burla, Laila. Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016. Obsan Bericht 72. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. Neuchâtel (2016: 7).
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Wie sich digitale Beziehungen auf unsere psychische Gesundheit auswirken

Wir bloggen heute von der Fachtagung «Distanzlos distanziert» der Berner Fachhochschule Gesundheit und dem Freiburger Netzwerk für psychische Gesundheit. In Referaten und Workshops geht es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Alltag und unsere Beziehungen. 

Die Tagung startet mit einem Referat von Prof. Dr. Georg Hasler, Chefarzt des Freiburger Netzwerks für psychische Gesundheit über Beziehungen – was sind Beziehungen, wie entstehen sie und wodurch sind sie gekennzeichnet? Er zeigt auf, dass die Beziehung zwischen den NutzerInnen und den grossen Konzernen wie Facebook, Google und Amazon ebenso hierarchisch ist, wie die Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. „Die natürliche menschliche Beziehung ist aber in ihrem Ursprung nicht-hierarchisch, Hierarchien sind erst später entstanden“, sagt Hasler. Die Menschen haben über tausende Jahre egalitär gelebt. Die Bindungsforschung belege, dass zwischenmenschliche Beziehungen gar nicht so stabil sind, wie wir oft denken, sondern viel flexibler, dynamischer und wandelbarer. „Wir können uns also leicht auf digitale Beziehungen einlassen“, sagt Hasler und zitiert die moderne Bindungstheorie: „Bindung ist ein fundamentales Bedürfnis und hat grössere Priorität als der Wunsch nach Selbstverwirklichung.“ Dieses Bedürfnis befriedigt sich durch einen regelmässigen Kontakt zu Personen, die sich gegenseitig umeinander sorgen und gemeinsame Erlebnisse haben. Die Inhalte in den sozialen Medien wie Instagram erzählen jedoch keine gemeinsamen Geschichten, in denen beispielsweise eine Krise überwunden wird. Selbstdarstellungen überwiegen. Generell kann sich das Bindungsbedürfnis erschöpfen. „Die Frage ist nun, können digitale Beziehungen das Bindungsbedürfnis auch stillen?“, fragt Hasler.

Die vergleichende Studie von Twenge et al (2017) zeigt, dass Jugendliche mit Smartphones:

  • später und weniger Autofahren,
  • später und weniger Sex haben,
  • aber mehr Pornographie konsumieren
  • sich weniger prügeln und betrinken,
  • weniger sexuelle Gewalt verüben,
  • mehr Wert auf Sicherheit legen,
  • politisch Stellung nehmen,
  • ihre Eltern weniger kritisieren
  • mehr Ferien mit den Eltern verbringen
  • haben weniger reale Freunde
  • sind mehr auf sich bezogen,
  • haben weniger Altruismus, Religiösität und
  • starten späterer ins Berufsleben.

„Einiges davon sind Merkmale einer sozialen Phobie“, sagt Hasler. Auch gibt es Untersuchungen, dass eine steigende Bildschirmzeit depressive Symptome vergrössert – vor allem bei Frauen. Menschen, die sehr viel Zeit im Netz verbringen und dort virtuelle Beziehungen pflegen, erschöpfen ihr Bedürfnis nach Beziehungen, so dass sie kein Bedürfnis mehr nach realen Beziehungen haben. Dies fördere insbesondere bei Frauen Depressionen.

Andere Studien zeigen, dass besonders die Beziehungen, die in geografischer Nähe sind, viel wichtiger und entscheidender für die psychische Gesundheit sind als etwa sehr gute, aber weit entfernte Freunde. Ein Umzug müsste also sehr einscheidend sein. Dies trifft vor allem für Jugendliche zu: werden sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden, steigen Suizid- und Gewaltrisiko deutlich an. Die digitalen Beziehungen puffern den Umzug nicht ab. Auch gemeinsame Aktivitäten und Hobbies fördern enge Bindungen und die Resilienz sowie gemeinsam überwundene Krisen. „Digitale Bziehungen werden u.a. von Facebook durch Algorithmen lokalisiert“, sagt Hasler. Die Beziehungen können humanisiert werden, durch die Nutzung entsprechend dem individuellen Alltagsrhythmus, mehr Gesichten als Bilder zu konsumieren u.a.

In der Psychiatrie kann die digitale Vernetzung genutzt werden. Hasler und sein Team haben eine App zur Rückfallverhütung entwickelt, die Standorte, Schlaf, Umgebung, soziale Beziehungen und Konzentration via Tippfehler eines/einer PatientInnen trackt.

Macht die Digitalisierung das Gesundheitswesen effizienter?

Wird eine digitalisierte Gesundheitsversorgung wirtschaftlicher? Prof. Dr. Urs Brügger, Direktor des BFH-Departements Gesundheit über die aktuelle Gesunheitsökonomie. Brügger schildert die Digitalisierung des Gesundheitssektors von Elektronischem Patientendossier (EPD) bis Künstliche Intelligenz. Während das EPD in der Schweiz harzt, geht es mit KI rasant voran.

Eine Studie etwa untersuchte, wer besser diagnostizieren kann Ärztinnen oder Maschinen? Und kommt zu dem Schluss, dass Maschinen beispielsweise in der Radiologie dies bald besser können und ganz übernehmen könnten. „In der Diagnostik ist die Entwicklung rasant und mehr Ärztinnen werden durch Maschinen ersetzt“, sagt Brügger. Die Interpretation und Behandlung wird dann jedoch wieder vermehrt von Menschen übernommen. Auch in der Physiotherapie erfüllen vermehrt Roboter mechanische, wiederkehrende Tätigkeiten. „Das lieben natürlich die Spitalmanager, da Roboter effizienter und messbarer arbeiten als PhysiotherapeutInnen“, sagt Brügger.

In der somatischen Medizin gehören Maschinen also schon zum Alltag. Heikler ist die psychiatrische Medizin, in der es bisher zwar webbasiertes Coaching gibt. Dabei wird jedoch stets auf FachärztInnen verwiesen. „Da stellt sich manchmal schon die Frage, ob diese Tools nur Spielerei sind oder ein Medizinprodukt ist“, betont Brügger. Viele Gadgets würden die Anforderungen nach Art 32 des KVG kaum bis nicht erfüllen:

  1. Die Leistungen (…) müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein.
  2. Die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft.

Brügger plädiert daher dafür, die Risiken von Geräten und Apps zu identifizieren und zu prüfen. Nicht nur die Sicherheit und Wirksamkeit werden dabei angeschaut sondern auch die Kosten. Während die Herstellerfirmen natürlich Versprechen abgeben, braucht es doch eine gesunheitsökonomische Analyse, die Effekte und Kosten gegeneinader aufwiegen. Bei diesen Studien kommen auch ethische Aspekte ins Spiel. „Das Ziel ist jedoch nicht, dass wir billiger werden, sondern eine besssere Behandlung anbieten“, sagt Brügger.

Digitalisierung in der Psychotherapie

Onlinetherapie und Apps – Prof. Dr. Thomas Berger, Leiter der Klinischen Psychologie und Psychotherapie der Universität Bern stellt digitale Angebote innerhalb der Psychotherapie vor. In Australien gehören diese bereits zur Regelversorgung. Auch Schweden hat vorwärts gemacht mit der „Internetpsykatri“ – einer Onlinetherapieform. Besonders flächenmässig grosse Länder haben eine grössere Akzeptanz für Onlinetherapien, da die PatientInnen lange Wege zu TherapeutInnen haben. Aber auch in den Niederlanden kombinieren heute schon 70 % der psychiatrischen Kliniken Onlineangebote mit konservativen Therapien. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass etwa die Hälfte der psychisch Kranken eine herkömmliche Therapie finden. Mit den Tools für Onlinetherapien erreicht man mehr Menschen mit psychischen Problemen, als wenn man darauf wartet, dass sie in die Klinik oder in die Praxis kommen.

Onlinebasierte Therapien haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt. Es gibt Email-, Chat- und Videotherapie. Diese haben zwar den Vorteil, dass man Menschen erreicht, die weit weg sind. Aber können zeitlich viel aufwändiger sein. Zudem gibt es Selbsthilfeplattformen und -apps. Am meisten aber wird „angeleitete Selbsthilfe“ angeboten – wie eben Australien und Schweden, bei der im Hintergrund TherapeutInnen stehen und erreichtbar sind. Dabei werden praktische Übungen und Psychoedukation an die App delegiert und anschliessend Gespräche weiterhin von und mit Menschen geführt werden. Berger plädiert für diese „Mischbehandlungen“ (blended treatments) – diese könnten künftig wichtiger werden. Gleichzeitig werden Änderungen der Symptome protokolliert und auf lange Zeit beobachtet. Das ist für Berger zusammen mit einer regelmässigen Umfrage zu Symptomen und Zustand ein grosser Vorteil gegenüber der traditionellen Therapiesituation, die gewöhnlich keine Umfragen bei den PatientInnen macht.

Die bisherigen Tools ahmen die traditionelle Therapiesitzung nach: einmal pro Woche etc. Es gibt akademische Apps, die zwar evidenzbasiert sind, aber nicht zeitnah und attraktiv entwickelt werden. Dem gegenüber stehen kommerzielle Aps, die zwar attraktiv daher kommen, aber nicht wirksam sind. Dabei können App-Bewertungsprogramme wie MindTools.io helfen.

Die Forschung hat gezeigt, dass ungeleitete Selbsthilfeapps zwar viele Menschen erreichen, aber nicht besonders hohe Effekte erzielen. Im Präventionsbereich und in public health können sie sinnvoll sein. Es habe sich gezeigt, dass es wichtiger ist, wer das Produkt wie vermittelt als das Produkt selbst. Angeleitete Selbtshilfeapps etwa genauso effektiv sind wie eine Face-to-face-Therapie bei vielen psychischen Krankheiten, das zeigen zahlreiche Studien. Mischbehandlungen die bessere Wirkung haben als die herkömmliche Therapie. Aber womöglich nutzen dies eher technikaffine PatientInnen. Berger sieht die Zukunft in Mischbehandlungen. „Die Kombination von Apps oder Onlineangeboten mit einer Therapiebeziehung ergibt eine bessere Psychotherapie“, glaubt Berger.

Vom Unbehagen mit der Digitalisierung

Dem Unbehagen in der digitalen Zusammenarbeit widmet sich Prof. Dr. Reinhard Riedl, Leiter des BFH-Zentrums Digital Society. Von Unbehagen ist auf den ersten Blick in der IT nicht so viel zu sehen, da die heutigen Apps für jedermann nutzbar sind. Früher hingegen war die Nutzung von Computern oft unbequem.

Die Zukunft sieht Riedl in der engen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine als Tandem. Klingt auch noch nicht nach Unbehagen. „Wir werden in Zukunft nicht mehr gefangen sein in der Informatik, der Mensch und seine Werkzeuge werden zusammenkommen, um die Welt noch besser zu beherrschen“, sagt Riedl. Dennoch herrscht eine grosse Angst, dass die Technologien der dritten Ordnung, also solche, die miteinander kommunizieren können, die Herrschaft über uns übernehmen werden. „Das ist eine der realen Befürchtungen der modernen Philosophie“, so Riedl. Real ist demnach auch, dass Maschinen sehr weitreichende Funktionen und Berufe übernehmen werden. Jedoch könnten im Wettbewerb von Mensch und Maschine nur beide gemeinsam gewinnen können. Der Kontext, in dem eine Maschine vorherrscht, muss begrenzt werden. Beispiel: Maschinen können inzwischen zwar teilweise besser radiologisch diagnostizieren, doch nur in der Kombination mit dem Menscen stimmen die Diagnosen wirklich.

Momentan wird unser Online-Erlebnis durch die personalisierten Filterblasen bestimmt. Die Optimierung wird aber abgelöst werden durch voraussagende Kognitionswerkzeuge, die sich mit dem menschlichen Denken synchronisiert. Die Filterblasen werden uns weniger einschränken und weniger wahrnehmbar sein.

Dass Maschinen die Herrschaft übernehmen, glaubt Riedl hingegen nicht, dies sei eine zeitlich „sehr ferne Vorstellung“. Die Berufe werden sich verändern ja, aber die Technologien werden unsere Wahrnehmungen vergrössern. Die klassische Digitalisierungsthese in der Wirtschaft derzeit lautet: Es wird mehr Vielfalt aber auch mehr Ungleichheit geben, sagt Riedl. Die Arbeitsmärkte inkluse Stellensuche werden sich stark verändern. Prognosen gehen davon aus, dass Menschen weniger bei KMU angestellt sein werden, sondern flexibel bei Grossunternehmen. Damit gehe Stabilität verloren udn fordere von den ArbeitnehmerInnen ein hohes Mass an Selbstoptimierung und lebenslanges Lernen.

Durch die Digitalisierung wird eine neue gesellschaftliche Ordnung entstehen, ist sich Riedl sicher. Diese wird auf den Grundsätzen von Open Data und Traded private Data beruhen. Die Auswirkungen sind:

  • Wir vernetzen uns stärker,
  • sind transparenter,
  • fokussieren uns stärker auf das Hier & Jetzt,
  • es gibt weniger Raum für Individuen abseits des Mainstreams und
  • alles, was wir tun, wird bewertet werden, wie es schon heute mit der Bürgerüberwachung in China Realität ist.

Gleichzeitig verlieren wir:

  • Selbstverständlichkeiten,
  • Gemeinsamkeiten und
  • auch Abgrenzungen.

Für Riedl ist die Digitalisierung deshalb so erfolgreich, weil sie wenig Freiräume ermöglicht und anti-disruptiv wirkt. Kreativität und Zufall sind bei der Nutzung von Algorithmen und Datennutzung nahezu ausgeschlossen. „Wenn man immer unter idealen Bedingungen lebt, gibt es ja kaum noch Reibungspunkte“, so Riedl. „Stattdessen wird unser künftiges Leben davon bestimmt, dass wir einen permanenten Auftritt hinlegen müssen.“ Jede aktive Verweigerung werde in diesem System unmöglich sein, da wir immer unter Beobachtung stehen. Die digitale Zusammenarbeit werde immer effizienter, aber werde die Menschen immer mehr reinnehmen. Man könne heute nicht mehr sagen, was in drei Jahren sein wird.

Damit endet die Tagung. Die nächste «Distanzlos distanziert» findet im Februar 2021 statt.

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