Vom IT-Boom zu Nachhaltigkeit: Indiens neue Herausforderungen
Der IT-Boom der frühen 2000er Jahre veränderte Indien und die Welt. Er deckte den weltweiten Bedarf an IT-Dienstleistungen, hob Millionen von Menschen aus der Armut, positionierte Indien als zentralen Knotenpunkt im weltweiten Technologienetzwerk und veränderte die Arbeitsweise der Welt. Doch zwei Jahrzehnte später brachte er eine ganz neue Reihe von Herausforderungen für die Nachhaltigkeit mit sich. Dieser Artikel beschreibt diese und wie Projekte von Sharada Educational Trust und der Berner Fachhochschule bei der Lösung helfen..
Um die heutigen Nachhaltigkeitsherausforderungen in Indien richtig zu verstehen, müssen wir zunächst die Vergangenheit verstehen. Viele Menschen glauben, dass die kostengünstige Natur der hochtechnologischen indischen Arbeitskräfte zusammen mit dem Aufstieg des Internets zum indischen IT-Boom führte; dies war das Thema des mittlerweile berühmten Buches «Die Welt ist flach» von Thomas Friedman. Leider werden dabei einige wesentliche Punkte übersehen.
Seit Jahrtausenden war Indien der führende Ort in Asien für Wissenschaft, Technologie und Innovation. Dank des Mathematikers Aryabhata war Indien der Geburtsort des Dezimalsystems und der Null; indische Abhandlungen enthalten die frühesten bekannten Aufzeichnungen von Operationen und Impfungen durch Ärzte wie Sushruta und Charaka. Tatsächlich waren die alten Universitäten von Nalanda und Takshashila, die bis ins Jahr 600 v. Chr. zurückreichen, riesige Wissenszentren, bevor die Globalisierung existierte. Die indische Kultur selbst verkörpert Jugaad, eine Philosophie der flexiblen Problemlösung und Innovation, die heute als etablierte Managementpraxis für «sparsames Engineering» gilt.
Talente als Quelle des Booms
Die berühmten Zeilen über „das rote Leuchten der Raketen“ in der US-amerikanischen Nationalhymne beziehen sich auf Raketen, die im südindischen Königreich Mysore entwickelt wurden. Der Herrscher des 18. Jahrhunderts, Tipu Sultan, setzte eiserne Raketen gegen die Britische Ostindien-Kompanie ein, eine der frühesten Verwendungen von Raketentechnik in der Kriegsführung. Diese Technologie wurde von Sir William Congreve verfeinert, was die von Francis Scott Key während des Kriegs von 1812 geschriebenen Zeilen inspirierte.
Die jüngsten Grundlagen für den IT-Boom wurden von Institutionen wie dem Indian Institute of Science und den Indian Institutes of Technology (IITs), die 1910 bzw. in den 1950er Jahren gegründet wurden, gelegt. Sie wurden zu Quellen hochkarätiger Ingenieurtalente, die nicht nur technisch versiert, sondern auch unternehmerisch begabt waren.
In Amerika nutzte die IT-Industrie in den 1970er Jahren erstmals dieses Talent. Wie in diesem Artikel besprochen, führte ein Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften im Silicon Valley dazu, dass einige unternehmerische amerikanische Unternehmen Talentpools in Indien nutzten, um ihre besten Ingenieure zu rekrutieren. Die Lösung vor dem Internet bestand darin, dieses Talent an Land zu bringen, sodass die indischen Kollegen Seite an Seite mit ihren amerikanischen Kollegen arbeiten konnten. Das berühmte H-1B-Visum für Technologiefachleute wurde 1990 eingeführt und ist möglicherweise der Hauptgrund dafür, dass das Silicon Valley schnell zu einem internationalen Mekka wurde.
Der IT-Boom
Der IT-Boom war nicht nur für Indien, sondern für die ganze Welt transformativ. Er begann langsam Ende der 1990er Jahre, gewann aber mit der Jahr-2000-Problematik (Y2K) schnell an Fahrt, und die Nachfrage nach IT-Talenten aus Indien explodierte. Grosse globale Unternehmen wie Infosys, Wipro und Tata/TCS stiegen auf, um die Nachfrage zu decken. Dies hob nicht nur Hunderttausende von Technologieprofis aus der Armut, sondern löste auch einen Dominoeffekt in verwandten Branchen aus. Eine erweiterte Mittelschicht beflügelte einen Boom in den Bereichen Immobilien, Einzelhandel, Gastgewerbe, Bildung und Gesundheitswesen; kurz gesagt, es entwickelte sich ein neues Ökosystem für Fachleute und ihre Familien.
Interessanterweise sind vielen Westlern einige der sehr innovativen Geschäftspraktiken, die während des Booms entstanden, nicht bekannt. Indische Unternehmen führten Massenrekrutierungskampagnen durch, bei denen jeden Monat Tausende oder sogar Zehntausende neuer Mitarbeiter eingestellt wurden, oft noch vor ihrem Studienabschluss. Grosse Unternehmen wie Infosys schufen massive Trainingscampusse, auf denen Neuanstellungen (sogenannte „Freshers“) Trainingsprogramme durchliefen, wobei oft verlangt wurde, dass die Trainees für Wochen oder sogar Monate vor Ort wohnten. In einer Praxis, die als „Bench-System“ bekannt ist, wurden grosse Zahlen von Mitarbeitern ausgebildet, aber nicht für Projekte eingesetzt, um sicherzustellen, dass Arbeitskräfte sofort eingesetzt werden konnten, wenn neue IT-Projekte gesichert wurden. Selbst heute praktizieren einige Unternehmen ein „Customer University“-Programm, bei dem IT-Mitarbeiter, die für einen grossen Kunden arbeiten, ein umfassendes Programm durchlaufen, um sicherzustellen, dass sie Experten in der Geschichte, Unternehmenskultur und den Prozessen der Kunden sind, denen sie dienen. Dies ist wahrlich IT in einem Massstab, der alles im Westen bei weitem übertrifft.
Wasserprobleme und Feinstaub
Die Nachhaltigkeitsherausforderungen, denen sich das urbane Indien nach dem Boom gegenübersieht, sind wohlbekannt. Die Konzentration von Reichtum und Möglichkeiten in städtischen Zentren hat die Städte unter Druck gesetzt, und die Infrastruktur kämpft darum, Schritt zu halten. Es wird geschätzt, dass Fahrer in Bangalore und Mumbai jedes Jahr zusätzliche 243 Stunden im Verkehr verbringen. Noch vor einigen Jahren gab es ein geschätztes Defizit von 19 Millionen Wohneinheiten. Und Metropolen wie Neu-Delhi gehören zu den am stärksten verschmutzten Städten, wobei die Feinstaubbelastung die Sicherheitsgrenzen der WHO oft um mehr als das Zwanzigfache übersteigt. Zusätzlich fordern die Auswirkungen der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung ihren Tribut. Extreme Wetterereignisse sind zur neuen Normalität geworden, einschliesslich Überschwemmungen sowie schweren Hitzewellen auf lebensbedrohlichem Niveau. Wasserknappheit hat dazu geführt, dass Trinkwasser mit der Bahn in die Städte transportiert werden muss. Und der Bedarf an Elektrizität übersteigt oft das Angebot, was zu langanhaltenden und regelmässigen Stromausfällen führt, die sowohl die industrielle Produktion als auch die Lebensqualität beeinträchtigen.
Nachhaltigkeit im ländlichen Indien
Der Boom hat völlig neue Nachhaltigkeitsprobleme für das ländliche Indien geschaffen. Zwei Jahrzehnte nach dem Boom sind die ersten Generationen der „Boomers“ nun die leitenden Technologieexperten in den mittleren und oberen Klassen Indiens. Ihre Kinder, die nun in den Arbeitsmarkt eintreten, sind hochgebildet (oft in Privatschulen), sind mit moderner Technologie aufgewachsen und sprechen in vielen Fällen fliessend Englisch. Tatsächlich unterscheidet sich die neue Generation nach dem Boom in einer Weise von ihren westlichen Altersgenossen, dass sie eine echte globale Affinität besitzt und die globale Geschäftskultur schätzen kann, da sie von Eltern aufgezogen wurde, die an internationalen Projekten arbeiteten oder sogar im Ausland lebten.
Dies ist zwar ein Vorteil für globale Unternehmen, die eine Präsenz in Asien suchen, hat jedoch enorme Herausforderungen für das ländliche Indien geschaffen. Die zunehmende digitale Kluft behindert die Fähigkeit der ländlichen Jugend, sich auf einen Arbeitsmarkt zu engagieren, der IT-Fähigkeiten und Englischkenntnisse priorisiert. Ländliche Pädagogen kämpfen mit knappen Ressourcen und verfügen oft nicht über die notwendige Ausbildung, um den Schülern diese gefragten Fähigkeiten zu vermitteln. Die hohe Fluktuationsrate unter Lehrern, die von besseren Aussichten in städtische Zentren gezogen werden, unterbricht die Bildungskontinuität und lässt ländliche Schüler unvorbereitet für eine digitalisierte globale Wirtschaft zurück.
Aber es gibt auch andere Nachhaltigkeitsherausforderungen nach dem Boom. Die Migration in städtische Zentren hat das soziale Gefüge der ländlichen Gemeinschaften belastet und demografische Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Alter hervorgebracht. Die Technologielücke wird immer grösser, da ländlichen Gemeinschaften der Zugang zu digitalen Werkzeugen und schnellem Internet fehlt. Und schliesslich fordern nicht nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken und industrielle Verschmutzung ihren Tribut.
Wie die BFH hilft
Die Berner Fachhochschule arbeitet seit fast einem Jahr mit dem Sharada Educational Trust zusammen, um einige dieser Probleme auf zwei Arten anzugehen. Ein innovatives und inspirierendes Programm ist unter dem Namen Marga Darshak bekannt, bei dem benachteiligte weibliche College-Studentinnen aus ländlichen Dörfern in ein globales Mentoring-Programm aufgenommen werden. Durch die Bereitstellung von Face-to-Face-Interaktionen über Videokonferenzen haben diese Studentinnen die Möglichkeit, mit globalen Experten zu interagieren und von ihnen zu lernen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten. Dies hilft ihnen nicht nur, globale Kommunikationsfähigkeiten und kulturelle Kompetenz zu entwickeln, sondern inspiriert – besonders weil es junge Frauen betrifft – enorm zur Motivation, nicht nur bei den Mentees selbst, sondern auch in ihren erweiterten Kreisen von Mitstudentinnen. Die Studentinnen werden auch mit der Kultur, Geschichte und dem Bildungssystem fremder Länder vertraut gemacht, indem Personen aus diesen Ländern einbezogen werden. Bisher umfasste dies die Schweiz, Russland, Australien, Schweden und die VAE.
In einem weiteren Projekt arbeitet ein Team von Informatikstudenten der BFH eng mit dem Sharada Educational Trust zusammen, um eine speziell für das ländliche Indien entwickelte Softwareanwendung für den Englischunterricht als Fremdsprache zu entwickeln. Hier gibt es technische Herausforderungen, wie den einfachen Zugang zu Lehrmaterialien, oft auf veralteten oder kostengünstigen Mobilgeräten; Benutzeroberflächen-Herausforderungen, wie die Benutzerfreundlichkeit für Personengruppen, die mit modernen Anwendungen nicht vertraut sind; und sogar Lernherausforderungen, bei denen das Englischlernen nicht nur auf die Schüler aus ländlichen staatlichen Schulen abzielt, sondern auch auf die Lehrer, von denen nicht alle eine hohe Englischkompetenz haben mögen.
Dies sind nur erste Schritte in einem wichtigen Bereich, der deutlich mehr Aufmerksamkeit und Engagement erfordert. Die Hoffnung besteht darin, mit jedem dieser Schritte anhaltenden Erfolg zu erzielen, sodass die kleinen Massnahmen hier nach und nach ausgebaut werden können. Wir hoffnen, sie können sie irgendeine kleine Weise als Inspiration für andere Einzelpersonen und Organisationen dienen, die sich an der Bekämpfung dieser Herausforderungen beteiligen möchten.
Mehr Informationen
- Der Sharada Trust ist Partner der BFH: https://sharadatrust.org/
- https://www.linkedin.com/posts/kenritley_comprehensive-report-on-the-sulabh-app-launch-activity-7199358117329911809-aeP2?utm_source=share&utm_medium=member_desktop
- Zusammenfassung der Abschlussarbeit «Learning Management System (LMS) for Rural India» von Studierenden im Bachelor Informatik, Tobias Erpen, Alayne Larissa Hiltmann, Lukas Vogelhttps://bfh.easydocmaker.ch/search/abstract/3973/
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