Wie sich digitale Beziehungen auf unsere psychische Gesundheit auswirken
Wir bloggen heute von der Fachtagung «Distanzlos distanziert» der Berner Fachhochschule Gesundheit und dem Freiburger Netzwerk für psychische Gesundheit. In Referaten und Workshops geht es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Alltag und unsere Beziehungen.
Die Tagung startet mit einem Referat von Prof. Dr. Georg Hasler, Chefarzt des Freiburger Netzwerks für psychische Gesundheit über Beziehungen – was sind Beziehungen, wie entstehen sie und wodurch sind sie gekennzeichnet? Er zeigt auf, dass die Beziehung zwischen den NutzerInnen und den grossen Konzernen wie Facebook, Google und Amazon ebenso hierarchisch ist, wie die Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. „Die natürliche menschliche Beziehung ist aber in ihrem Ursprung nicht-hierarchisch, Hierarchien sind erst später entstanden“, sagt Hasler. Die Menschen haben über tausende Jahre egalitär gelebt. Die Bindungsforschung belege, dass zwischenmenschliche Beziehungen gar nicht so stabil sind, wie wir oft denken, sondern viel flexibler, dynamischer und wandelbarer. „Wir können uns also leicht auf digitale Beziehungen einlassen“, sagt Hasler und zitiert die moderne Bindungstheorie: „Bindung ist ein fundamentales Bedürfnis und hat grössere Priorität als der Wunsch nach Selbstverwirklichung.“ Dieses Bedürfnis befriedigt sich durch einen regelmässigen Kontakt zu Personen, die sich gegenseitig umeinander sorgen und gemeinsame Erlebnisse haben. Die Inhalte in den sozialen Medien wie Instagram erzählen jedoch keine gemeinsamen Geschichten, in denen beispielsweise eine Krise überwunden wird. Selbstdarstellungen überwiegen. Generell kann sich das Bindungsbedürfnis erschöpfen. „Die Frage ist nun, können digitale Beziehungen das Bindungsbedürfnis auch stillen?“, fragt Hasler.
Die vergleichende Studie von Twenge et al (2017) zeigt, dass Jugendliche mit Smartphones:
- später und weniger Autofahren,
- später und weniger Sex haben,
- aber mehr Pornographie konsumieren
- sich weniger prügeln und betrinken,
- weniger sexuelle Gewalt verüben,
- mehr Wert auf Sicherheit legen,
- politisch Stellung nehmen,
- ihre Eltern weniger kritisieren
- mehr Ferien mit den Eltern verbringen
- haben weniger reale Freunde
- sind mehr auf sich bezogen,
- haben weniger Altruismus, Religiösität und
- starten späterer ins Berufsleben.
„Einiges davon sind Merkmale einer sozialen Phobie“, sagt Hasler. Auch gibt es Untersuchungen, dass eine steigende Bildschirmzeit depressive Symptome vergrössert – vor allem bei Frauen. Menschen, die sehr viel Zeit im Netz verbringen und dort virtuelle Beziehungen pflegen, erschöpfen ihr Bedürfnis nach Beziehungen, so dass sie kein Bedürfnis mehr nach realen Beziehungen haben. Dies fördere insbesondere bei Frauen Depressionen.
Andere Studien zeigen, dass besonders die Beziehungen, die in geografischer Nähe sind, viel wichtiger und entscheidender für die psychische Gesundheit sind als etwa sehr gute, aber weit entfernte Freunde. Ein Umzug müsste also sehr einscheidend sein. Dies trifft vor allem für Jugendliche zu: werden sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden, steigen Suizid- und Gewaltrisiko deutlich an. Die digitalen Beziehungen puffern den Umzug nicht ab. Auch gemeinsame Aktivitäten und Hobbies fördern enge Bindungen und die Resilienz sowie gemeinsam überwundene Krisen. „Digitale Bziehungen werden u.a. von Facebook durch Algorithmen lokalisiert“, sagt Hasler. Die Beziehungen können humanisiert werden, durch die Nutzung entsprechend dem individuellen Alltagsrhythmus, mehr Gesichten als Bilder zu konsumieren u.a.
In der Psychiatrie kann die digitale Vernetzung genutzt werden. Hasler und sein Team haben eine App zur Rückfallverhütung entwickelt, die Standorte, Schlaf, Umgebung, soziale Beziehungen und Konzentration via Tippfehler eines/einer PatientInnen trackt.
Macht die Digitalisierung das Gesundheitswesen effizienter?
Wird eine digitalisierte Gesundheitsversorgung wirtschaftlicher? Prof. Dr. Urs Brügger, Direktor des BFH-Departements Gesundheit über die aktuelle Gesunheitsökonomie. Brügger schildert die Digitalisierung des Gesundheitssektors von Elektronischem Patientendossier (EPD) bis Künstliche Intelligenz. Während das EPD in der Schweiz harzt, geht es mit KI rasant voran.
Eine Studie etwa untersuchte, wer besser diagnostizieren kann Ärztinnen oder Maschinen? Und kommt zu dem Schluss, dass Maschinen beispielsweise in der Radiologie dies bald besser können und ganz übernehmen könnten. „In der Diagnostik ist die Entwicklung rasant und mehr Ärztinnen werden durch Maschinen ersetzt“, sagt Brügger. Die Interpretation und Behandlung wird dann jedoch wieder vermehrt von Menschen übernommen. Auch in der Physiotherapie erfüllen vermehrt Roboter mechanische, wiederkehrende Tätigkeiten. „Das lieben natürlich die Spitalmanager, da Roboter effizienter und messbarer arbeiten als PhysiotherapeutInnen“, sagt Brügger.
In der somatischen Medizin gehören Maschinen also schon zum Alltag. Heikler ist die psychiatrische Medizin, in der es bisher zwar webbasiertes Coaching gibt. Dabei wird jedoch stets auf FachärztInnen verwiesen. „Da stellt sich manchmal schon die Frage, ob diese Tools nur Spielerei sind oder ein Medizinprodukt ist“, betont Brügger. Viele Gadgets würden die Anforderungen nach Art 32 des KVG kaum bis nicht erfüllen:
- Die Leistungen (…) müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein.
- Die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft.
Brügger plädiert daher dafür, die Risiken von Geräten und Apps zu identifizieren und zu prüfen. Nicht nur die Sicherheit und Wirksamkeit werden dabei angeschaut sondern auch die Kosten. Während die Herstellerfirmen natürlich Versprechen abgeben, braucht es doch eine gesunheitsökonomische Analyse, die Effekte und Kosten gegeneinader aufwiegen. Bei diesen Studien kommen auch ethische Aspekte ins Spiel. „Das Ziel ist jedoch nicht, dass wir billiger werden, sondern eine besssere Behandlung anbieten“, sagt Brügger.
Digitalisierung in der Psychotherapie
Onlinetherapie und Apps – Prof. Dr. Thomas Berger, Leiter der Klinischen Psychologie und Psychotherapie der Universität Bern stellt digitale Angebote innerhalb der Psychotherapie vor. In Australien gehören diese bereits zur Regelversorgung. Auch Schweden hat vorwärts gemacht mit der „Internetpsykatri“ – einer Onlinetherapieform. Besonders flächenmässig grosse Länder haben eine grössere Akzeptanz für Onlinetherapien, da die PatientInnen lange Wege zu TherapeutInnen haben. Aber auch in den Niederlanden kombinieren heute schon 70 % der psychiatrischen Kliniken Onlineangebote mit konservativen Therapien. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass etwa die Hälfte der psychisch Kranken eine herkömmliche Therapie finden. Mit den Tools für Onlinetherapien erreicht man mehr Menschen mit psychischen Problemen, als wenn man darauf wartet, dass sie in die Klinik oder in die Praxis kommen.
Onlinebasierte Therapien haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt. Es gibt Email-, Chat- und Videotherapie. Diese haben zwar den Vorteil, dass man Menschen erreicht, die weit weg sind. Aber können zeitlich viel aufwändiger sein. Zudem gibt es Selbsthilfeplattformen und -apps. Am meisten aber wird „angeleitete Selbsthilfe“ angeboten – wie eben Australien und Schweden, bei der im Hintergrund TherapeutInnen stehen und erreichtbar sind. Dabei werden praktische Übungen und Psychoedukation an die App delegiert und anschliessend Gespräche weiterhin von und mit Menschen geführt werden. Berger plädiert für diese „Mischbehandlungen“ (blended treatments) – diese könnten künftig wichtiger werden. Gleichzeitig werden Änderungen der Symptome protokolliert und auf lange Zeit beobachtet. Das ist für Berger zusammen mit einer regelmässigen Umfrage zu Symptomen und Zustand ein grosser Vorteil gegenüber der traditionellen Therapiesituation, die gewöhnlich keine Umfragen bei den PatientInnen macht.
Die bisherigen Tools ahmen die traditionelle Therapiesitzung nach: einmal pro Woche etc. Es gibt akademische Apps, die zwar evidenzbasiert sind, aber nicht zeitnah und attraktiv entwickelt werden. Dem gegenüber stehen kommerzielle Aps, die zwar attraktiv daher kommen, aber nicht wirksam sind. Dabei können App-Bewertungsprogramme wie MindTools.io helfen.
Die Forschung hat gezeigt, dass ungeleitete Selbsthilfeapps zwar viele Menschen erreichen, aber nicht besonders hohe Effekte erzielen. Im Präventionsbereich und in public health können sie sinnvoll sein. Es habe sich gezeigt, dass es wichtiger ist, wer das Produkt wie vermittelt als das Produkt selbst. Angeleitete Selbtshilfeapps etwa genauso effektiv sind wie eine Face-to-face-Therapie bei vielen psychischen Krankheiten, das zeigen zahlreiche Studien. Mischbehandlungen die bessere Wirkung haben als die herkömmliche Therapie. Aber womöglich nutzen dies eher technikaffine PatientInnen. Berger sieht die Zukunft in Mischbehandlungen. „Die Kombination von Apps oder Onlineangeboten mit einer Therapiebeziehung ergibt eine bessere Psychotherapie“, glaubt Berger.
Vom Unbehagen mit der Digitalisierung
Dem Unbehagen in der digitalen Zusammenarbeit widmet sich Prof. Dr. Reinhard Riedl, Leiter des BFH-Zentrums Digital Society. Von Unbehagen ist auf den ersten Blick in der IT nicht so viel zu sehen, da die heutigen Apps für jedermann nutzbar sind. Früher hingegen war die Nutzung von Computern oft unbequem.
Die Zukunft sieht Riedl in der engen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine als Tandem. Klingt auch noch nicht nach Unbehagen. „Wir werden in Zukunft nicht mehr gefangen sein in der Informatik, der Mensch und seine Werkzeuge werden zusammenkommen, um die Welt noch besser zu beherrschen“, sagt Riedl. Dennoch herrscht eine grosse Angst, dass die Technologien der dritten Ordnung, also solche, die miteinander kommunizieren können, die Herrschaft über uns übernehmen werden. „Das ist eine der realen Befürchtungen der modernen Philosophie“, so Riedl. Real ist demnach auch, dass Maschinen sehr weitreichende Funktionen und Berufe übernehmen werden. Jedoch könnten im Wettbewerb von Mensch und Maschine nur beide gemeinsam gewinnen können. Der Kontext, in dem eine Maschine vorherrscht, muss begrenzt werden. Beispiel: Maschinen können inzwischen zwar teilweise besser radiologisch diagnostizieren, doch nur in der Kombination mit dem Menscen stimmen die Diagnosen wirklich.
Momentan wird unser Online-Erlebnis durch die personalisierten Filterblasen bestimmt. Die Optimierung wird aber abgelöst werden durch voraussagende Kognitionswerkzeuge, die sich mit dem menschlichen Denken synchronisiert. Die Filterblasen werden uns weniger einschränken und weniger wahrnehmbar sein.
Dass Maschinen die Herrschaft übernehmen, glaubt Riedl hingegen nicht, dies sei eine zeitlich „sehr ferne Vorstellung“. Die Berufe werden sich verändern ja, aber die Technologien werden unsere Wahrnehmungen vergrössern. Die klassische Digitalisierungsthese in der Wirtschaft derzeit lautet: Es wird mehr Vielfalt aber auch mehr Ungleichheit geben, sagt Riedl. Die Arbeitsmärkte inkluse Stellensuche werden sich stark verändern. Prognosen gehen davon aus, dass Menschen weniger bei KMU angestellt sein werden, sondern flexibel bei Grossunternehmen. Damit gehe Stabilität verloren udn fordere von den ArbeitnehmerInnen ein hohes Mass an Selbstoptimierung und lebenslanges Lernen.
Durch die Digitalisierung wird eine neue gesellschaftliche Ordnung entstehen, ist sich Riedl sicher. Diese wird auf den Grundsätzen von Open Data und Traded private Data beruhen. Die Auswirkungen sind:
- Wir vernetzen uns stärker,
- sind transparenter,
- fokussieren uns stärker auf das Hier & Jetzt,
- es gibt weniger Raum für Individuen abseits des Mainstreams und
- alles, was wir tun, wird bewertet werden, wie es schon heute mit der Bürgerüberwachung in China Realität ist.
Gleichzeitig verlieren wir:
- Selbstverständlichkeiten,
- Gemeinsamkeiten und
- auch Abgrenzungen.
Für Riedl ist die Digitalisierung deshalb so erfolgreich, weil sie wenig Freiräume ermöglicht und anti-disruptiv wirkt. Kreativität und Zufall sind bei der Nutzung von Algorithmen und Datennutzung nahezu ausgeschlossen. „Wenn man immer unter idealen Bedingungen lebt, gibt es ja kaum noch Reibungspunkte“, so Riedl. „Stattdessen wird unser künftiges Leben davon bestimmt, dass wir einen permanenten Auftritt hinlegen müssen.“ Jede aktive Verweigerung werde in diesem System unmöglich sein, da wir immer unter Beobachtung stehen. Die digitale Zusammenarbeit werde immer effizienter, aber werde die Menschen immer mehr reinnehmen. Man könne heute nicht mehr sagen, was in drei Jahren sein wird.
Damit endet die Tagung. Die nächste «Distanzlos distanziert» findet im Februar 2021 statt.
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