Wie klinische Routinedaten bei Qualitätsmessungen im Spital helfen

Die voranschreitende Digitalisierung in den Spitälern führt dazu, dass klinische Daten vermehrt elektronisch im Klinikinformationssystem verfügbar sind. Diese Daten wurden bisher für interne Qualitätsmessungen verwendet, jedoch kaum für einen externen Vergleich mit anderen Spitälern. Das Potential für Letzteres wurde im Rahmen des «Vis(q)ual Data» Projektes untersucht.

In der Schweiz sind die Leistungserbringer*innen im Gesundheitswesen verpflichtet, die Qualität der Versorgung zu sichern und zu verbessern. Hierzu finden unter anderem nationale Qualitätsmessungen gemäss dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) statt [1, 2]. Bisher basiert die Datengrundlage von Qualitätsmessungen auf zwei Datenquellen, den primären klinischen und den administrativen Daten [3]. Beide Datenquellen haben ihre Vor- und Nachteile.

  • Administrative Daten haben den Vorteil, dass sie standardisiert und mit wenig Aufwand zur Verfügung stehen. Dazu zählen Abrechnungsdaten oder Daten, die dem Bundesamt für Statistik übermittelt werden müssen. Nachteile sind, dass die Daten für gewisse Themen wenig differenziert verfügbar sind und wichtige Variablen für die Risikoadjustierung (siehe Erklärung in der Box) fehlen [4].
  • Primäre klinische Daten werden spezifisch zum Zweck von Qualitätsmessungen erhoben, bspw. durch direkte Beobachtung am Patient*innenbett. Diese Daten sind somit sehr differenziert und es können alle erforderlichen Risikoadjustierungsvariablen erfasst werden. Der Nachteil dieser Daten ist, dass die Datensammlung mit einem hohen Personalaufwand verbunden ist [4].

Durch die zunehmende Digitalisierung in den Spitälern sind vermehrt auch klinische Daten elektronisch im Klinikinformationssystem (KIS) verfügbar [5]. Diese klinischen Routinedaten wurden bisher für das interne Benchmarking (z.B. Vergleich von Abteilungen) und zu internen Qualitätsverbesserungszwecken (z.B. vor und nach Einführung einer neuen Richtlinie) verwendet. Für das externe Benchmarking, also den Vergleich von Spitälern (z.B. im Rahmen einer nationalen Qualitätsmessung), finden klinische Routinedaten bisher kaum Anwendung. In der Schweiz gibt es unseres Wissens keine nationale Qualitätsmessung, die auf klinischen Routinedaten beruht. Selbst in den USA basieren gemäss dem Messportfolio des nationalen Qualitätsforums nur 2 der 76 erhobenen Daten für Qualitätsmessungen im Spital auf klinischen Routinedaten [6]. Somit scheint grundsätzlich die Machbarkeit gegeben, klinische Routinedaten für externe Vergleiche verwenden zu können, jedoch dürfte das Potential kaum ausgeschöpft sein. Deshalb haben wir im Rahmen des untersucht, ob in der Schweiz klinische Routinedaten für nationale Qualitätsmessungen nutzbar gemacht werden können.

Das «Visual (Quality) Data» Projekt

Um die Machbarkeit in der Schweiz zu untersuchen, wurde die als Referenzmessung verwendet. Die nationale Prävalenzmessung Sturz und Dekubitus ist eine nationale Qualitätsmessung, an der in der Schweiz alle Spitäler teilnehmen müssen, die dem beigetreten sind. Bei dieser Messung sammeln Pflegefachpersonen an einem Tag im Jahr definierte Daten bei allen stationären Patient*innen mit Befragung zu Sturz, respektive einer Hautinspektion, um einen Dekubitus identifizieren zu können. Diese Daten, die direkt am Patient*innenbett gesammelt werden, könnten zudem durch Daten aus dem KIS ergänzt werden (z.B. Alter, Diagnosen), wenn nicht direkt bei der Patientin / beim Patienten erfasst. Seitens Spitäler wird der hohe Personalaufwand für diese Datensammlung kritisiert, weil gemäss ihren Aussagen alle erforderlichen Daten bereits elektronisch im KIS vorhanden sind und genutzt werden könnten [5].

Mit drei Deutschschweizer Spitälern haben wir basierend auf dieser Ausgangslage eruiert, ob und wie die erforderlichen klinischen Routinedaten im jeweiligen KIS zur Verfügung stehen [6]. Als klinische Routinedaten wurden ärztliche, pflegerische und andere klinische Aufzeichnungen definiert, welche Informationen über den Gesundheitszustand der Patient*innen oder Ergebnisse von (pflegerischen) Assessments enthalten. Konkret wurde im «Vis(q)ual Data» Projekt versucht, die Prävalenzmessung mittels klinischen Routinedaten zu replizieren. Die Ergebnisse des «Vis(q)ual Data» Projekts waren:

  • 20 der 21 erforderlichen Variablen für die Prävalenzmessung konnten von allen Spitälern exportiert werden. Die einzige Variable, welche nicht exportiert werden konnte, war die Pflegeabhängigkeit [7]. Bei diversen Variablen zeigte sich jedoch, dass diese teilweise unterschiedlich operationalisiert waren. Unter anderem klinische Daten wie die Einschätzung des Dekubitus- oder Sturzrisikos wurden von den Spitälern unterschiedlich operationalisiert.
  • 18 der 20 Variablen zeigten vergleichbare deskriptive Ergebnisse wie in der Berichterstattung der nationalen Prävalenzmessung.
  • 6 der 6 relevanten und verfügbaren Variablen für die Risikoadjustierung «zeigten in die gleiche Richtung». Das heisst, die Variablen waren unter der Verwendung der klinischen Routinedaten ähnlich mit dem Outcome korreliert wie in der Berichterstattung der nationalen Prävalenzmessung.
  • 5 bis 1 Arbeitstag dauerte aus technischer Sicht ein Datenauszug gemäss vordefiniertem Datenmodell.

Schlussfolgerungen und visionärer Ausblick

Die Resultate aus dem «Vis(q)ual Data» Projekt zeigen ein insgesamt erfreuliches Bild. Die erforderlichen Daten sind mehrheitlich im Klinikinformationssystem verfügbar, die technische Machbarkeit für deren Export ist gegeben und die Hinweise hinsichtlich Datenqualität sind positiv, als dass die deskriptiven Ergebnisse wie auch das Risikoadjustierungsmodell ähnlich der Berichterstattung der Prävalenzmessung ausfielen. Dennoch zeichnen sich einige Herausforderungen ab, die es zu adressieren gilt, bevor klinische Routinedaten die klinische Messung am Patient*innenbett ablösen können. Diese sind vor allem im Bereich der Operationalisierung zu finden. Um ein faires externes Benchmarking betreiben zu können, muss die Datengrundlage vergleichbar sein. Für das Outcome muss sichergestellt werden, dass dieses in allen Spitälern gleich erfasst wird. Für die Risikoadjustierung und die damit verwendeten Variablen gilt es, entweder weiter zu explorieren, ob und wie sich die unterschiedliche Operationalisierung auf die Ergebnisse (z.B. ob ein/e Patient*in als dekubitusgefährdet eingeschätzt wird oder nicht) auswirkt, oder ebenfalls einen einheitlichen Standard zu definieren. Hinzu kommt, dass die Pflegeabhängigkeit, welche in der Prävalenzmessung eine wichtige Risikoadjustierungsvariable darstellt, leider nicht eingeschlossen werden konnte [7]. Es muss somit geprüft werden, ob die Pflegeabhängigkeit mittels Proxy-Variable abgebildet werden kann (z.B. eine Kombination aus Diagnosen, Medikation und Pflegestunden).

Die aus der Deutschschweiz stammenden Erkenntnisse werden aktuell anhand eines Nachfolgeprojekts mit weiteren Spitälern aus der Westschweiz und dem Tessin validiert, um anschliessende Empfehlungen zur Nutzung von klinischen Routinedaten für nationalen Qualitätsmessungen in der Schweiz formulieren zu können. Sollte es gelingen, klinische Routinedaten nutzbar zu machen, könnte zukünftig das Messportfolio der Schweiz mit wenig Personalaufwand in den Spitälern auf weitere Qualitätsindikatoren ausgeweitet werden, bis hin zu Längsschnitterhebungen oder gar einem Live Monitoring [8].


Über Risikoadjustierung

Der Patient*innenmix in Spitälern kann (aufgrund des Leistungsauftrages) stark variieren. Es kann somit sein, dass ein Spital viele Patient*innen mit einem erhöhten Sturzrisiko behandelt, während ein anders mehrheitlich wenig gefährdete Patient*innen versorgt. Diesem Umstand muss Rechnung getragen werden, wenn die Sturzrate von Spitälern miteinander verglichen werden. Dazu werden sogenannte Risikoadjustierungen vorgenommen. Das sind statistische Verfahren, bei denen die Ergebnisse eines Spitals auf das Risiko der versorgten Patient*innengruppe bereinigt wird. Entsprechend muss die Datengrundlage nebst dem Ergebnis (Sturz ja/nein) auch die Risikofaktoren (Alter, Pflegeabhängigkeit, Sturzrisikoeinschätzung etc.) abbilden [4].


Literaturverzeichnis

  1. Bundesamt für Gesundheit [BAG]. (2019). Evaluation der KVG-Revision im Bereich der Spitalfinanzierung – Schlussbericht des BAG an den Bundesrat. Bern: Bundesamt für Gesundheit.
  2. Vincent, C. & Staines, A. (2019). Enhancing the Quality and Safety of Swiss Healthcare. Bern: Federal Office of Public Health.
  3. Busse, R., Klazinga, N., Panteli, D. & Quentin, W. (2019). Improving healthcare quality in Europe: Characteristics, effectiveness and implementation of different strategies. World Health Organization and OECD. Abgerufen von: https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1248308/retrieve
  4. Bernet, N., Everink, I., Schols, J., Halfens, R., Richter & D., Hahn, S. (2022). Hospital performance comparison of inpatient fall rates; the impact of risk adjusting for patient-related factors: a multicentre cross-sectional survey. BMC Health Services Research. https://doi.org/10.1186/s12913-022-07638-7.
  5. Bernet, N., Thomann, S., Kurpicz-Briki, M., Roos, L., Everink, I. H., Schols, J. M. & Hahn, S. (2022). Potential of Electronic Medical Record Data for National Quality Measurement. In Healthcare of the Future 2022 (pp. 51-56). IOS Press. https://doi.org/10.3233/SHTI220320
  6. National Quality Forum. National Quality Forum: Find Measures. Abgerufen von: https://www.qualityforum.org/Qps/QpsTool.aspx.
  7. Dassen, T., Balzer, K., Bansemir, G., Kühne, P., Saborowski, R. & Dijkstra, A. (2001). Die Pflegeabhängigkeitsskala, eine methodologische Studie. Pflege, 14(2), 123-127.
  8. Swiss Personalized Health Network. About SPHN. Abgerufen von: https://sphn.ch/organization/about-sphn/.
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AUTHOR: Leonie Roos

Leonie Roos ist diplomierte Pflegefachfrau MScN und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Innovationsfeld Qualität im Gesundheitswesen am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule.

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