Wie die Spitex rundum digital wird – ein Pilotprojekt von Spitex und BFH

Die Spitex Bern hat gemeinsam mit der Berner Fachhochschule (BFH) ein Pilotprojekt lanciert: Während vier Jahren macht die Spitex-Organisation eine umfassende, wissenschaftlich eng begleitete digitale Transformation durch.

Schweizer Unternehmen müssen sich dem Megatrend Digitalisierung anpassen, um wettbewerbs- und zukunftsfähig zu bleiben. Zu diesem Schluss kam vor fünf Jahren eine Studie von Deloitte ¹. 2018 legte der Verwaltungsrat der Spitex Bern die Digitalisierung als zentrales strategisches Ziel fest, und das Projekt «Digitale Transformation ² der Spitex Bern» nahm seinen Anfang. «Dadurch wollen wir eine noch attraktivere Arbeitgeberin werden, im Raum Bern Marktleaderin bleiben – und unsere Prozesse noch effizienter gestalten, was in Zeiten von Spardruck und Fachkräftemangel besonders wichtig ist. Und wir wollen unseren 1400 Klientinnen und Klienten mehr Transparenz und eine noch bessere Versorgungsqualität bieten», erklärt Judith Liechti, Leiterin Service und stellvertretende Geschäftsführerin. Seit 2019 ist sie Gesamtprojektleiterin der Digitalisierungsstrategie der Spitex Bern mit ihren 400 Mitarbeitenden. Damals suchte das Projektteam nach einer wissenschaftlichen Begleitung des Projekts – und fand Prof. Dr. Friederike J.S. Thilo, erfahrene Pflegefachfrau, promovierte Pflegewissenschaftlerin und Leiterin des Innovationsfelds «Digitale Gesundheit» der Berner Fachhochschule (BFH).

Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld «Digitale Gesundheit»an der BFH Gesundheit leitet das Projekt  der Spitex zusammen mit Prof. dr. Reinhard Riedl.

Judith Liechti ist stellvertretende Geschäftsführerin der Spitex Bern und leitet zudem den Bereich Service.

Unter der Leitung von Friederike Thilo, in Kooperation mit Prof. Dr. Reinhard Riedl vom Departement Wirtschaft, kümmert sich die BFH im Rahmen des Projekts «TALE» nicht nur um die Begleitevaluation der digitalen Transformation, sie gestaltet diese auch aktiv mit. «Wir verstehen Datum und Uhrzeit ändern unsere Arbeit als Coaching und Monitoring. Und wir ergänzen das grosse pflegerische Wissen der Spitex Bern mit unserem Wissen aus Gesundheitsforschung, Wissenschaft, Wirtschaft und anderen digitalen Transformationen», sagt Friederike Thilo. Als Erstes führten die Forschenden 2019 und 2020 eine Ist-Zustand-Analyse der Digitalisierung und Technologisierung der Spitex Bern durch. Auf Basis der einjährigen Studie, die über Forschungsgelder finanziert werden konnte, wurde die Digitalisierungsstrategie der Spitex Bern entwickelt – und im Herbst 2021 konnte das vierjährige Pilotprojekt starten.

Unternommene Digitalisierungs-Schritte

Bis anhin hat die Spitex Bern folgende zentrale Teilprojekte realisiert:

  • Nur digitale Daten: Sämtliche Klientendaten sind digitalisiert, wobei laut Judith Liechti die Sicherheit der sensiblen Daten im Zentrum steht. Auch Dokumente wie Leitfäden sind digital vorhanden, zum Beispiel durch eine Hygiene-App auf allen Arbeits-Tablets.
  • Kundenportal: Herzstück der digitalen Transformation ist ein neues digitales Kundenportal, in das sich Klientinnen und Klienten oder auch Angehörige über die App OXOA einloggen können. «Dann sehen sie zum Beispiel, wann sie von welchen Spitex-Mitarbeitenden besucht werden», erklärt Judith Liechti. Dies ermögliche allen Nutzenden eine einfache Übersicht über die Arbeit der Spitex Bern – jederzeit und überall. Die App wird ab Januar 2023 getestet und kann ab dem zweiten Quartal 2023 von anderen Organisationen der Nonprofit-Spitex genutzt werden. «Alle neuen digitalen Angebote sind ein Zusatz für die Klientinnen und Klienten, kein Zwang», stellt Friederike Thilo klar. Zum Beispiel wird ab Januar 2023 auch die Kommunikation über OXOA möglich sein (vgl. Infokasten) – was aber nicht bedeutet, dass «alte» Kommunikationskanäle wie das Telefon nicht mehr genutzt werden dürfen.
  • Personalprozess: Ab Februar 2023 wird der gesamte Personalprozess – von der Bewerbung bis zum Abschluss des Arbeitsverhältnisses – digital stattfinden. Bereits Ende 2022 wird allen Mitarbeitenden die Software Abacus zur Verfügung stehen, mit der sie zum Beispiel ihre Lohnauszahlungen über eine App einsehen können. Zudem wird derzeit eine Online-Lösung eingeführt, über die sich alle Mitarbeitenden für Weiterbildungen anmelden können.
  • Lagerbewirtschaftung: Die Spitex Bern hat an zwei Standorten ein Pilotprojekt mit digitalen Waagen in den Materiallagern gestartet. Die Waagen erkennen, wenn ein Produkt zur Neige geht. Dann informieren sie je nach Produktkategorie eine zuständige Person oder lösen einen automatischen Bestellprozess aus. QR-Codes auf den Produkten erleichtern die Lagerbewirtschaftung zusätzlich. «Durch die Digitalisierung kann diese Bewirtschaftung gewissermassen mit einem Klick erledigt werden, wodurch wir kostbare personelle Ressourcen sparen», sagt Judith Liechti.
  • Landingpage und Website: Anfang November 2022 lancierte die Spitex Bern eine Rekrutierungskampagne. «Bietet eine Spitex-Organisation umfassende digitale Arbeitsmittel, muss sie dies auch gegen aussen kommunizieren», sagt Friederike Thilo. «Und eine Organisation kann sich nicht für ihre Digitalisierung rühmen und veraltete Online-Auftritte präsentieren», ergänzt Judith Liechti. Für die Kampagne wurde darum eine neue Landingpage erstellt, eine neue Website folgt im Frühling 2023.
  • 24/7-IT-Support: Der IT-Support der Spitex Bern ist rund um die Uhr verfügbar, auch am Wochenende. In Zukunft will die Spitex Bern diesen Support gemeinsam mit anderen Spitex-Organisationen anbieten, um Synergien zu nutzen. Diesbezügliche Gespräche sind im Gang.
  • Integrierte Versorgung: Um das Übertrittsmanagement zu verbessern, hat die Spitex Bern in der Vergangenheit OPAN Spitex mitentwickelt. Nun soll OXOA die interprofessionelle Zusammenarbeit weiter verbessern, indem künftig auch andere Leistungserbringer das Portal nutzen können – sofern der Klient oder die Klientin das Einverständnis dazu erteilt. Die Spitex Bern führt hierfür erste Gespräche mit Partner-Organisationen. Zudem wird sie 2023 mit der Spitex Basel und den Krankenkassen Sympany und Helsana an einem Pilotprojekt zur Umsetzung von SHIP («Swiss Health Information Processing») mitwirken. SHIP soll für einen einfachen digitalen Austausch von Bedarfsmeldungen sorgen, insbesondere zwischen der Pflege und den Krankenkassen.
  • Datennutzung und -analyse: Die BFH will laut Friederike Thilo erreichen, «dass die Spitex Bern ihre täglich erfassten Daten Schritt für Schritt besser auswertet und besser nutzt, unter anderem für strategische Entscheide und die Optimierung des Pflegeprozesses». Dadurch wisse die Spitex Bern zum Beispiel, wer ihre Klientinnen und Klienten genau sind – und welche Qualifikationen die Spitex-Mitarbeitenden folglich brauchen, um die optimale Versorgung aller Klientengruppen sicherzustellen. ³

Weitere Teilprojekte sind bereits angedacht. So dürfte man laut Friederike Thilo circa im dritten Projektjahr so weit sein, «Tele-Care» einzuführen: Pflege und Betreuung, welche dank digitalen Hilfsmitteln wie Sensoren aus der Distanz erfolgen kann (vgl. Bericht dazu im «Spitex Magazin» 6/2022; S. 30).

Die Zutaten zum Erfolgsrezept

Damit eine digitale Transformation gelingt, sind laut der Spitex Bern folgende Aspekte zu beachten:

  • Partizipation: Nicht nur Verwaltungsrat und Geschäftsleitung müssten hinter einer digitalen Strategie stehen, sagt Judith Liechti: «Wenn die Belegschaft nicht mitzieht, gelingt die Transformation nicht.» Laut der Deloitte-Studie braucht es allenfalls einen betrieblichen Kulturwandel, damit die Mitarbeitenden in Bezug auf die Digitalisierung eine «leidenschaftliche Pionierkultur» entwickeln. «Einen grossen Pioniergeist beweisen unsere Mitarbeitenden seit Jahrzehnten», versichert Judith Liechti. Dennoch werde es immer eine Herausforderung bleiben, alle Mitarbeitenden für digitale Neuerungen zu begeistern.
  • Interne Kommunikation: Um diese Herausforderung zu meistern, muss das Projektteam laut Friederike Thilo «den Diskurs über den Nutzen eines Tools aufrechterhalten.» Gezielte interne Kommunikation sei demnach das A und O. Die Projektgruppe kommuniziert zum Beispiel über das Intranet, einen Newsletter und persönlich in Teamsitzungen. Auch die rund 50 Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen des Projekts setzen sich für die Neuerungen ein.
  • Reflektiertes Vorgehen: Weiter müssten die eingeführten Tools den Bedürfnissen und dem Bedarf der Mitarbeitenden entsprechen. Um Praxisnähe zu garantieren, wertet die BFH Daten aus dem Pflegeprozess sowie Mitarbeiterumfragen aus. «Wir wollen also erst das Problem in der Praxis genau verstehen und erst dann eine digitale Lösung suchen», sagt Friederike Thilo.
  • Begleitung der Mitarbeitenden: «Allen Mitarbeitenden müssen die Zeit und die Unterstützung gegeben werden, welche sie bis zum Beherrschen eines neuen Tools benötigen», betont Judith Liechti. Zudem müssten Schulungen praxisnah sein. «Darum haben zum Beispiel all unsere IT-Ansprechpersonen einen pflegerischen Hintergrund.»
  • Kleine Schritte und «Quickwins»: Es sei zentral, dass in der Digitalisierung agil vorgegangen wird und dass dabei kleine Schritte gemacht werden, sagt Friederike Thilo. Denn dies ermögliche «Quickwins», also schnelle Erfolge, welche das Vertrauen der Mitarbeitenden und Finanzierer in das Gesamtprojekt stärken. Erfolge sollen zudem im Team gefeiert werden.
  • Positive Fehlerkultur: Gemäss der Deloitte-Studie kann das digitale Experimentieren und Scheitern ein Unternehmen vorwärtsbringen – solange es aus Fehlern lernt. «Wir fördern eine offene Fehlerkultur, in der nicht nach Schuldigen, sondern nach Erkenntnissen aus Fehlern gesucht wird», bestätigt Friederike Thilo.
  • Laufende Evaluation: Die BFH sorgt dafür, dass gezielt Schritte der digitalen Transformation nach wissenschaftlichen Kriterien überprüft werden. Dafür werden laufend Rückmeldungen aus den Teams gesammelt, die BFH führt aber auch regelmässig systematische Evaluationen durch.
  • Datenschutz: Digitale Neuerungen unterliegen strengen Datenschutz-Richtlinien (vgl. «Spitex Magazin» 4/2022). «Das ist bei uns der Fall. Zum Beispiel haben wir von einem Datenschutz-Experten von vorn bis hinten abklären lassen, dass die Daten auf unserem Kundenportal sicher sind», versichert Judith Liechti.

Der Nutzen der Digitalisierung

Die Klientinnen und Klienten der Spitex Bern profitierten von allen Teilprojekten direkt oder indirekt, sagen die Verantwortlichen. «Zum Beispiel unterstützen und entlasten die digitalen Hilfsmittel unsere Mitarbeitenden. Dadurch können sie sich wieder vermehrt auf ihre Kernkompetenz konzentrieren: die Pflege und Betreuung ihrer Klientinnen und Klienten», erklärt Judith Liechti. Auch ist man einig mit den zahlreichen Expertinnen und Experten, welche auf die erhebliche Kostendämpfung einer gelungenen Digitalisierung verweisen. «Rechnen wir zum Beispiel aus, wie viele administrative Arbeitsstunden wir durch die Digitalisierung einsparen, lohnt sich unsere Investition mit Sicherheit», sagt Judith Liechti. Ein weiterer gewichtiger Nutzen der digitalen Transformation ist die Verbesserung der integrierten Versorgung: Wenn künftig auch Leistungserbringer wie Apotheken, die Pro Senectute oder Hausarztpraxen über OXOA kommunizieren und Daten austauschen, verbessere dies die interprofessionelle Zusammenarbeit erheblich und führe zu mehr Patientensicherheit. Sollte sich das elektronische Patientendossier (EPD) eines Tages etablieren, soll OXOA auch mit diesem kompatibel sein. Was der Digitalisierung der integrierten Versorgung aber oft im Weg stehe, sei die mangelnde Interoperabilität der verschiedenen Systeme im Gesundheitswesen, sagt Friederike Thilo. «Wir brauchen den Willen aller involvierten Akteure, dass die Systeme künftig sinnvoll und effizient miteinander kommunizieren.».

Die Spitex Bern selbst braucht laut den beiden Fachfrauen schliesslich vor allem etwas, damit die digitale Transformation weiter erfolgreich voranschreitet: Agilität. «In der sich schnell verändernden digitalen Welt muss eine Spitex-Organisation jederzeit bereit sein, Bisheriges loszulassen und sich an aktuelle Entwicklungen anzupassen», sagt Judith Liechti. «Ansonsten hat sie keine Zukunft.»


Das Kundenportal der Spitex Bern

Die Spitex Bern entwickelte im laufenden Jahr ein Konzept für ein digitales Kundenportal. Im August 2022 entschied sich der Verwaltungsrat für die OXOA Mobile App als zugehörige Web-Applikation. OXOA ist ein Produkt der AvanzaTec GmbH, die von Entwicklern der root-service AG gegründet wurde. Von Letzterer bezieht die Spitex Bern die Software Perigon. Laut AvanzaTec erlaubt die App aber auch eine Nutzung ohne Perigon. «Über OXOA können Klientinnen und Klienten oder auch Angehörige die kommenden Spitex-Einsätze und die zuständigen Mitarbeitenden einsehen, auf Wunsch auch den Verlaufsbericht und die einzunehmenden Medikamente», erklärt Projektleiterin Gabi Kundert. Das Portal erlaube auch den Zugriff auf mehrere Kundenprofile durch ein Log-in. Zudem könne die Spitex Informationen darüber verbreiten, und Anfang 2023 werde die Kommunikation über die App möglich sein, etwa das Verschieben oder Absagen von Spitex-Einsätzen. In Zukunft soll OXOA auch die Vitaldaten der Klientinnen und Klienten anzeigen, Dokumente enthalten und als Hilfsmittel für Telemedizin sowie als interprofessionelles Kommunikations- und Informationsportal dienen. Dies, indem es von weiteren Akteuren der Gesundheitsversorgung mitgenutzt wird. Die Datenhoheit der Klientinnen und Klienten und ein hohes Mass an Datenschutz seien dabei garantiert.

OXOA wird bald in einem Pilotprojekt getestet und optimiert. Im 2. Quartal 2023 werde das Portal in den Regelbetrieb überführt und stehe anderen Organisationen der Nonprofit-Spitex für einen attraktiven Preis zur Verfügung. «Jede Spitex-Organisation entscheidet dabei selbst, welche Funktionen des Portals sie freischaltet», sagt Gabi Kundert. Judith Liechti, Gesamtprojektleiterin der Digitalstrategie der Spitex Bern, gibt interessierten Spitex-Organisationen gerne genauere Auskünfte: judith.liechti@spitex-bern.ch


Referenzen

  1. Die Studie des Schweizer Prüfungs- und Beratungsunternehmens Deloitte «Digitale Zukunftsfähigkeit. Wie wappnen sich Unternehmen für die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung» wurde 2016 und 2017 mit 50 Unternehmen durchgeführt.
  2. Die Berner Fachhochschule (BFH) definiert «Digitale Transformation» in Anlehnung an Cheng Gong and Vincent Ribiere 2020 als «grundlegenden Veränderungsprozess, der durch digitale Technologien ermöglicht wird und darauf abzielt, radikale Verbesserungen und Innovationen für eine Einheit zu schaffen, um durch die strategische Nutzung ihrer wichtigsten Ressourcen und Fähigkeiten Werte für ihre Interessensgruppen zu schaffen».
  3. Dem Thema «Daten und Datennutzung bei der Spitex» wird sich das «Spitex Magazin» 5/2023 genauer widmen.

Dieser Artikel ist zuerst in der Dezember-Ausgabe des Spitex-Magazins erschienen: Spitex-Magazin 6/2022

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AUTHOR: Kathrin Morf

Kathrin Morf hat an der Universität Zürich unter anderem Publizistik studiert und war danach zum Beispiel als Privatdozentin an derselben Universität sowie als Journalistin für die Zürcher Regionalzeitungen (ZRZ) tätig, zuletzt als stellvertretende Redaktionsleiterin. Seit 2018 ist sie Redaktionsleiterin des «Spitex Magazins», des Fachmagazins des nationalen Dachverbandes Spitex Schweiz.

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