Diversität und präzise Unschärfe

Kolumne_Banner

Aus vordigitaler Zeit wissen wir: Transformationsprozesse sollten als Programme aufgesetzt werden, die aus kleinen fokussierten Projekten bestehen. Dabei gibt das Programm die strategische Richtung vor, welche die Projekte taktisch umsetzen. Die Gestaltung des Transformationsprogramms und die Gestaltung der Umsetzungsprojekte stellen sehr unterschiedliche Herausforderungen dar, die unterschiedliche Herangehensweisen erfordern.

Bei der Gestaltung des Programms ist es wichtig, mit den unterschiedlichen Sichtweisen der Betroffenen bewusst umzugehen. Denn selbst in sogenannten Win-Win-Win Situationen, bei denen es (fast) nur Gewinner gibt, unterscheiden sich die Interpretationen des Veränderungsprogramms meist stark. Eine umfassende Vereinheitlichung geht nur mit diktatorischen Mitteln, welche die Unterstützung für das Programm untergraben.

Beim Design der Umsetzungsprojekte geht es dagegen darum, von Haus aus möglichst wenige unterschiedliche Stakeholdergruppen zu involvieren. Denn in Umsetzungsprojekten ist es wichtig, dass alle die Ziele uneingeschränkt teilen. Zieldiskussionen sind vor allem deshalb schädlich, weil sie die Bereitschaft für die notwendige Methodendiskussion reduzieren. Gerade bei der digitalen Transformation braucht es aber oft einen bunten Strauss verschiedener Methoden, um erfolgreich zu sein. Wer über Ziele diskutiert wird methodisch einfältig und bringt die Transformation deshalb nicht vorwärts. Dadurch, dass man auf kleine fokussierte Projekte setzt, schafft man die Voraussetzungen dafür, dass tatsächliche alle Involvierten am gleichen Strang in die gleiche Richtung ziehen und dabei genügend Energie besitzen, um in einer internen konstruktiven Diskussion den Methodenmix gut auszuwählen. Wobei dafür gerade beim Kernteam die Diversität in Bezug auf die persönlichen Erfahrungen besonders hoch sein sollte.

Diversität im Konzept

Wir haben also bei Transformationsprozessen mit ganz unterschiedlichen Ebenen zu tun, der Programmgestaltung und dem Projektdesign. Man könnte es so formulieren: In beiden geht es Diversität, aber sie tritt gänzlich verschieden auf. Die Diversität der Programme ist unfreiwillig, lässt keine konsequente Vereinheitlichung zu und stellt die eigentliche Herausforderung dar, die Diversität der Projekte ist bewusst gewählt unter der Randbedingung völliger Übereinstimmung in Bezug auf das Ziel und erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit: sie stellt sicher, dass man für unerwartete Schwierigkeiten gut gerüstet ist.

Wie aber geht man mit der Vielfalt der Sichtweisen unterschiedlicher Betroffenengruppen in der Programmgestaltung um? Dafür gibt es den aus dem kakanischen Wortschatz stammenden Ansatz der «präzisen Unschärfe». Die Idee der präzisen Unschärfe ist es, mit abstrakten Konzepten zu arbeiten, die bewusst nicht exakt definiert werden, aber trotzdem sehr sorgfältig, eben präzise, verwendet werden. Sie dienen der Zielvorgabe. Mit ihrer präzisen unscharfen Formulierung ist es möglich, eine gemeinsame Orientierung unterschiedlicher Stakeholdergruppen in die gleiche Richtung zu erreichen, ohne dass die Konflikte aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen ausgetragen werden.

Von Präzision und Intrigen

Mathematische Präzision bei der Festlegung der Zielkonzepte blockiert den Transformationsprozesse ebenso wie schludrig ausgedachte Konzepte. Beides – in einer frühen Phase genaue Definitionen, in einer späteren Phase flexible Interpretationen – wird deshalb besonders von jenen eingefordert, welche den Erfolg des Transformationsprogramms verhindern wollen.

Wer hat es nicht erlebt: In der Geschäftsleitung wird gefordert, man müsse zuerst ganz präzise definieren …, bevor man handeln könne. Und wer hat es nicht erlebt, dass umgekehrt nach der Festlegung einer Strategie oder eines ethischen Prinzips alles als Erfüllung der Strategie oder Umsetzung des Konzepts deklariert, auch wenn es das glatte Gegenteil ist. Im ersten Fall wird Schärfe verlangt, wo sie schadet, im zweiten Fall wird Unschärfe nach dem Jekami-Prinzip interpretiert und jeder macht weiter wie bisher, nur noch schamloser.

Intrigen der geschilderten Art sind aber nicht das eigentliche Problem. Intrigen sind Teil des Geschäfts- und des Verwaltungslebens und so allgegenwärtig, dass auch Literatur und Theater davon überquellen, oder dies bis vor wenigen Jahren zumindest taten – nachzulesen im Schweizer Klassiker «Intrige – Theorie und Praxis der Hinterlist» von Peter von Matt. Das eigentliche Problem ist meist, dass auch wohlmeinende Unterstützer*innen entweder unpassende Schärfe der Konzepte verlangen oder Schludrigkeit an den Tag legen, wo es Präzision bräuchte. Sie wollen das Beste und erodieren dabei die Fundamente der beabsichtigten Transformation. Was bräuchte es, um das zu verhindern?

Mut zu kulturellem Prozess

Ursache für das Problem ist einerseits oft die Unsicherheit, welche Unschärfe auslöst, sowie anderseits die Unfähigkeit die Ungleichheit des Ähnlichen zu erkennen und damit genügend präzise mit Unschärfen umzugehen. Kurzfristige Abhilfe gegen solche Ängste und Wahrnehmungsprobleme scheint es nicht zu geben. Wir wissen nur, wie man in der Ausbildung die Eigenschaften vermitteln kann, die für einen guten Umgang mit präziser Unschärfe notwendig sind. Notwendig – oder zumindest sehr hilfreich – ist das Üben des Erfindens von Definitionen. Wer gelernt hat, im Bedarfsfall eine Definition zu erfinden, welche verhebt, fürchtet sich viel weniger vor der Unschärfe, erkennt dagegen sehr klar die Ungleichheit des Ähnlichen. Zusätzlich tut sie oder sich obendrein leichter, die Gleichheit des Unähnlichen zu erkennen. Dies hilft beim bereichsübergreifenden Transfer von Lösungsmethoden.

Und in der digitalen Transformation? Da ist das alles noch viel wichtiger. Transformation muss als kultureller Prozess verstanden werden, der mit präziser Unschärfe programmatisch entwickelt und mit kleinen fokussierten, optimal vorgeplanten und trotzdem diszipliniert agil umgesetzten Projekten realisiert wird. Dafür müssen wir an den Hochschulen die fähigen Nachwuchskräfte ausbilden. Dass dies durch eine Schulung des Denkens geschieht, konkret insbesondere durch das Üben des Erfindens von Definitionen, welche verheben, das ist weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidbar.

Creative Commons Licence

AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert