Lehren aus der COVID19-Krise: Wie der Gerichtssaal (nicht) virtuell wurde (2)

Die Justiz hat den COVID-Lockdown erfolgreich gemeistert und ist in einen «Dauerkrisenmodus» übergegangen. Was hat die COVID-19 Pandemie an der Zukunft der digitalen Justiz verändert?

An dieser Stelle wurde bereits berichtet, wie die unmittelbare Reaktion des Justizbereichs auf die COVID-19 Pandemie ausgefallen ist. Während es sicher noch verfrüht ist, definitive Schlüsse für die zukünftige Entwicklung zu ziehen, soll hier ein Versuch gewagt werden, dazu Thesen aufzustellen.

These 1: Hauptfokus der Digitalisierung im Justizbereich wird sich nicht verändern

Die im Jahr 2016 durch den Verein eJustice.CH für die elektronische Justiz in der Schweiz formulierte Vision lautet wie folgt:

«Justizverfahren werden in elektronischer Form anhängig gemacht, geführt, abgeschlossen und publiziert. Sämtliche Verfahrensschritte und sämtlicher Geschäftsverkehr laufen elektronisch ab.»[1]

Die ausformulierte Konkretisierung der Vision von 2016 lässt erkennen, dass der Fokus damals weitgehend auf dem Geschäfts- und Dokumentenverkehr und dem Dokumentenmanagement lag, und beispielweise nicht auf dem Ersetzen von Einvernahmen, Verhandlungen und Besprechungen durch Videotelefonie. Dem entspricht der bestehende Scope des Projektes «Justitia 4.0», mit welchem eine Justizplattform für den Dokumentenaustausch sowie eine elektronische Akte aufgebaut werden soll. Dieser Fokus ist schliesslich auch im laufenden Gesetzgebungsvorhaben zum Bundesgesetz über die Plattform für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) abgebildet, welches zur Zeit in der Vernehmlassung ist[2].

Hintergrund dieses Fokus ist einerseits die Problemwahrnehmung. Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass Aktenberge, Trägerwandel und wiederholte Datenerfassungsvorgänge grundsätzlich überflüssig und unerwünscht sind. Aus praktischer Sicht kann zudem davon ausgegangen werden, dass eine benutzerfreundliche[3] und alltagstaugliche Lösung der elektronischen Übermittlung sowie die erweiterten Möglichkeiten der digitalen Akte auf Akzeptanz stossen dürften. Aus grundrechtlicher Sicht ist schliesslich bei der elektronischen Übermittlung von Schriftstücken und Akten kaum eine Einschränkung beispielsweise des rechtlichen Gehörs ersichtlich, zumal niemandem verboten wird, ein Dokument nach oder vor der Übermittlung auszudrucken, wenn sie oder er lieber Papier in der Hand hat.

Verhandlungen und Einvernahmen mit persönlicher Präsenz vor Ort wurden demgegenüber Pre-COVID nicht als Problem wahrgenommen, sondern als Selbstverständlichkeit[4]. Dazu trägt auch die Kleinräumigkeit der schweizerischen Justizlandschaft bei: gemäss einer Forschungsarbeit gab es in der Schweiz am 22. Mai 2014 insgesamt 288 Gerichte. Im Zivilverfahren ist in der Regel die Justizbehörde am Ort der beklagten Partei örtlich zuständig, in Strafverfahren in der Regel diejenige am Ort der Tatbegehung. Zudem werden regelmässig vor Ort tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beigezogen. Grundsätzlich war und ist den Parteien und ihren Vertreter*innen somit eine persönliche Anreise ans zuständige Gericht zumutbar und stellt kein Hindernis für den Zugang zum Gericht dar.

Im Hinblick auf eine Übernahme «virtueller Gerichtsverhandlungen» in den Normalbetrieb und in das ordentliche Recht stellen sich erhöhte Herausforderungen praktischer und rechtlicher Art. Der Verhandlung kommt ein zentrales Gewicht in Justizverfahren zu. Es ist zumindest im «Archetyp» des Prozesses das «Forum», wo vor aller Augen, und sofern keine Ausschlussgründe vorliegen öffentlich, Beweise abgenommen, Parteien und Anwält*innen angehört sowie schlussendlich Recht gesprochen wird. Die Konsequenzen einer digitalen Durchführung von Verhandlungen im Hinblick auf die Rechtsprechung durch die Gerichte, die Akzeptanz des Urteils, die Bereitschaft der Parteien zum Abschluss eines Vergleichs, sowie die Gewährleistung der Verfahrensgarantien (und der Öffentlichkeit) sind noch unklar.

Eine punktuelle Ausweitung des Einsatzes von Videokonferenzen wurde allerdings bereits vor der Pandemie in die Wege geleitet: Botschaft und Entwurf des Bundesrates vom 26. Februar 2020 zur Revision der Zivilprozessordnung sehen vor, dass analog zum Strafprozess Zeugeneinvernahmen, Parteibefragungen und Beweisaussagen mittels Videokonferenz durchgeführt werden dürfen (insb. nArt. 170a, 187 und 193 ZPO). Dabei wurde insbesondere an Prozesse mit internationalen Berührungspunkten gedacht[5].

These 2: Die aufgebaute Infrastruktur wird nicht ungenutzt bleiben

Die COVID-Krise hat zweifellos Hürden beim Aufbau und Ausbau der digitalen Infrastruktur beseitigt und die Akzeptanz digitaler Werkzeuge und eines dezentralen Betriebes gesteigert. Aufgrund der Krise wurden neue technische und organisatorische Massnahmen für die Aufrechterhaltung des Justizbetriebes ergriffen. Mitunter konnten geplante Investitionen z.B. in Videokonferenzsysteme vorgezogen werden, um während der Pandemie genutzt werden zu können. Wie bereits im ersten Teil zu den Lehren aus der COVID-Krise ausgeführt, fehlt dazu ein quantitativer und qualitativer Überblick. Unklar ist auch, inwieweit die mittels Notrecht erweiterten Möglichkeiten von Telefon- und Videokonferenzen durch die Justizbehörden ausgeschöpft worden sind.

Klar scheint, dass die beispielsweise zur Ermöglichung von Homeoffice oder für Videokonferenzen aufgebaute Infrastruktur selbstverständlich vorerst auch weiter genutzt werden wird. Sie wird neben den organisatorischen Massnahmen das Rückgrat der künftigen Pandemie- bzw. Krisenplanung im Justizbereich bilden, und wichtige Erfahrungen ermöglichen.

Die Krise und der damit verbundene Einsatz neuer Mittel bietet zudem eine einmalige Gelegenheit, um Erfahrungen für zukünftige Digitalisierungsschritte zu sammeln. Die «Learnings» aus der Krise sind umso reichhaltiger, je besser eine gezielte und dokumentierte Auseinandersetzung mit der Situation, der gewählten Herangehensweisen und Lösungen sowie der damit gemachten Erfahrungen erfolgt.

Klassischerweise erfolgen diese Auseinandersetzungen rückblickend in Form von «Debriefings» nach dem Ende einer Krise. Angesichts des bestehenden Dauerkrisenzustandes scheint in der vorliegenden Situation stattdessen eine in diesem Blog thematisierte Herangehensweise prüfenswert: die Ernennung von «learning and innovation officers» in den Organisationen bzw. Teams, welche dafür verantwortlich sind, laufend die auftretenden Probleme, die getroffenen Massnahmen und die Auswirkungen zu dokumentieren:

“The point of this (…) is that during a crisis people will do things they have never done before. The situation will be complex or even chaotic, so the ‘business as usual’ rules do not apply. People will probe complex problems to see what might work, or just take direct action in a chaotic situation. Some things will work, some things will fail, but each and every action is an opportunity to learn ‘something’. “[6]

These 3: Die neuen Arbeitsformen bleiben

Eng mit dem soeben Ausgeführten verbunden ist die dritte These, wonach die während der Krise eingeführten neuen Arbeitsformen ebenfalls weitergeführt werden. Homeoffice – in einer situativ angepassten Ausgestaltung und Regelmässigkeit – dürfte auch aus dem Justizbereich nicht mehr wegzudenken sein. Die laufende Digitalisierung im Justizbereich (siehe These 1) wird den dezentralen Betrieb in Zukunft weiter fördern und erleichtern.


Referenzen

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AUTHOR: Timur Acemoglu

Timur Acemoglu ist praktizierender Rechtsanwalt und Co-Geschäftsführer des Vereins eJustice.CH. Er begleitet und berät Digitalisierungsprojekte im Bereich Verwaltung und Justiz und ist für das Umsetzungsziel "Beratung und Koordination in rechtlichen Fragen» der E-Government-Strategie Schweiz" zuständig.

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