Lehren aus der Covid19-Krise: Wie der Gerichtssaal virtuell wurde (1)
Die Justizbehörden sind nicht als besonders innovativ oder digital bekannt. Die Kontaktbeschränkungen der Pandemie haben den digitalen Wandel nun aber tüchtig angeschoben – ein Überblick über den Status Quo.
Es ist noch nicht allzu lange her, da wehte Antreiber*innen und Fürsprecher*innen der Digitalisierung im Justizbereich ein eher kühler argumentativer Wind entgegen. Mitunter hiess es, dass das analoge Justizsystem in der Schweiz (insbesondere im Vergleich zum Ausland) effizient und zuverlässig funktioniert, wogegen die Vorteile der Digitalisierung sich noch beweisen und deren Kosten gerechtfertigt werden müssten. Homeoffice war im Justizbereich für viele schlicht unvorstellbar oder einfach nicht möglich. Erst vor relativ kurzer Zeit begann auch im Justizbereich vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Realitäten die Einsicht zu reifen, dass der Weg zur Justiz «nicht über Papierberge führen» soll, was sich insbesondere in der Lancierung und allseitigen Unterstützung des Projektes «Justitia 4.0» manifestierte[1].
Die Herausforderungen, mit denen sich das analoge Justizsystem im Frühjahr 2020 konfrontiert sah, hatte dennoch niemand vorausgesehen: mit dem Beginn des Lockdown im März 2020 wurde das bisherige Tagesgeschäft, welches auf dem Gang zur Poststelle für die Abholung und den Versand von Briefen auf Papier und der persönlichen Präsenzpflicht an Besprechungen, Einvernahmen und Verhandlungen beruht, von einem Tag auf den anderen grundsätzlich in Frage gestellt. Wie hat der Justizbereich diese Herausforderungen gemeistert?
Rechtliche Massnahmen
Um den Beteiligten Zeit zur Anpassung an die neue Situation zu verschaffen, hat der Bundesrat mit einer bis am 19. April 2020 geltenden Notverordnung vom 20. März 2020[2] als Sofortmassnahme eine Verlängerung des Fristenstillstandes beschlossen, welcher gemäss den Prozessordnungen über die Ostertage gegolten hätte. Dies hatte zur Folge, dass sämtliche gesetzlichen und gerichtlichen Fristen in nicht dringlichen Fällen um rund zwei Wochen verlängert worden sind. Die Massnahme erfolgte, nachdem der Schweizerische Anwaltsverband bei der zuständigen Departementschefin umfangreiche Massnahmen beantragt hatte, welche «zur Öffnung eines zur technischen und personellen Anpassung der Kanzleistrukturen notwendigen Zeitfensters»[3] dienen sollten.
Mit Notverordnung vom 16. April 2020[4] wurden weitere Massnahmen zur Aufrechterhaltung des Justizbetriebes beschlossen, welche am 25. September 2020 den Verhältnissen angepasst und verlängert wurden. Dabei wurde unter anderem die Durchführung von Verhandlungen und Anhörungen mittels Video- und Telefonkonferenzen auch in zivilrechtlichen Verfahren notrechtlich zugelassen und geregelt, was nach der geltenden Zivilprozessordnung nicht der Fall war.[5]
Aufrechterhaltung des Justizbetriebes auf Seiten der Behörden
Während des Lockdowns wurden die Gerichtsverhandlungen und Einvernahmen mit Ausnahme der als dringlich angesehenen Fälle grösstenteils abgesagt bzw. verschoben, wobei diese Massnahmen von Kanton zu Kanton unterschiedlich waren. Der General-staatsanwalt des Kantons Genf schätzt die Zahl der nachzuholenden Termine auf rund 2400, wobei zum Vergleich der Jahresbericht der Justiz des Kantons Genf für das Jahr 2019 rund 5600 Audienzen der Staatsanwaltschaft (ausgenommen Zwangsmassnahmenverfahren) auswies[6].
Demgegenüber haben soweit ersichtlich die Justizbehörden ihren internen Betrieb grösstenteils aufrechterhalten. Neben des nach wie vor notwendigen Betriebes vor Ort (u.a. für den Schalterbetrieb und Postdienste) wurde auch im Justizbereich grossflächig Homeoffice eingeführt. Herausforderungen stellten hier neben den Schutzmassnahmen vor Ort insbesondere die juristische Recherche, der Zugriff auf die Akten, die Postverarbeitung und die interne Zusammenarbeit aus dem Homeoffice dar. Die dafür gefundenen Lösungen waren selbstverständlich so vielfältig und unterschiedlich wie die Ausgangslage, in welcher sich die einzelnen Justizbehörden vor und während des Lockdowns befanden.
Ein repräsentativer Überblick über die Justizlandschaft während dieser Zeit und deren Umgang mit der Covid-19 Krise fehlt aktuell. Eine erste grobe und nicht repräsentative Sammlung von Berichten und Rückmeldungen ergibt dennoch, dass innert einer Übergangszeit grossflächig die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung eines dezentralen Justizbetriebes geschaffen wurden. Die Art und Qualität dieser Infrastruktur und die Geschwindigkeit, mit welcher sie aufgebaut werden konnte, war allerdings unterschiedlich und hing wesentlich von der Ausgangslage ab, in welcher sich die Behörde bzw. der Kanton befand: waren bereits Projekte initiiert oder gar in Gang, um Remote-Zugriffe für die Mitarbeitenden oder Videokonferenzsysteme auszurollen, konnte die Ausrollung beschleunigt oder die Anzahl Lizenzen erweitert werden. Musste hingegen die Infrastruktur erst noch geplant, aufgebaut bzw. beschafft werden, war dies im bereits eingetretenen Lockdown nur noch sehr erschwert möglich.
Unbestritten ist sicherlich, dass die Covid-19-Krise Hürden beim Aufbau und Ausbau der digitalen Infrastruktur beseitigt hat. Die Akzeptanz digitaler Werkzeuge und vor allem auch eines dezentralen Betriebes ist gewachsen[7]. Vielerorts werden – wie auch in anderen Branchen – in dieser Zeit eingeführte Werkzeuge für den Dauerbetrieb beschafft oder allgemeine Homeoffice-Tage eingeführt. Gleichzeitig wurden durch die Erprobung der digitalen Werkzeuge auch deren Nachteile oder Grenzen aufgezeigt[8].
Anwaltschaft und Notariat
Die oben erwähnte Abhängigkeit vom Papier- und Präsenzbetrieb bestand spiegelbildlich auch auf Seiten der ErbringerInnen von Rechtsdienstleistungen, sprich bei den Rechtsanwält*innen und Notar*innen. Zu den notwendigen Schutzmassnahmen sowie den organisatorischen und technischen Herausforderungen kamen auch handfeste wirtschaftliche Unwägbarkeiten hinzu: leert sich der Terminkalender aufgrund des Lockdowns und der verschobenen Gerichtsverhandlungen, so können auch entsprechend weniger Verfahren abgeschlossen und abgerechnet werden.
Auch die Anwält*innen und Notar*innen haben die durch die Notverordnung des Bundesrates über den Stillstand der Fristen gewährte Übergangsphase genutzt, um sich technisch und organisatorisch auf die Pandemie einzustellen. Gleichzeitig wird ihnen, die mehrheitlich als Selbständigerwerbende tätig sind, die in dieser Zeit gemachte Erfahrung erhalten bleiben. Ihr berufliches Tagesgeschäft hing nämlich an einem seidenen Faden: wären umfassende Ausgangssperren erlassen worden wie in Nachbarländern, oder hätte die Post ihre Dienstleistungen eingestellt oder eingeschränkt, wie dies Art. 7b der Covid-19-Verordnung 2 ermöglichte, wäre die Ausübung des Berufs zumindest vorübergehend praktisch nicht mehr möglich gewesen. Mit Sicherheit hat diese Erfahrung auch eine Vielzahl bisher eher skeptischer NotarInnen und RechtsanwältInnen von den Vorteilen der Digitalisierung überzeugt.
Fazit
Der Justizbetrieb, welcher noch grossmehrheitlich auf Papier und Anwesenheit beruht, wurde durch die Covid-19-Krise vor grosse Herausforderungen gestellt. Der Betrieb konnte grundsätzlich trotz der zum Schutz vor dem Coronavirus angeordneten Massnahmen aufrechterhalten werden, jedoch nicht ohne erhebliche Einschnitte und Verzögerungen.
Nicht überraschend ist, dass es denjenigen Akteuren leichter fiel, sich auf die neue Situation einzustellen, welche mit dem Aufbau einer entsprechenden technischen Infrastruktur bereits vor der Krise begonnen oder eine solche vielleicht sogar bereits eingeführt hatten.
Richtigerweise hat der Gesetzgeber durch Notrecht die Möglichkeit der Durchführung von Video- und Telefonkonferenzen (unter gewissen Voraussetzungen) auch auf Zivilverfahren ausgeweitet. Auch dadurch wurde das Funktionieren der Justiz unter Aufrechterhaltung der notwendigen Hygiene- und Schutzmassnahmen ermöglicht und erleichtert. Mit Blick auf die Zukunft ist diese unfreiwillige Pilotierung des «virtuellen Gerichtssaals» positiv zu sehen, können dadurch doch wichtige Erfahrungen gesammelt werden. Allzu hohe Erwartungen im Hinblick auf eine Übernahme «virtueller Gerichtsverhandlungen» in den Normalbetrieb und in das ordentliche Recht erscheinen allerdings noch verfrüht. Zwar sind die bestehenden technischen Möglichkeiten unbestritten, und es ist durchaus eine positive Erfahrung, dass es im Notfall «auch so funktioniert». Bevor diese virtuelle Variante der Durchführung von Verhandlungen in das ordentliche Recht überführt werden kann, sind jedoch die Vor- und Nachteile vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Grundrechte und Verfahrensgarantien, der Auswirkungen auf Datenschutz und Datensicherheit sowie ganz zentral – der Aufrechterhaltung einer «menschlichen Justiz» – zu analysieren[9]. Zu einer funktionierenden Justiz gehört nicht nur die Aufrechterhaltung ihres Betriebs, sondern auch ihrer hohen Qualität und ihrer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz.
Zu diesem Artikel folgen in den nächsten Wochen zwei inhaltlich anschliessende Artikel.
Referenzen
[1] www.justitia40.ch
[2] Verordnung über den Stillstand der Fristen in Zivil- und Verwaltungsverfahren zur Aufrechterhaltung der Justiz im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19)
[3] Lenzin Andrea, COVID-19: Justiz im Notstand (?), III., in: Anwaltsrevue 5/2020, S. 203
[4] Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht), SR 272.81
[5] Die Aufzählung der rechtlichen Massnahmen ist nicht vollständig und beschränkt sich auf die gerichtlichen Verfahren. Zum Justizbereich zu zählen wären auch die Massnahmen im Bereich des Betreibungs- Konkurs- und Gesellschaftsrechts.
[6] Becker/Chuffart-Finsterwald/Conrad Hari/Giroud/Güney King/Sohrabi: Covid-19: Audiences per Vidéo-Conférence et justice digitale, in: Anwaltsrevue 9/2020 S. 358
[7] Vgl. https://www.inside-it.ch/de/post/corona-unfreiwilliges-pilotprojekt-fuer-justitia-4-0-20200511
[8] Covid-19: Justiz steht vor Herausforderungen – kann Justitia 4.0 helfen? https://www.youtube.com/watch?v=dFEe2IFYfWE
[9] Becker/Chuffart-Finsterwald/Conrad Hari/Giroud/Güney King/Sohrabi (Fn 6), S. 358
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