Transformation von Unternehmen in der Covid-19-Krise (4) – Handelseinbruch und die nächste Globalisierung

Die Gesundheitskrise wird jene Technologien pushen, welche die Fragmentierung der Wertschöpfungsketten fördern. Das wird die Wirtschaft nachhaltig verändern.

Was sind die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der Gesundheitskrise? Sie hat die digitale Transformation gepusht, soweit sind sich die meisten einig. Dieser Trend wird sich fortsetzen, doch mit welchen Folgen? Derzeit zeichnet sich ein komplexes Bild ab, in dessen Zentrum die neuen digitalen Ressourcen für Unternehmen stehen: Machine Intelligence, Crowd Intelligence und Remote Intelligence. Die wirtschaftlichen Folgen davon sind in vielerlei Hinsicht noch unbekannt, aber konkrete Wirkungsmechanismen lassen sich bereits erahnen.

Voraussichtlich werden die Wertschöpfungsketten noch mehr fragmentiert werden, wovon Spezialist*innen-Teams und kompetente Teams mit geringen Lohnkosten profitieren werden. Dies wird einige Zeit dauern. Es wird aber auch, mindestens kurzfristig, paradoxe Nebeneffekte geben: Wenn teure Maschinen zur besseren Auslastung nachts auf automatisierten Betrieb umgestellt werden, so kann dies in reichen Ländern beispielsweise neu Billigjobs in der Überwachung der Maschinen schaffen, bis diese Jobs irgendwann in Remote Jobs in Billiglohnländern umgewandelt werden. Die Summe all dieser Wirkungen auf Mikro- und Mesoebene bleibt vorerst unklar.

Nichtstun als falsche Option

Vor allem was die Auswirkung auf die reichen Länder betrifft, wird vieles davon abhängen, wie die einzelnen Sektoren in diesen Ländern reagieren. Noch ist fast alles offen, aber in ein paar Jahren werden die Weichen gestellt sein. Max Frischs Stück «Biedermann und die Brandstifter» ist aktueller denn je, auch wenn es Chancen sind und nicht Risiken, welche den Status Quo bedrohen. Es steht zu befürchten, dass diese verkehrte Gefahr nicht verstanden wird, weil wir tendenziell Nichtstun als besonders sichere Option wahrnehmen.

Ein Blick zurück hilft, solche Irrtümer zu entlarven. Die Einkommensgewinne der letzten dreissig Jahre waren sehr ungleich verteilt: am wenigsten gewannen die Unter- und die Mittelschicht der reichen Länder. Doch in den späten 1980er Jahren sah dies fast niemand kommen. Man erwartete, dass sich die – mit Unterbrüchen – 170-jährige Globalisierungserfolgsgeschichte der reichen Länder fortsetzen würde, doch es kam ganz anders.

Eine wesentliche Ursache für die sehr unterschiedlichen Wohlstandszuwächse der letzten drei Jahrzehnte war die Transferierung von industrieller Produktion und Knowhow in ärmere Länder. Damit einher ging zwar eine Steigerung der Wertschöpfung in der Dienstleistungen nach der Produktion, doch auch davon profitierten Mittel- und Unterschicht der reichen Länder wenig. Das Ergebnis war eine stark wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern.

Verlierer und Gewinner der Globalisierungen

Erste Umfragen zeigen nun, dass die aktuelle Gesundheitskrise in Mitteleuropa besonders Frauen und Geringverdiener trifft (siehe z.B. eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung), was die Entwicklung der letzten Jahrzehnte teilweise noch verstärkt. Diese kurzfristigen Entwicklungen (welche noch wesentlich vom Ausmass der zweiten Welle abhängen werden) liefern zwar wenige Informationen über mögliche langfristige Folgen der Gesundheitskrise, letztere lassen sich in einigen Aspekten jedoch auf der Basis ökonomischer Modelle der Globalisierung antizipieren. Das Ergebnis sind zwar nur begründbare Hypothesen, aber in einer Welt zunehmender Komplexität und Unüberschaubarkeit sind diese trotzdem essenziell. Denn das Fehlen einer Prognose ist in der aktuellen Situation ist ein wesentlich substanzielleres Problem als es die Zukunftsblindheit Ende der 1980er Jahre war.

Für die Interpretation der aktuellen Situation ist Richard Baldwins Modell der drei kaskadierenden Schranken für die Globalisierung der Wirtschaft sehr nützlich (siehe «The Great Convergence«). Diese Schranken sind Handelskosten, Kommunikationskosten und Kosten der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Von 1820 bis 1990 wurde die erste Schranke beiseite geräumt: die hohen Handelskosten. Ergebnis: die einst führenden Wirtschaftsräume in Asien verarmten und die G7, die Schweiz und Länder wie Schweden, Österreich, Finnland oder Dänemark wurden reich. Von 1990 bis heute wurde die zweite Schranke beiseite geräumt: die hohen Kommunikationskosten. Ergebnis: Einige wenige bis dahin arme Länder verzeichnet ein fantastisches Wirtschaftswachstum, darunter insbesondere China, während die G7 und kleine reiche Länder sich deindustrialisierten und ihr Anteil an der globalen Wirtschaft schrumpfte. Die dritte Schranke blieb jedoch vorerst bestehen: die hohen Kosten für die persönliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht.

Präsenztechnologie noch vor der Brillanz

Der Lockdown hat uns nun gezeigt, dass einerseits erfolgreiche Online-Zusammenarbeit viel weitgehender möglich ist, als sie bis zur Krise praktiziert wurde, und dass andererseits die kommerziellen Präsenz- und Kollaborationstechnologien in kurzer Zeit verbessert werden, wenn es dazu einen Anlass gibt. In naher Zukunft wird es voraussichtlich Produkte geben, die noch bessere Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ermöglichen. Vor allem aber hat unsere Erfahrung in der Nutzung der Technologien vieles verändert: Wir wissen heute wesentlich mehr als noch vor wenigen Monaten, wie gut oder schlecht die Präsenztechnologien situativ funktionieren. Damit steht Baldwins dritte Schranke vor dem Fall.

Wenn alle im Homeoffice sitzen, verliert die Distanz an Bedeutung und eine weitergehende Fragmentierung der Wertschöpfungskette wird realistisch. Der Effekt der Homeoffice-Erfahrungen ist zwar vorerst primär ein psychologischer, da wirklich überzeugende Präsenztechnologien in Produktreife noch fehlen, und er wird zudem begleitet von voraussichtlich zukünftig höheren Reisekosten, aber es ist trotzdem wahrscheinlich, dass man langfristig immer kleinteiligere Tätigkeiten auslagern wird, beziehungsweise von Remote Intelligence ausführen lassen wird.

Unzuverlässigere Logistik

Das ist aber noch nicht das ganze Bild. Was unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit in den letzten Jahren zusätzlich geschah, war dass die Zuverlässigkeit der internationalen Logistik abnahm und die von dieser Logistik auf die Öffentlichkeit abgewälzten Kosten zunahmen (siehe z.B. Marc Levinsons «Outside the Box«). Schuld daran war der Wahn, zur Steigerung der Kosteneffizienz immer grössere Schiffe einsetzen zu müssen. Das konsolidierte den Markt und führte gleichzeitig zu fehlenden Auslastungen, verlängerten Ladezeiten und der Notwendigkeit, Fahrrinnen zu vertiefen, Brücken darüber zu erhöhen und Häfen auszubauen. Ergebnis: längere Transportzeiten, geringere Zuverlässigkeit des Transports und Kosten für Dritte, beispielsweise für Benutzer von Brücken, für die aufgrund ihres teuren Umbaus neu Maut verlangt wird.

Dieser Einbruch des internationalen Handels in der aktuellen Gesundheitskrise hat die Logistikbranche nochmals schwer getroffen und die Unzuverlässigkeit ihrer Transportdienstleistungen erhöht. Das erinnert uns nachdrücklich daran, wie falsch lineares Denken sein kann. Es ist nicht immer so, dass alles zwangsläufig besser und billiger wird, auch wenn das oft über Jahrzehnte hinweg so war.

Vom Aufstieg der Remote Intelligence

Wenn man obige Betrachtungen zusammenführt, dann sind die erwartbaren Veränderungen tendenziell eher höhere Handelskosten, noch tiefer werdenden Kommunikationskosten und Abbau der hemmenden Wirkung der Kosten für die Direktkommunikation von Angesicht zu Angesicht. Die nächste Globalisierung – es wäre im Fall die fünfte in der Menschheitsgeschichte – wird deshalb vom Aufstieg der «Remote Intelligence» mitgeprägt werden, wobei diese Entwicklung – ebenso wie der Aufstieg der Artificial Intelligence – durch die Verwerfungen der Logistikbranche noch gefördert wird. Voraussichtlich werden wir Remote Intelligence insbesondere im Bereich der hochspezialisierten Jobs und im Bereich der einfachen Jobs erleben, wie beispielsweise die Nutzungsszenarien für Telerobotik zeigen.

Allerdings ist die Nutzung der drei neuen Ressourcen – Artificial Intelligence, Crowd Intelligence und Remote Intelligence – alles andere als einfach und wirft zudem Fragen der Vertrauenswürdigkeit auf. Deshalb wird Remote Intelligence vermutlich weniger über Gig-Ökonomie-Plattformen oder Freelancer-Plattformen vermittelt werden, als über Service-Plattformen und innerhalb von Unternehmensnetzwerken. Für Spezialist*innen mit generalistischen Grundkompetenzen sind dies hervorragende Zukunftsaussichten. Gut möglich, dass damit doch noch Peter Druckers ehemalige Zukunftsvision Wirklichkeit wird: Er meinte einst, dass in Zukunft die Zugehörigkeit zu einer Fachdisziplin wichtiger sein wird als die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen. Es kam anders, doch vielleicht dachte er einfach nur weiter voraus als nur bis 2020.

Unternehmen sollten jedenfalls heute schon darüber nachdenken, wie sie Remote Intelligence Services anbieten und auch selbst nutzen können. Dass in Fast-Lockdown-Zeiten Offline-Treffen besonders geschätzt werden, wie wir immer wieder erleben, ist kein Gegenargument. Es geht nicht darum, dass alles anders wird, sondern darum, dass punktuelle Veränderungen eine grosse Wirkung haben und den Reichtum in der Welt neu verteilen können.


Acknowledgements

Der Dank gilt allen, mit denen der Autor Überlegungen des Texts diskutieren konnte und die eigene Perspektiven in die Diskussion einbrachten. Dies sind unter anderem Ana Fernandes, Martin Kammermann, Reto Jud und Anne-Careen Stoltze. Wichtige Referenzen sind im Text verlinkt.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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