Decision Intelligence: Die Brücke zwischen KI-Investment und Wirkung, Teil 1
Trotz massiver Investitionen in KI und Data scheitern 70 – 80 % der Projekte daran, messbare Resultate zu liefern. Der Grund: Algorithmen erzeugen Vorhersagen, aber daraus resultieren nicht automatisch besseren Entscheidungen. Decision Intelligence (DI) setzt hier an und verbindet technologische Möglichkeiten mit konkreten Geschäftsentscheidungen. Der Ansatz kartiert relevante Entscheidungsprozesse, etabliert Feedback Loops und macht Wirkung messbar. Es bildet die Brücke zwischen Technologie-Investment und echtem Nutzen. In zwei Teilen geben Kenneth Ritley und Benjamin Baer Einblick in Decision Intelligence.
Was ist Decision Intelligence?
Decision Intelligence (DI) verbindet Datenwissenschaft mit Verhaltensforschung und Entscheidungstheorie, um bessere Entscheidungen in Organisationen zu ermöglichen. Der Ansatz nutzt Daten nicht nur um Vergangenes zu analysieren oder Trends abzuleiten, sonder um Entscheidungen gezielt zu verbessern.
Dabei berücksichtigt DI den gesamten Entscheidungsprozess: Von der richtigen Fragestellung über die Analyse bis hin zur Umsetzung. Der Kontext ist dabei immer zentral: Welche Ziele verfolgt die Organisation? Was sind die Einschränkungen? Welche kognitiven Verzerrungen spielen mit und haben so Einfluss auf die Gestaltung von Systemen?
Die zentrale Einsicht ist einfach: Gute Daten und präzise Modelle reichen nicht aus, wenn Menschen sie nicht effektiv nutzen können oder wollen. DI schliesst diese Lücke, indem es das Technische (Algorithmen, Daten) mit dem Menschlichen (Psychologie, organisationale Dynamiken) und dem Business (Prozesse, Supply Chain, Risiko-Toleranzen, Angebote) integriert — mit dem Ziel, reale Outcomes zu gestalten.
Decision Intelligence: Die nächste Stufe datengestützter Entscheidungen
Im historischen Kontext stellt DI die fünfte Stufe in der Evolution datengestützter Ansätze dar. Organisationen begannen mit spontanen, intuitionsgetriebenen Entscheidungen (ad-hoch), entwickelten sich über deskriptive und diagnostische Berichte hin zu prädiktiver und präskriptiver Analytics (Vorhersagemodelle und Optimierungsansätze). Decision Intelligence steht nun an der Spitze dieses Reifegradmodells: Sie integriert menschliche und maschinelle Intelligenz in durchgängige Entscheidungsprozesse, verankert Feedback Loops und richtet sie am organisatorischen Kontext aus.

Decision Intelligence Maturity Model (5 Levels)
Indem wir DI explizit in diesem Kontinuum verorten, erkennen wir es sowohl als Kulminationspunkt früherer Entwicklungen als auch als neuen Aufbruch: Während frühere Stufen auf Rückschau oder Vorschau fokussierten, etabliert DI eine Architektur der Entscheidung. Dabei werden Daten, Modelle und menschliches Urteilsvermögen in adaptive Systeme integriert, die lernfähig und ergebnisorientiert sind.
Feedback Loops und der Faktor Mensch
Ein zentrales Merkmal von DI ist der Einsatz von Feedback Loops. Entscheidungen sind selten einmalige Ereignisse — sie wiederholen sich, entwickeln sich weiter und beeinflussen einander über die Zeit. DI schafft Mechanismen, um Ergebnisse zu überwachen, sie mit Erwartungen (z. B. aus Modellen, Forecasts, strategischen Zielen oder sogar Digital Twins) zu vergleichen und den Entscheidungsprozess zu verfeinern. Ohne diese Schleifen können Organisationen nicht lernen, ob ihre KI-gestützten Entscheidungen tatsächlich wirksam sind.
Genauso entscheidend ist der Faktor Mensch. Fachwissen, strategischer Kontext und Unternehmenskultur prägen die Qualität von Entscheidungen. DI fordert daher eine holistische Sichtweise, in der menschliches Urteilsvermögen und maschinelle Intelligenz einander ergänzen. Dies ist der Kern von Human-in-the-Loop: sicherzustellen, dass Automation und KI das menschliche Entscheiden verstärken statt ersetzen. In diesem Sinne ist DI ebenso sehr Management Science wie Computer Science.
Ein vereinfachter Ansatz
Ein allgemein etablierter, universell anerkannter Ansatz für Decision Intelligence existiert noch nicht, doch erste Methodologien beginnen sich abzuzeichnen. Pratt und Malcolm beschreiben einen solchen in Form einer Five-Phase-Methodology: Requirements, Modelling, Reasoning, Action und Review. Im Kern steht eine einfache Sequenz: Zuerst die Outcomes klar definieren, dann die Entscheidungen identifizieren, die diese Outcomes prägen, und erst danach bestimmen, welche Daten, Modelle oder Informationen zur Unterstützung erforderlich sind. Viele KI-Projekte scheitern, weil sie diese Reihenfolge umkehren — sie beginnen mit Daten und Algorithmen, statt mit Outcomes und Choices. Existierende Modelle, wie etwa Data Science PM (2025), zeichnen zwar die Entwicklung analytischer Fähigkeiten nach, stellen jedoch noch keine vollständige Methodologie für Decision Flows dar.
Dabei handelt es sich nicht um ein loses Framework, sondern um ein formales Modell mit klar definierten Artefakten, Stakeholder-Rollen (z. B. ein Decision Team) und sogar der Nutzung von Simulationsergebnissen, um alternative Handlungsoptionen vorab zu antizipieren und zu vergleichen. Die letzten Phasen Action und Review verwandeln die Methodologie in einen Continuous-Improvement-Cycle: eingebettete Feedback Loops ermöglichen es, dass Entscheidungen und ihre unterstützenden Systeme kontinuierlich lernen und sich selbst verbessern.
Drei Beispiele aus der Praxis
Betrachten wir drei Anwendungsbereiche. Im Credit Risk Management können Machine-Learning-Modelle die Ausfallwahrscheinlichkeit mit hoher Genauigkeit vorhersagen, doch die eigentliche Entscheidung ist, ob Kredit unter regulatorischen, ethischen und strategischen Bedingungen gewährt wird. Im Supply Chain Management können Vorhersagemodelle Nachfragespitzen prognostizieren, aber die Entscheidung, wie viel Lagerbestand zu platzieren ist, erfordert Abwägungen zwischen Kosten, Servicequalität, Resilienz und Kundenzufriedenheit. Im Gesundheitswesen können KI-Systeme Auffälligkeiten in medizinischen Bildern markieren, doch die kritische Entscheidung besteht darin, algorithmische Empfehlungen mit klinischem Urteil, Patientenpräferenzen und Haftungsfragen auszubalancieren.
Ein Decision-Intelligence-Ansatz liefert hierfür ein strukturiertes Framework, das solche Entscheidungen reproduzierbar, transparent und durch Feedback Loops selbstverbessernd macht. Und vor allem schliesst es genau jene Lücke, an der so viele KI-Projekte scheitern.
Auf dem Weg zur Decision Architecture
Die Potenziale von Decision Intelligence bleiben begrenzt und oft schmerzhaft teuer, solange sich keine etablierte Praxis der Entscheidungsarchitektur herausbildet. So wie Software-, Netzwerk- und Unternehmenssysteme erst dann ihr volles Potenzial entfalten konnten, als sich Architekturen als Disziplin etablierten, benötigt nun auch das Decision Making dasselbe: einen systematischen Ansatz, um zu gestalten, wie Entscheidungen identifiziert, strukturiert, automatisiert und gesteuert werden — und insbesondere, wie KI in diese Abläufge eingebettet wird.
Eine solche Architektur erfordert Praktikerinnen und Praktiker, die Bereiche überbrücken können: in der Unternehmenspraxis verankert, technologisch versiert und strategisch wie visionär ausgerichtet. Ebenso notwendig ist die Infrastruktur eines reifen Fachgebiets: Taxonomien, Frameworks, Standards, Rollenbeschreibungen und ein anerkanntes Wissensfundament. Gegenwärtig fehlen diese Elemente weitgehend. Ohne sie werden Organisationen weiterhin in denselben Mustern gescheiterter Projekte verharren.
Warum gerade jetzt Decision Intelligence zählt
Der Zeitpunkt ist nicht zufällig. KI- und Datenkompetenzen entwickeln sich rasant, doch die Wertschöpfung bleibt schwer fassbar. Decision Intelligence liefert das fehlende Bindeglied, indem es sicherstellt, dass Technologie mit den Entscheidungen verknüpft wird, die Ergebnisse bestimmen. Es rahmt KI neu: als Mittel, nicht als Selbstzweck.
Wenn KI und Machine Learning die Motoren sind, dann ist DI das Navigationssystem. Es stellt sicher, dass enorme Rechenleistung auf Ziele ausgerichtet wird, die wirklich zählen, und dass unternehmerische Ergebnisse erreicht werden. Ohne DI riskieren Organisationen, immer schnellere Motoren zu bauen, die sie nirgendwohin führen. Mit DI können sie Investitionen in messbare Resultate transformieren und die Misserfolgsrate von KI-Projekten von den derzeit inakzeptablen Werten auf einen Bruchteil senken.
Entscheidend ist: Was in einer Branche oder einem Anwendungsfall funktioniert, kann in einem anderen scheitern. Die Nuancen von Sektor, Strategie und Kontext sind ausschlaggebend. Daher ist das Teilen von Best Practices (was versucht wurde, warum es gelang und warum nicht) essenziell für den kollektiven Fortschritt. Wir beginnen nicht bei null — aber die Disziplin von DI wird sich nur entwickeln, wenn Organisationen ihre Erfahrungen gemeinsam kodifizieren und in übergeordnete Frameworks einbetten.
Referenzen
- Lorien Pratt, The Decision Intelligence Handbook: Practical Steps for Evidence-Based Decisions in a Complex World, Emerald Publishing, 2022.
- Cassie Kozyrkov, “Decision Intelligence: The New Discipline of Business,” Google Cloud Blog, 2019.
- Gartner Research, “Decision Intelligence: A Practitioner’s Guide,” Gartner, 2021.
- Sam Ransbotham, Shervin Khodabandeh, David Kiron, “Winning With AI Is a Decision, Not a Data Science Problem,” MIT Sloan Management Review, 2021.
- Data Science PM, “Data Science Maturity Model,” Data Science PM, 2025. Available at: https://www.datascience-pm.com/data-science-maturity-model/

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