Besser lernen durch smarte Reflexion

Unknown

Reflektieren ist mehr als Tagebuchschreiben; es ist eine strukturierte Aufgabe, die Lernende dabei unterstützt, Erfahrungen in Wissen zu verwandeln. In der Vorlesung „Prozessmanagement“ des Bachelorstudiengangs Digital Business and AI von Prof. Dr. Thiemo Wambsganss verfassten die Studierenden am Ende jeder Woche einen kurzen Reflexionstext. Die Aufgabe war einfach: „Denke an die letzte Lehrveranstaltung: Welche Inhalte oder Erlebnisse haben Dich besonders angesprochen oder herausgefordert?“ 40 Studierende schrieben sechs Wochen lang ihre Reflexionen – und nutzten dabei erstmals an der BFH das KI-gestützte Coaching-System von Rflect.ch. 

Einleitung

Reflektierendes Schreiben hilft Studierenden dabei, ihre Lernerfahrungen besser zu verstehen und sie kritisch zu beleuchten. Doch tiefgründige Reflexion fällt vielen schwer, wenn es an Struktur fehlt. Genau hier setzt das gemeinsame Projekt des Human-Centered AI Learning Systems (HAIS) Lab [1] der Berner Fachhochschule (Léane Wettstein, Thiemo Wambsganss, Roman Rietsche) und des Start-ups Rflect [2] an. Basierend auf einem ehemals kantonal geförderten BeLearn-Projekt [3], untersuchten wir, wie KI-gestütztes Coaching den Reflexionsprozess, das Gefühl der Selbstwirksamkeit und die wahrgenommene Reflexionskompetenz beeinflusst. [4]

Warum reflektive Unterstützung wichtig ist

Durch Schreiben wandeln wir Erlebnisse in dauerhaftes Wissen um. Die Forschung zeigt seit Jahrzehnten: Strukturierte Reflexion stärkt Metakognition und berufliche Entwicklung. Dennoch bleiben viele Reflexionstexte bei reiner Beschreibung stehen. Individuelles Feedback ist hilfreich (für Review, siehe Chan and Lee 2022) – Lehrende haben dafür aber selten Zeit. Künstliche Intelligenz (KI) kann hier skalierbare Unterstützung bieten, sofern das Feedback pädagogisch stimmig ist und sich nahtlos in den Reflexionsprozess einfügt (z.B., Neshaei et al. 2025). 

Was wir herausfinden wollten – und wie

Um zu untersuchen, welche Rolle KI-basiertes Feedback genau haben kann, setzten wir die App „Rflect“ in der Vorlesung „Prozessmanagement“ des Bachelor Digital Business & AI ein. Rund 40 Studierende schrieben sechs Wochen lang Reflexionen anhand des Gibbs-Reflexionszyklus (Gibbs 1988, sechs Schritte: Beschreibung, Gefühle, Bewertung, Analyse, Schlussfolgerung, Aktionsplan). 

Vor dem ersten Reflexionstext führten wir eine Vorumfrage durch, um zwei zentrale Konstrukte zu messen:  

  1. Selbstwirksamkeit nach Bandura (1997)
  2. Wahrgenommene Reflektionskompetenz gemäss dem Gibbs-Zyklus (Gibbs 1988).

In jeder Woche verfassten die Studierenden ihre Reflexion in der Rflect-App und blickten dabei auf die zurückliegende Lehrveranstaltung. Anschliessend konnte man mit dem Button „Go Deeper“ automatisch generiertes Feedback abrufen. Dieses Feedback stützte sich auf mehrere Agents, die in mehreren Iterationen nutzerzentriert entwickelt wurden; es bestand aus offenen, zum Nachdenken anregenden Fragen wie etwa „Welche alternative Erklärung könnte es für dein beobachtetes Ergebnis geben?“ Dies diente als Motivation, den Text zu überarbeiten. Nach insgesamt sechs Wochen und sechs Reflexionsaufgaben erhoben wir die beiden Konstrukte erneut und sammelten zusätzlich qualitative Rückmeldungen, um den Einfluss des KI-Feedbacks auf den Reflexionsprozess und die Lernreise besser zu verstehen. 

Wie funktionierte das KI-Coaching?

Anstelle korrigierender Aussagen ahmte das System mit Hilfe eines grossen Sprachmodells (GPT 4o mini)  einen Coach nach. Zuerst erkannte ein Agent, welche Schritte des Gibbs-Zyklus im jeweiligen Studierendentext bereits enthalten waren. Anschliessend formulierte ein zweiter Agent eine offene Frage, die genau an dieser Stelle anknüpfte und den Reflexionsprozess vertiefte. Die zugrunde liegenden Prompts entstanden in einem nutzerzentrierten Vorgehen mit Nutzerinterviews, Expertenworkshops, Datensammlung und iterativer Modellierung. 

Was haben wir herausgefunden?

Nach sechs Wochen berichteten die Studierenden eine deutlich höhere Selbstwirksamkeit; der Mittelwert stieg um etwa 26 Prozent bei einem Signifikanzniveau von p < 0,001. Ebenso nahm die wahrgenommene Reflexionskompetenz um ungefähr 15 Prozent zu, was mit p = 0,017 ebenfalls signifikant war. Auch die qualitativen Kommentare lieferten viele interessante Einblicke. Einige Teilnehmende wünschten sich mehr Formatierungsoptionen, um ihre Texte freier zu gliedern („Dass es mehr Funktionen wie in OneNote für Freihandtext gäbe“). Während viele das Tool sehr schätzten („Ich finde es sehr gut und vollständig“; „Es war eigentlich alles ziemlich klar“), wollten manche mehr Transparenz über die implementierten KI-Funktionen („Es ist nicht transparent, was als ‚positiv‘ gilt und wie genau ich den Score verbessern kann“; „Erklärt Funktionen wie ‚Go Deeper‘ genauer“). 

Was das für Lehrende bedeutet

KI-basiertes Coaching ersetzt keine menschliche Begleitung, kann jedoch Lehrzeit freisetzen und jeder Studentin bzw. jedem Studenten sofort eine individuelle Unterstützung bieten. Wenn das Feedback offen formuliert ist, behalten Lernende die Kontrolle über ihr Denken und profitieren gleichzeitig von externer Anleitung. Gerade in grossen Bachelorveranstaltungen erweist sich dies als hilfreich, da kein kein Risiko falscher Korrekturen entsteht: Wird eine offene Frage ungünstig gestellt, können Lernende sie einfach ignorieren. So bleibt ihre Selbstverantwortung im Lernprozess gewahrt. 

Zusammenfassend ergeben sich drei Empfehlungen für Lehrende:  

  • Reflektives Schreiben ist eine vielseitige Übung, die nahezu jedes Fachgebiet und jeden Kontext bereichert; KI-gestütztes Coaching macht sie interaktiver und stärkt die Selbstwirksamkeit der Studierenden.  
  • Bewusst Zeit im Unterricht für Reflexionen einplanen: Wir nutzten das Tool wöchentlich am Ende jeder Vorlesung und reservierten dafür Präsenzzeit, was Motivation und Engagement hochhielt. Zusätzlich kombinierten wir die individuelle Reflexion zu Beginn der folgenden Stunde mit einer kurzen gemeinsamen Diskussion – das knüpfte an den vorherigen Stoff an und vertiefte die Reflexion weiter.  
  • Studierenden Reflexionsaufgabe anbieten, die sich auf die Reflexion ihres eigenen Lernprozesses konzentrieren. Dies ermöglicht es den Studierenden, über die verschiedenen Lernstile nachzudenken und allgemeine Schlussfolgerungen über ihren Lernprozess zu ziehen. 

Referenzen

[1] www.haislab.com 
[2] www.rflect.ch
[3] https://belearn.swiss/en/projekt/exploring-the-effects-of-conversational-agents-on-learners-reflective-writing/
[4] Diese Forschung ist Teil eines grösseren Innosuissepojekts geleitet von Prof. Dr. Roman Rietsche und Prof. Dr. Thiemo Wambsganss namens “Reflective Writing for Personal Development: Leveraging AI to go from pilot to scale” gefördert von der Schweizerischer Agentur für Innovationsförderung.

Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. W H Freeman/Times Books/ Henry Holt & Co. 

Cecilia KY Chan and Katherine WT Lee. (2021). Reflection literacy: A multilevel perspective on the challenges of using reflections in higher education through a comprehensive literature review. Educational Research Review 32 , 100376. https://doi.org/10.1016j.edurev.2020.100376 

Graham Gibbs. (1988). Learning by doing: A guide to teaching and learning methods. Further Education Unit Publisher: Oxford Polytechnic. 

Seyed Parsa Neshaei, Thiemo Wambsganss, Hind El Bouchrifi, and Tanja Käser. (2025). MindMate: Exploring the Effect of Conversational Agents on Reflective Writing. In Proceedings of the Extended Abstracts of the CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI EA ’25). Association for Computing Machinery, New York, NY, USA, Article 397, 1–9. https://doi.org/10.1145/3706599.3720029 

 

Creative Commons Licence

AUTHOR: Thiemo Wambsganss

Prof. Dr. Thiemo Wambsganss ist Professor für Digital Technology Management am Institute Digital Technology Management (IDTM) an der Berner Fachhochschule, und Leiter der Forschungsgruppe des Human-Centered AI-based Learning Systems (HAIS) Lab. Er beschäftigt sich in seiner Forschung unter anderem mit der humanzentrischen Gestaltung, Entwicklung und Evaluierung von Digitalen Lernsystemen basierende auf künstlicher Intelligenz.

AUTHOR: Léane Wettstein

Léane Wettstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Digital Technology Management und promoviert an der Universität St. Gallen (HSG) im Bereich Business Innovation. Mit einem Hintergrund in Psychologie widmet sie sich in ihrer Forschung der Wahrnehmung von Vertrauen sowie dem ethischen Einsatz von KI-Technologien im Bildungswesen.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

Es wurden leider keine ähnlichen Beiträge gefunden.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert