Digitale Demokratieforschung, die wir wirklich brauchen

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Die liberale Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug. Nur ein kleines Land leistet Widerstand, die Schweiz. Wie lange noch? Die Digitalisierung fördert den Aufstieg der Autokratien, doch kann sie auch den Bewahrern der Demokratie helfen?

Vor kurzem stellte mir eine ehemalige Studentin, heute Digitalisierungsverantwortliche in ihrem Unternehmen, die Frage: «Warum akzeptieren die Menschen autokratisches Verhalten?» Sie erwartete keine Antwort, sondern drückte nur ihr Unverständnis darüber aus, dass Herrschaft akzeptiert wird – überall auf der Welt, auch bei uns. Sogar die Römer, die einst nichts mehr fürchteten als einen König, akzeptierten irgendwann einen Kaiser.

Autokraten sind wieder in vielen mehr oder weniger liberalen Demokratien im Vormarsch. Viele klagen darüber, aber nur wenige setzen sich damit offen und vorurteilsfrei auseinander. Erst in den letzten Jahren haben deutsche Soziolg*innen angefangen, sich für die Motivation jener Wähler*innen zu interessieren, welche für das Ende der liberalen Demokratie stimmen.

Die mittlerweile recht eindeutige Diagnose lautet (pointiert formuliert): Zum ersten Mal seit 400 Jahren erwarten die Menschen nicht eine bessere, sondern eine schlechtere Zukunft für die Gesellschaft. Es gab zwar in den letzten 400 Jahren immer wieder Phasen, in denen der Zukunftsoptimismus zusammenbrach – und etwa der Untergang des Abendlands prognostiziert wurde – aber nie in einer solchen Form, die Wohlstand, gutes Leben und Glauben an die eigene Zukunft mit Pessimismus für die Gesellschaft und für die eigenen Kindeskinder kombiniert.  Das ist eine Gemengelage, welche den Schluss aufdrängt, dass unsere Kultur gerade untergeht, so wie vor unserer Kultur schon viele andere Kulturen untergegangen sind.

Autokraten versprechen derzeit fast überall den Weg zurück in die Vergangenheit, in ein Goldenes Zeitalter, wie es die Mythen in der Antike beschrieben. Die Zukunft liegt für sie und ihre stark wachsende Anhänger*innenschar in den Werten von gestern – in einer Welt ohne liberale Demokratie, ohne Austausch mit Andersdenkenden, ohne neuen Erkenntnisse und sich stetig wandelnde Spielregeln.

7 Dämonen gegen die liberale Demokratie

Diese Faszination für absolute Herrschaft ist gefährlich. Man sollte sich ihr widersetzen. Aber widerstand ist zu wenig und stärkt meist sogar die Autokrat*innen. Die liberale Demokratie bewahren kann nur, wer sich der Unzufriedenheit der Menschen stellt und sich mit der Rolle der Digitalisierung in den antiliberalen Entwicklungen stellt. Zwar gäbe es die Unzufriedenheit vermutlich auch ohne Digitalisierung, aber die Digitalisierung fördert und verstärkt sie. Hier eine Liste von Phänomenen, welche direkt oder indirekt die Unzufriedenheit nähren:

  • DEMOKRATISCHE BLOCKADE: Politik wird zunehmend entscheidungsunfähig, da die Berücksichtigung aller Partikularinteressen Problemlösungen verhindert. Das Internet verstärkt laute Einzelinteressen, digitale Analysen machen Widersprüche sichtbar und erschweren Konsens. Selbst beschlossene Handlungen werden durch Partizipationsrechte gebremst. Digitale Technologien ermöglichen Einzelpersonen, Kampagnen wie Massenbewegungen wirken zu lassen. Hoffnungslos erscheint dies, weil all dies fast unisono als Fortschritt gepriesen wird.
  • SCHWÄCHUNG DER VERWALTUNG: Verwaltung kann mit Digitalisierung und wachsender Komplexität nicht mithalten und wird zu widersprüchlichem Verhalten gezwungen: Härte gegen Brave, Milde gegen Regelbrecher, Wirtschaftsnähe und zugleich Bürokratie. Konzepte zur digitalen Transformation existieren, werden aber nicht verfolgt. Trotzdem erzielte Effizienzgewinne werden in den Ausbau von Kontrollen investiert, beim Bau einer digitalen Infrastruktur für die Wirtschaft geht es dagegen nur langsam voran. Der digitale Staat wirkt wie der Turmbau zu Babel, die Reden darüber wie Menetekel.
  • IRRUNGEN DES JOURNALISMUS: Viele Medien sehen ihre Aufgabe darin, Regierungen durch interne Konfliktförderung und externe Kritik zu schwächen. Die Klick-Logik im Kampf um Werbeeinnahmen rechtfertigt dies ökonomisch. Zugleich werden grosse Herausforderungen ignoriert oder mit Fake News überdeckt. Dies motiviert zum Widerstand gegen politische Entscheide, demotiviert aber konstruktives Engagement. Politik, Verwaltung und die Gatekeeper-Funktion des Journalismus leiden gleichermaßen.
  • FILTER BUBBLES UND INFORMATION OVERKILL: Im Netz boomen Blasen mit Verschwörungstheorien, oft vereint im Widerstand gegen das demokratische Establishment. Digitale Dienste (Profiling, Microtargeting, Deepfakes) fördern Emotionalisierung, Spaltung und Diskursverweigerung. Lügen verbreiten sich direkt durch Technik und indirekt durch Informationsüberflutung. Faktenchecks gegen Fake News verbreiten diese selbst weiter; KI-gestützte „Faktenchecker“ werden voraussichtlich das Problem verstärken.
  • DIGITALE AGGRESSION: Die weitgehende Freiheit im Netz fördert Hass, Frustration, Wut und Aggression. Früher wirksame, ordnende Einschränkungen fehlen. Konzepte zur Lösung existieren bislang nicht.
  • WERTE-CHAOS: Die Illusion gemeinsamer Werte zerfällt. Kinder erhalten je nach Elternhaus völlig unterschiedliche Prägungen, kulturelle Gräben durchziehen die Länder. Werte erleben zwar einen Hype, werden aber widersprüchlich kombiniert. Berufsalltag und Privatleben sind von Zielkonflikten geprägt, Identitäten werden gehypt oder verworfen. Politische Diskussionen treten hinter Werte-Dissens zurück. Und im Netz findet jede*r Bestätigung für eigene Werte, was die Fronten verhärtet.
  • VERLUST DER GEWISSHEITEN: Fachspezialist*innen erleben Grundsatzdiskurse über ehemals gesicherte Grundlagen. Grenzgänger stoßen auf enge fachliche Weltsichten ohne Hinterfragung, verstärkt durch Werteunterschiede und fehlende Gemeinsamkeiten. Die Vielzahl spezialisierter Masterstudiengänge entwurzelt Fachdiskurse und erzwingt ständige Vorab-Aushandlungen. Allverfügbares Wissen und Unwissen im Netz verstärkt die Desorientierung. Früher standen wir „auf den Schultern von Riesen“, heute lasten „Big Beautiful Fakes“ auf uns.

All diese Phänomene rauben den Menschen die Lust am gemeinsamen Problemlösen und provozieren zunehmend egoistisches Verhalten. Daran werden analoge Rettungskampagnen und digitale Werkzeuge dann, und nur dann, etwas ändern, wenn sie einerseits das Interesse am Diskus mit den Andersdenken wecken und anderseits die Menschen mindestens teilweise vor den beschriebenen 7 Dämonen schützen.

Kommunikationsjudo, erfunden in der Informatik

Um gegen diese Dämonen erfolgreich anzugehen, sollte man wie echte Informatiker*innen denken. Statt Menschen in Kommunikation zu schulen, haben sie agile Prozesse und DevOps erfunden und so gelernt, Dysfunktionalitäten auszuhebeln. Für die Kommunikation mit den Geschäftsleitungen haben sie neue Begriffe entwickelt – «technische Schulden», «organisatorische IT-Maturität» – und sich die P&L Sprache angeeignet. Und Multi-Stakehoder-Management findet bei ihnen nicht statt, weil es in fokussierten Projekten mit wenigen Stakeholdern nicht notwendig ist.

Mit solcher Schlauheit sollten wir auch die 7 Dämonen bekämpfen und digitale Werkzeuge entwickeln, die Freude machen gesellschaftliche Probleme politisch zu lösen. Ich wiederhole mich ungern, aber hat jemand Ingolfur Blühdorns «Simulative Demokratie» je zu verwirklichen versucht? Hat jemand versucht, Software zu bauen, die auf transparente Weise Diskurse konstruktiv manipuliert und so Konsens entstehen lässt? Oder Software, die den Menschen die Argumente der politischen Gegner nahebringt? Oder ihnen hilft, mit dem Wertechaos umzugehen? Ich fürchte nein. Meines Wissens finden selbst die kreativen Versuche, Agilität mit Policy Sprints in die Politikgestaltung zu importieren, weitgehend vordigital statt.

Zugegeben, Konzepte wie Design, Architektur Muster, Agilität oder DevOps stammen von den Besten der Besten. Und es gibt spannende Konzepte, die nie Verbreitung fanden, weil die Besten der Besten kein Interesse daran hatten. In Sachen Demokratie ist dies – angesichts politscher Meinungsäusserungen von IT-Stars – keine gute Nachricht. Aber vielleicht läuft es ja auch umgekehrt: Karriere kann machen, wer neue Konzepte zur Stärkung der liberalen Demokratie erfindet und erfolgreich baut. Die IT-Geschichte zeigt zumindest, dass geniale Einzelinitiativen und demokratisches Community-Denken sich nicht ausschliessen.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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