Neue Rollen für Schüler:innen und Studierende – Vom Konsumenten zum aktiven Kurator des eigenen Lernens durch generative KI

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Schüler:innen und Studierende nutzen generative KI (GenKI) zunehmend nicht nur als Hilfe, sondern als Ersatz für eigenes Denken – mit weitreichenden Folgen. Doch statt Verbote braucht es Strategien. Dieser Artikel zeigt, wie generative KI lernfördernd eingesetzt werden kann – mit vier zentralen Rollen, die Bildung neu gestalten.

GenKI behindert den Generierungseffekt

Wenn Lehrkräfte alarmiert zur Öffentlichkeit sprechen, sollten wir genau hinhören. In einem Beitrag der Frankfurter Rundschau warnt eine deutsche Lehrerin eindringlich vor einem „riskanten Trend“: Immer mehr Schülerinnen nutzen generative KI-Tools wie ChatGPT, um Hausaufgaben, Referate oder sogar Prüfungsleistungen vollständig automatisiert zu erledigen.[1] Die Sorge: Die technische Entwicklung überholt die schulische Realität – und entzieht ihr langsam die pädagogische Kontrolle.

Ähnlich kritisch äussert sich auch eine US-amerikanische Lehrerin: Sie berichtet von einer Situation, in der sie es zunehmend schwer finde, zwischen echter Eigenleistung und KI-generiertem Output zu unterscheiden. Die Fähigkeit, Gedanken klar zu strukturieren, selbstständig zu schreiben oder komplexe Inhalte kritisch zu hinterfragen – all das sei bei ihren Schüler:innen im Schwinden begriffen.[2] Ein zentraler Grund dafür liegt im sogenannten Generierungseffekt: Lernende erinnern und verstehen Inhalte nachhaltiger, wenn sie diese selbst aktiv formulieren, anstatt sie lediglich zu konsumieren. Wer stattdessen auf generative KI zurückgreift, um fertige Texte zu erhalten, umgeht diesen kognitiven Prozess – und riskiert damit, tieferes Verständnis und langfristiges Lernen zu blockieren.[3] Der Tenor beider Stimmen ist klar: Künstliche Intelligenz bedroht den klassischen Bildungskanon – und trifft auf ein Bildungssystem und Lernende, die kaum darauf vorbereitet sind.

Nutzungen von GenKI als produktives Lernhilfsmittel

Doch so verständlich diese Warnungen sind, sie greifen oft zu kurz. Denn generative KI (GenKI) ist längst nicht nur ein Risiko – sie ist auch eine Chance. Eine Chance, Lernprozesse individueller zu gestalten, digitale Kompetenzen zu fördern, Lehrkräfte zu entlasten und Bildung auf neue Weise inklusiv und effizient zu gestalten. Der Unterschied liegt – wie so oft – in der Art ihrer Nutzung.

In der Studie von Seco, Grösser und Pedrosa (2025) wird ein Überblick über den Status quo und das Potenzial generativer KI in der Hochschulbildung gegeben. Jeon und Lee (2022) haben vier Kernfunktionen identifiziert, in denen GenKI-Systeme wie ChatGPT effektiv eingesetzt werden können: als Interlokutor, Inhaltsanbieter, Lehrassistent und Evaluator. Diese Rollen wurden nicht nur theoretisch abgeleitet, sondern auch in einem Praxistest mit Sprachdozierenden untersucht – mit spannenden Implikationen für die Gestaltung zukünftiger Hochschullehre. Im Folgenden werden die vier Rollen detailliert beschrieben:

1. Interlokutor – GenKI als dialogischer Lernpartner

In ihrer Rolle als Interlokutor wird GenKI zum Sprachrohr für realitätsnahe Interaktion. Studierende können mit KI-gestützten Chatbots simulierte Gespräche führen – etwa mit fiktiven Kunden, Arbeitgebern, Vorgesetzten oder Kolleg:innen. Gerade im Bereich der Sprach- und Kommunikationstrainings bietet diese Funktion enormes Potenzial: GenKI kann auf natürliche Weise Dialoge führen, Kontext erfassen und individuelle Rückfragen beantworten. Besonders vorteilhaft ist dies in fremdsprachlichen Studiengängen oder berufsbezogenen Trainings, bei denen es auf sichere Ausdrucksweise, fachliche Terminologie und kulturelle Kommunikationsmuster ankommt. Studien zeigen, dass GenKI-basierte Sprachdialoge nicht nur die Sprachpraxis fördern, sondern auch Selbstvertrauen und Sprechkompetenz verbessern (Kim, 2019).

2. Inhaltsanbieter – GenKI als dynamische Content-Maschine

In der Rolle des Inhaltsanbieters (Content Provider) unterstützt KI Lehrende bei der Erstellung, Aufbereitung und Personalisierung von Lehrmaterialien. GenAI kann Texte, Aufgaben, Zusammenfassungen, Quizfragen oder sogar grafische Erklärungen automatisch erzeugen – abgestimmt auf Schwierigkeitsgrad, Thema oder Zielgruppe. Auch Audio- oder Videoformate lassen sich (mit Einschränkungen und meist mit Kosten verbunden) generieren oder anpassen. Diese Funktion ist besonders relevant in der hochschulischen Lehre, in der oft individuelle Vertiefungsmaterialien oder adaptive Inhalte benötigt werden. So kann GenKI beispielsweise für schwächere Studierende vereinfachte Erklärungen generieren, während sie für Fortgeschrittene tiefergehende Fallbeispiele oder Transferaufgaben erstellt. Dabei fungiert GenKI nicht als Ersatz für fachliche Expertise, sondern als Erweiterung: Sie liefert Entwürfe, Ideen und Varianten, die Schüler:innen und Studierende weiterentwickeln und kritisch prüfen. Die Qualität ist – vor allem im Textbereich – inzwischen konkurrenzfähig zu menschlich erstelltem Content, wenngleich Einschränkungen bei Originalität, Tiefgang und Multimodalität (z. B. Video, Ton) bestehen (Kim et al., 2020).

3.  Lehrassistent – KI als intelligentes Tutoring-System

Als Lehrassistent fungiert GenAI als sogenanntes Intelligent Tutoring System, das Studierende bei ihrem Lernprozess begleitet. Dabei geht es nicht nur um Informationsbereitstellung, sondern um adaptive Unterstützung: Die KI analysiert Lernverhalten, erkennt Verständnislücken, gibt individualisiertes Feedback und schlägt nächste Lernschritte vor. Beispielsweise kann sie Studierenden nach falsch beantworteten Aufgaben gezielte Hinweise geben, alternative Lösungsmethoden vorschlagen oder Zusatzmaterial anbieten. Diese Funktion ermöglicht eine engmaschige, datengestützte Betreuung – insbesondere in grossen Lehrveranstaltungen oder digitalen Lernsettings, in denen individuelle Betreuung sonst schwer umzusetzen ist. Studien zeigen, dass solche Systeme besonders für leistungsschwächere oder unerfahrene Lernende grosse Vorteile bringen können – etwa durch gezieltes Scaffolding, d. h. das schrittweise Anleiten zur Selbstständigkeit (Hooshyar et al., 2015). Die Voraussetzung ist allerdings eine kluge didaktische Einbindung: KI sollte unterstützen, nicht ersetzten. Übermässiges Automatisieren kann zu Passivität und Abhängigkeit führen.

4. Evaluator – GenKI als Unterstützung bei Bewertung und Prüfungen

In der Rolle des Evaluators hilft GenKI bei der Erstellung, Durchführung und Korrektur von Leistungsnachweisen. So kann sie Multiple-Choice-Fragen generieren, Prüfungsaufgaben formulieren, Essays vorbewerten oder Rückmeldungen automatisieren. Besonders in grossen Kursen bietet das enorme Zeiteinsparung und eine gewisse Standardisierung. Ein Beispiel ist das automatisierte Scoring von Essays oder Kurzantworten, bei dem GenKI Inhalte auf Kriterien wie Kohärenz, Argumentationslogik oder Grammatik prüft. Erste Studien zeigen, dass die Übereinstimmung mit menschlichen Bewertungen bereits in manchen Fällen bei über 95 % liegt (Gierl et al., 2014). Dennoch bleibt Skepsis angebracht: Bewertungsmassstäbe müssen transparent, nachvollziehbar und pädagogisch sinnvoll sein – das kann nicht allein von Algorithmen geleistet werden.

Appell

Wer den Herausforderungen von generativer KI nur mit Verboten begegnet, verpasst ihre bildungspolitische Chance – denn erst durch gezielte didaktische Einbettung, kritische Reflexion und neue Rollen für Lernende kann aus technischer Disruption ein echter Fortschritt für Lehren und Lernen werden.

 

Quellen

[1] https://www.fr.de/panorama/macht-das-leben-zur-hoelle-lehrerin-kritisiert-riskanten-trend-an-deutschen-schulen-zr-93738219.html

[2] https://www.fr.de/panorama/us-lehrerin-schlaegt-alarm-ki-veraendert-das-schreiben-der-schueler-grundlegend-zr-92756678.html

[3] https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:7330134708107755521/

Gierl, M.J., Latifi, S., Lai, H., Boulais, A.P., Champlain, A. (2014). Automated essay scoring and the future of educational assessment in medical education. Medical Education, 48(10), 950-962. https://doi.org/10.1111/medu.12517

Hooshyar, D., Ahmad, R.B., Yousefi, M., Yusop, F.D., Horng, S.J. (2015). A flowchart-based intelligent tutoring system for improving problem-solving skills of novice programmers. Journal of Computer Assisted Learning, 31, 345-361. https://doi.org/10.1111/jcal.12099

Kim, N.Y. (2019). A Study on the Use of Artificial Intelligence Chatbots for Improving English Grammar Skills. Journal of Digital Convergence, 17(8), 37-46. https://doi.org/10.14400/JDC.2019.17.8.037

Kim, J., Shin, S., Bae, K., Oh, S., Park, E., del Pobil, A. P. (2020). Can AI be a content generator? Effects of content generators and information delivery methods on the psychology of content consumers. Telematics and Informatics, 55, 101452. https://doi.org/10.1016/j.tele.2020.101452

Lee, S., & Jeon, J. (2022). Visualizing a disembodied agent: young EFL learners’ perceptions of voice-controlled conversational agents as language partners. Computer Assisted Language Learning37(5–6), 1048–1073. https://doi.org/10.1080/09588221.2022.2067182

Seco, D., Grösser, S. N., & Pedrosa, A. M. (2025). Use of Generative Artificial Intelligence tools in higher education environments. Multidisciplinary Journal for Education, Social and Technological Sciences12(1), 156–175. https://doi.org/10.4995/muse.2025.23623

 

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AUTHOR: Stefan Grösser

Stefan Grösser ist Professor für Decision Sciences and Policy und leitet die Forschungsgruppe zu Management Science, Innovation and Sustainability an der BFH Technik & Informatik. Er doziert im Master of Engineering (MSE) und arbeitet in mehreren Forschungsprojekten in den Bereichen Simulationsmethodik (System Dynamics, Agent-based Modelling, Machine Learning), Entscheidungsfindung unter Verwendung künstlicher Intelligenz (Decision Making and Management Science), Kreislaufwirtschaft (Circular Economy, Circular Business Models). Seine Industrien sind insbesondere die Solar-, Energie- und Gesundheitsbranche. Des Weiteren mit Beiträgen zu modernen Lerntechnologien.

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