Künstliche Intelligenz, die Mammografien auswerten und Brustkrebs erkennen kann, Apps, die die Patientendaten in Spitälern organisieren – am Swiss E-Health Forum drehte sich am 8. März alles um die derzeitigen Trendthemen KI und E-Health-Apps im Gesundheitsbereich. MedizinerInnen fühlten den Innovationen auf den Puls.
Jürg Blaser, der Präsident der der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Informatik SGMI eröffnet das Swiss E-Health Forum 2019. Er gibt einen Rückblick auf die Veränderungen im Gesundheitswesen der vergangenen Jahre. So beobachtet Blaser neben einer zunehmenden Zersplitterung der Spitäler auch, dass es immer weniger Notfallstationen gebe. Gleichzeitig habe er bei einem Realitycheck in einem renommierten Privatspital erlebt, dass die Patientendossiers noch immer auf Papier geführt werden. Dies sei noch immer weit verbreitet. Für die Einführung eines Klinikinformationssystems (KIS) brauche es einen Kulturwandel.
In punkto Datenanalyse sind noch viele Fragen offen, sagt Blaser. Forschende wollen zwar medizinische Daten von den Spitälern, aber nichts für den Aufwand zahlen. Auch tragen Spitäler das Risiko ihre gute Reputation zu verlieren, wenn es zu einem Datenleck kommt.
„Der Föderalismus und das elektronische Patientendossier passen nicht besonders gut zusammen“, sagt Blaser. Zentralistisch organisierte Staaten wie in Skandinavien seien viel weiter und hätten es leichter.
KI – Hype oder ernstzunehmende Hilfe?
Zum Thema Künstliche Intelligenz liefern sich Dr. Michael Dahlweid, CTO der Inselgruppe Bern und Dr. Christian Lovis, Leiter der Medizininformatik des Unispitals Genf einen Schlagabtausch. Für Dahlweid ist AI in der Medizin längst kein Hype mehr und hilft bereits in der Diagnostik. Lovis stimmt dem zwar zu, dennoch habe AI schon mehrere Trendwellen erlebt. Aber ohne den Menschen funktioniere es nicht – „ich würde nicht in ein Flugzeug steigen ohne Computer, aber auch in nicht in eines nur mit Computer“, sagt er. Er glaube nicht, dass AI morgen allein funktioniere. Es brauche den Menschen.
Natürlich helfe eine smarte Zahnbürste dabei, besser die Zähne zu pflegen. Doch sei dies letztlich noch ein banaler Effekt, resümiert Lovis. Ja, dies sei banal, gibt Dahlweid zu. Dennoch investiere die Industrie Millarden in die Entwicklung angewandter smarter Produkte. Aber es gebe bereits in der Diagnostik insbesondere in der Radiologie grosse Hilfe durch AI. Indes glaube er nicht, dass die MedizinerInnen wegen den Diagnostikrobotern ihre Jobs verlieren werden. AI ist eine zusätzliche moderne Technologie, mit der es möglich ist ethisch zu handeln. „Denn wenn wir eine gute Diagnostikmethode absichtlich ausser Acht lassen, wäre das unethisch.“ Künftig sei es eine Frage der Qualitätssicherheit, ob AI benützt werde oder nicht, betont Dahlweid.
Lovis stimmt dem zu, glaubt aber nicht, dass es so schnell gehen werde, AI standardmässig in der Diagnostik zu verwenden. AI sei nicht Machine Learning, sonden Machine Learning sei nur ein kleiner Teil der AI.
Lovis forscht auf der Grundlage von 1,4 Millionen Patientendaten über 20 Jahre – „mit denen spielen wir“, sagt er. Oft sei nicht klar, wie AI die Muster erkennen, manchmal ergebe es ein Muster, aber wenn die Daten nur geringfügig verändert würden, funktioniere die Diagnostik nicht mehr. „Effektiv wissen wir nicht, warum wann es funktioniert“, sagt Lovis. „Wir müssen wieder richtige Forschende sein.“
Auch Dahlweid hat einen Versuch mit 50.000 Datensätzen zum Pneumothorax unternommen und von AI untersuchen lassen. Aber es kam nicht zu den erwarteten Ergebnissen. „Wenn wir AI falsch trainieren, bekommen wir keine verlässlichen Resultate“, sagt er. Noch wisse man eigentlich zu wenig, wie genau AI Muster erkennen. „Wir haben eine Probierphase und wir werden weiter probieren, auch mit mehreren AI-Systemen gleichzeitig“, erläutert Dahlweid. Das sei der Status Quo: die Forschung „probiert“ und erarbeite sich die Grundlagen, um die Mustererkennung dereinst zu verstehen und die medizinische Evidenz beweisen. Das brauche grossen Einsatz. Lovis ergänzt: „Allein die Aufbereitung der Datensätze braucht grosse Investitionen, das zahlt kein SNF.“
KI organisiert Datenflut in der Intensivmedizin
Wie AI in der Intensivmedizin helfen kann, erläutert die Medizinerin und Leiterin der Intensivmedizin Neurochirurgie Emanuela Keller vom Unispital Zürich. Nötig wird die technische Unterstützung, weil immer mehr PatientInnen an mehreren Krankheiten und chronischen Krankheiten gleichzeitig leiden. Dies generiere eine Vielzahl an Werten aus Blut, Organen und Messungen, die unübersichtlich sein können. Im elektronischen Patientendossier (EPD) laufen alle Resultate zusammen. Hinzu kommen persönliche Daten der PatientInnen, die aus Apps und dem Genom stammen sowie multiple Biosensoren, Laborwerte und medizinische Geräte, die ebenfalls Daten generieren.
Es wurde ein ICU-Cockpit entwickelt, das alle Daten einer/s PatientIn bündelt. Damit sei Präzisionsmedizin möglich, bei der die Vorgeschichte, Lifestyledaten und Genomen miteinfliessen – eine personalisierte Therapie wird möglich. Zum Teil entstehen so täglich einige Terabyte Daten, die nach einer Pseudoanonymisierung in der Forschung genutzt werden. Zudem wurde ein Videoüberwachungssystem entwickelt, das mittels Algorithmus Alarm auslöst, wenn Lebensgefahr besteht. Doch geben die Algorithmen oft Fehlalarm, weil sie eine Wertveränderung falsch interpretieren. Besonders anspruchsvoll sei, dem Algorithmus beizubringen, dass er erkennt, wenn die PatientInnen aus einem stabilen Zustand in eine lebensbedrohliche Situation entgleisen.
Die Entwicklung sei schon weit fortgeschritten, dennoch: „Es dauert noch eine Weile, bis wir das System in den Alltag unserer Station einführen“, sagt Keller. Die nächsten Schritte:
- die Algorithmen werden validiert,
- die Benutzeroberfläche optimiert und
- letztlich die Software validiert.
Zudem hat die Neurologie des Unispitals Zürich in einem SNF-Projekt eine Früherkennungsapp für epileptische Anfälle entwickelt, erläutert Keller. Die App sammelt dauerhaft Daten über das Bewegungsmuster der AnwenderInnen. Vor einem Anfall ändert das Bewegungsmuster signifikant und die App warnt etwa zwei Stunden vorher, dass das Risiko für einen Anfall steigt.
Wie AI den klinischen Alltag unterstützt
Der nächste Referent ist Roland Naef, er leitet das ICT Medizinische Applikationen & DFL Research Data Service Center am Unispital Zürich und entwickelt dort seit zehn Jahren einen dynamischen Workflow für die verschiedenen Stationen des Spitals. Dabei wurden Echtzeit-Dashboards entwickelt, und u.a. die HygienikerInnen installierten eine Früherkennung, zudem werden alle Leistungen und Medikamente automatisch erfasst. Die dynamische, regelbasierte klinische Entscheidungsunterstützung helfe seit acht Jahren im Alltag, sagt Naef. Ein individueller Patientenworkflow gibt Therapieempfehlungen aufgrund der angewendeten Medikamente und erstellten Diagnosen. Algorithmen erkennen Muster in radiologischen Aufnahmen und anderen Bildgebungsverfahren. „In diesem Bereich wird verstärkt geforscht“, sagt Naef. Weiter geforscht wird unter anderem auch an multifaktorieller Mustererkennung. „Das ist die Königsdisziplin, aber wir sind noch am Anfang, das dauert noch ziemlich lange“, so Naef. Weiter sei man schon bei den seltenen Krankheiten, wo eine App bei der Diagnostik hilft, aber auch dies sei noch weit entfernt von einer kommerziellen Lösung. Naef betont, dass die grössten Investitionskosten nach dem Ende eines Prototypen entstünden, wenn es um die Produktentwicklung gehe und den Einsatz im Alltag.
Flissende Grenze zwischen Gadget und Medizinprodukt
Welche Potenziale medizinische Apps für die Diagnose und Behandlung haben, erläutert der Medizininformatiker Mike Lehmann von der BFH-TI. Vor allem die rasante Entwicklung des Internet of Things bringe neue Anwendungen hervor. So sind Sensoren mittlerweile sehr verbreitet, die kontinuierlich Werte messen und Daten sammeln. «Die Grenze zwischen Gadget und Medizinprodukt verschwimmt, gleichzeitig werden immer mehr Menschen technikaffin», sagt Lehmann. Dadurch bekämen PatientInnen mehr Kompetenz und auch Verantwortung. Lehmann berichtet von einem Mann, dessen Leben dank eines Sensors in einer Livestyle-App gerettet werden konnte, weil dieser ein Vorhofflimmern erkannte.
Auch die ÄrztInnen ändern sich – die neue Generation der Digital Natives versendet auch Patientendaten über Whatsapp dank Verschlüsselung. „Aber womöglich werden die ÄrztInnen mehr zu Coaches und die PatientInnen managen ihre Gesundheit selbst“, sagt Lehmann.
Doch Lehmann hat auch gruselige Visionen parat: Ein Worst-Case der digitalen Gesundheit, wäre ein Mord durch einen Hackerangriff auf Herzschrittmachen. Auch die Frage, was machen die Krankenkassen mit Daten aus Gesundheitsapps? Zahlen diese dann womöglich gewissen Behandlungen nicht?
Für die Praxis wünscht sich Lehmann eine App, die PatientInnen durch eine Behandlung lotst, bei der Termine, Werte und Diagnosen integriert sind und mit den behandelnden MedizinerInnen verbunden ist.
Apps und digitale Services im Praxistest
Im nächsten Panel stellen Entwickler ihre E-Health-Produkte vor und Expertinnen geben ihr Urteil ab.
- Nodus Medicus: Dr. Sophie Brackertz hat mit ihrem Start-up einen digitalen Chirurgie-Assistenten entwickelt, der durch den komplexen Prozess einer Operation führt von Vorbereitung bis Dokumentation, bei dem viele Ineffizienzen vorkommen können.
Urteil von Emanuela Keller, Leiterin Intensivmedizin Neurochirurgie, Unispital Zürich: „Gratuliere zu dieser App, da besteht ein grosser Bedarf.“ Keller sieht jedoch Probleme, die App auf unterschiedliche Fachgebiete zuzuschneiden. Dies generiere ein anspruchsvolles Customizing. Zudem könnte die Einbindung in das bestehende KIS schwierig sein.
- Ally Science: MedizininformatikerInnen der BFH-TI haben eine App für Pollenallergiker entwickelt. Heute gibt es bereits 8.000 NutzerInnen schweizweit. Die eingespeisten Daten werden anonymisiert an die Forschung weitergegeben.
Urteil von Daniel Taperneaux, Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz: Die App ist sehr gut, bietet Mehrwert, auch die grafische Darstellung der Symptome findet er gelungen, aus Patientensicht ist der Datenschutz gut gelöst.
- PalliaCare: ein Web-/Mobil-Service der alle Beteiligten bei der Betreuung von PalliativpatientInnen über Schnittstellen vernetzt, ÄrztInnen, Pflege, Spitex, Seelsorge u.a.. Nach den ersten Pilotversuchen im Kanton Solothurn wird PalliaCare inzwischen von mehreren Spitex-Organisationen in Solothurn, Bern, Aargau sowie von einem Hospiz im Tessin erfolgreich eingesetzt. PalliaCare ist ein Gemeinschaftswerk von vier Kooperationspartnern und basiert auf den Swiss Medical Internet Services (SMIS) der Ärztekasse.
Urteil von Pflegeexperte Martin Fröhlich vom Unispital Zürich: „Gratulation zu dieser Lösung, die alle wichtigen AkteurInnen zusammenbringt und eine bessere Betreuung ermöglicht.“ Er wünscht sich zudem eine Weiterentwicklung der Chat- in eine Konferenz-Funktion.
- Benecura: App für Swica-Versicherte, die die Flut an medizinischen Informationen ordnet und bewertet. Der Symptomcheck hilft PatientInnen dabei zu entscheiden, ob sie sich in ärztliche Behandlung begeben müssen, welche Selbstmedikation möglich ist oder ob es sich um einen Notfall handelt. Die Daten sind vertraulich, Swica kommt nicht an diese heran.
Urteil von Daniel Taperneaux, Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz: Die App soll ein sehr komplexes Problem lösen. Die Steuerung und Navigation durch das System sowie die Empfehlung seien sehr gut gelöst. Jedoch enden wohl viele Anfragen mit der Empfehlung zum/r Ärztin zu gehen. Besorgt sei er, dass eine Krankenkasse Daten sammle. Da stehe die Frage im Raum, macht Swica damit Risikoerhebungen über die NutzerInnen? Taperneaux würde gern eine dynamische Einwillung integrieren, um die Nutzung durch die Forschung zu erlauben.
- Phellow: Die App vernetzt die privaten Gesundheitsapps eines/r PatientIn mit dem EPD und anderen eHealth-Strukturen und ermöglicht die Interaktion mit GesundheitsversorgerInnen. Angewendet wird die App bereits an der Uniklinik Heidelberg bei KardiologiepatientInnen.
Urteil von Pflegeexperte Martin Fröhlich vom Unispital Zürich: „Gratulation zu dieser App, die viele Probleme löst.“ Oft werden PatientInnen in den Notfall eingeliefert, von denen man keine Daten hat. Hätten sie diese App, könnte man diese Daten auslesen und leichter für die Diagnostik nutzen. Allerdings steht und fällt die Nutzung mit der Affinität der NutzerInnen.
Zum Abschluss des Vormittag geht Jürg Lehni auf die Bühne. Der Geschäftsführer von MKR Consulting und Veranstalter der Infosocietydays tritt nach 20 Jahren kürzer und gibt die Leitung ab Sommer an Pamela Balmer ab.
Das Swiss E-Health Forum ist Teil der Infosocietydays und fand am 7. und 8. März statt. Zu der Veranstaltungsreihe gehört auch das Swiss E-Government Forum. Alle Referate des E-Health Forums finden Sie hier.
Wir haben am 8. März vom Swiss E-Health Forums gebloggt, den Liveblog finden Sie hier unten.