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Wie KI und Apps im Klinikalltag helfen – Tagungsbericht vom Swiss E-Health Forum 2019

Künstliche Intelligenz, die Mammografien auswerten und Brustkrebs erkennen kann, Apps, die die Patientendaten in Spitälern organisieren – am Swiss E-Health Forum drehte sich am 8. März alles um die derzeitigen Trendthemen KI und E-Health-Apps im Gesundheitsbereich. MedizinerInnen fühlten den Innovationen auf den Puls.

Jürg Blaser, der Präsident der der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Informatik SGMI eröffnet das Swiss E-Health Forum 2019. Er gibt einen Rückblick auf die Veränderungen im Gesundheitswesen der vergangenen Jahre. So beobachtet Blaser neben einer zunehmenden Zersplitterung der Spitäler auch, dass es immer weniger Notfallstationen gebe. Gleichzeitig habe er bei einem Realitycheck in einem renommierten Privatspital erlebt, dass die Patientendossiers noch immer auf Papier geführt werden. Dies sei noch immer weit verbreitet. Für die Einführung eines Klinikinformationssystems (KIS) brauche es einen Kulturwandel.

In punkto Datenanalyse sind noch viele Fragen offen, sagt Blaser. Forschende wollen zwar medizinische Daten von den Spitälern, aber nichts für den Aufwand zahlen. Auch tragen Spitäler das Risiko ihre gute Reputation zu verlieren, wenn es zu einem Datenleck kommt.
„Der Föderalismus und das elektronische Patientendossier passen nicht besonders gut zusammen“, sagt Blaser. Zentralistisch organisierte Staaten wie in Skandinavien seien viel weiter und hätten es leichter.

KI – Hype oder ernstzunehmende Hilfe?

Zum Thema Künstliche Intelligenz liefern sich Dr. Michael Dahlweid, CTO der Inselgruppe Bern und Dr. Christian Lovis, Leiter der Medizininformatik des Unispitals Genf einen Schlagabtausch. Für Dahlweid ist AI in der Medizin längst kein Hype mehr und hilft bereits in der Diagnostik. Lovis stimmt dem zwar zu, dennoch habe AI schon mehrere Trendwellen erlebt. Aber ohne den Menschen funktioniere es nicht – „ich würde nicht in ein Flugzeug steigen ohne Computer, aber auch in nicht in eines nur mit Computer“, sagt er. Er glaube nicht, dass AI morgen allein funktioniere. Es brauche den Menschen.

Natürlich helfe eine smarte Zahnbürste dabei, besser die Zähne zu pflegen. Doch sei dies letztlich noch ein banaler Effekt, resümiert Lovis. Ja, dies sei banal, gibt Dahlweid zu. Dennoch investiere die Industrie Millarden in die Entwicklung angewandter smarter Produkte. Aber es gebe bereits in der Diagnostik insbesondere in der Radiologie grosse Hilfe durch AI. Indes glaube er nicht, dass die MedizinerInnen wegen den Diagnostikrobotern ihre Jobs verlieren werden. AI ist eine zusätzliche moderne Technologie, mit der es möglich ist ethisch zu handeln. „Denn wenn wir eine gute Diagnostikmethode absichtlich ausser Acht lassen, wäre das unethisch.“ Künftig sei es eine Frage der Qualitätssicherheit, ob AI benützt werde oder nicht, betont Dahlweid.

Lovis stimmt dem zu, glaubt aber nicht, dass es so schnell gehen werde, AI standardmässig in der Diagnostik zu verwenden. AI sei nicht Machine Learning, sonden Machine Learning sei nur ein kleiner Teil der AI.

Lovis forscht auf der Grundlage von 1,4 Millionen Patientendaten über 20 Jahre – „mit denen spielen wir“, sagt er. Oft sei nicht klar, wie AI die Muster erkennen, manchmal ergebe es ein Muster, aber wenn die Daten nur geringfügig verändert würden, funktioniere die Diagnostik nicht mehr. „Effektiv wissen wir nicht, warum wann es funktioniert“, sagt Lovis. „Wir müssen wieder richtige Forschende sein.“

Auch Dahlweid hat einen Versuch mit 50.000 Datensätzen zum Pneumothorax unternommen und von AI untersuchen lassen. Aber es kam nicht zu den erwarteten Ergebnissen. „Wenn wir AI falsch trainieren, bekommen wir keine verlässlichen Resultate“, sagt er. Noch wisse man eigentlich zu wenig, wie genau AI Muster erkennen. „Wir haben eine Probierphase und wir werden weiter probieren, auch mit mehreren AI-Systemen gleichzeitig“, erläutert Dahlweid. Das sei der Status Quo: die Forschung „probiert“ und erarbeite sich die Grundlagen, um die Mustererkennung dereinst zu verstehen und die medizinische Evidenz beweisen. Das brauche grossen Einsatz. Lovis ergänzt: „Allein die Aufbereitung der Datensätze braucht grosse Investitionen, das zahlt kein SNF.“

KI organisiert Datenflut in der Intensivmedizin

Wie AI in der Intensivmedizin helfen kann, erläutert die Medizinerin und Leiterin der Intensivmedizin Neurochirurgie Emanuela Keller vom Unispital Zürich. Nötig wird die technische Unterstützung, weil immer mehr PatientInnen an mehreren Krankheiten und chronischen Krankheiten gleichzeitig leiden. Dies generiere eine Vielzahl an Werten aus Blut, Organen und Messungen, die unübersichtlich sein können. Im elektronischen Patientendossier (EPD) laufen alle Resultate zusammen. Hinzu kommen persönliche Daten der PatientInnen, die aus Apps und dem Genom stammen sowie multiple Biosensoren, Laborwerte und medizinische Geräte, die ebenfalls Daten generieren.

Es wurde ein ICU-Cockpit entwickelt, das alle Daten einer/s PatientIn bündelt. Damit sei Präzisionsmedizin möglich, bei der die Vorgeschichte, Lifestyledaten und Genomen miteinfliessen – eine personalisierte Therapie wird möglich. Zum Teil entstehen so täglich einige Terabyte Daten, die nach einer Pseudoanonymisierung in der Forschung genutzt werden. Zudem wurde ein Videoüberwachungssystem entwickelt, das mittels Algorithmus Alarm auslöst, wenn Lebensgefahr besteht. Doch geben die Algorithmen oft Fehlalarm, weil sie eine Wertveränderung falsch interpretieren. Besonders anspruchsvoll sei, dem Algorithmus beizubringen, dass er erkennt, wenn die PatientInnen aus einem stabilen Zustand in eine lebensbedrohliche Situation entgleisen.

Die Entwicklung sei schon weit fortgeschritten, dennoch: „Es dauert noch eine Weile, bis wir das System in den Alltag unserer Station einführen“, sagt Keller. Die nächsten Schritte:

  • die Algorithmen werden validiert,
  • die Benutzeroberfläche optimiert und
  • letztlich die Software validiert.

Zudem hat die Neurologie des Unispitals Zürich  in einem SNF-Projekt eine Früherkennungsapp für epileptische Anfälle entwickelt, erläutert Keller. Die App sammelt dauerhaft Daten über das Bewegungsmuster der AnwenderInnen. Vor einem Anfall ändert das Bewegungsmuster signifikant und die App warnt etwa zwei Stunden vorher, dass das Risiko für einen Anfall steigt.

Wie AI den klinischen Alltag unterstützt

Der nächste Referent ist Roland Naef, er leitet das ICT Medizinische Applikationen & DFL Research Data Service Center am Unispital Zürich und entwickelt dort seit zehn Jahren einen dynamischen Workflow für die verschiedenen Stationen des Spitals. Dabei wurden Echtzeit-Dashboards entwickelt, und u.a. die HygienikerInnen installierten eine Früherkennung, zudem werden alle Leistungen und Medikamente automatisch erfasst. Die dynamische, regelbasierte klinische Entscheidungsunterstützung helfe seit acht Jahren im Alltag, sagt Naef. Ein individueller Patientenworkflow gibt Therapieempfehlungen aufgrund der angewendeten Medikamente und erstellten Diagnosen. Algorithmen erkennen Muster in radiologischen Aufnahmen und anderen Bildgebungsverfahren. „In diesem Bereich wird verstärkt geforscht“, sagt Naef. Weiter geforscht wird unter anderem auch an multifaktorieller Mustererkennung. „Das ist die Königsdisziplin, aber wir sind noch am Anfang, das dauert noch ziemlich lange“, so Naef. Weiter sei man schon bei den seltenen Krankheiten, wo eine App bei der Diagnostik hilft, aber auch dies sei noch weit entfernt von einer kommerziellen Lösung. Naef betont, dass die grössten Investitionskosten nach dem Ende eines Prototypen entstünden, wenn es um die Produktentwicklung gehe und den Einsatz im Alltag.

Flissende Grenze zwischen Gadget und Medizinprodukt

Welche Potenziale medizinische Apps für die Diagnose und Behandlung haben, erläutert der Medizininformatiker Mike Lehmann von der BFH-TI. Vor allem die rasante Entwicklung des Internet of Things bringe neue Anwendungen hervor. So sind Sensoren mittlerweile sehr verbreitet, die kontinuierlich Werte messen und Daten sammeln. «Die Grenze zwischen Gadget und Medizinprodukt verschwimmt, gleichzeitig werden immer mehr Menschen technikaffin», sagt Lehmann. Dadurch bekämen PatientInnen mehr Kompetenz und auch Verantwortung. Lehmann berichtet von einem Mann, dessen Leben dank eines Sensors in einer Livestyle-App gerettet werden konnte, weil dieser ein Vorhofflimmern erkannte.

Auch die ÄrztInnen ändern sich – die neue Generation der Digital Natives versendet auch Patientendaten über Whatsapp dank Verschlüsselung. „Aber womöglich werden die ÄrztInnen mehr zu Coaches und die PatientInnen managen ihre Gesundheit selbst“, sagt Lehmann.

Doch Lehmann hat auch gruselige Visionen parat: Ein Worst-Case der digitalen Gesundheit, wäre ein Mord durch einen Hackerangriff auf Herzschrittmachen. Auch die Frage, was machen die Krankenkassen mit Daten aus Gesundheitsapps? Zahlen diese dann womöglich gewissen Behandlungen nicht?

Für die Praxis wünscht sich Lehmann eine App, die PatientInnen durch eine Behandlung lotst, bei der Termine, Werte und Diagnosen integriert sind und mit den behandelnden MedizinerInnen verbunden ist.

Apps und digitale Services im Praxistest

Im nächsten Panel stellen Entwickler ihre E-Health-Produkte vor und Expertinnen geben ihr Urteil ab.

  • Nodus Medicus: Dr. Sophie Brackertz hat mit ihrem Start-up einen digitalen Chirurgie-Assistenten entwickelt, der durch den komplexen Prozess einer Operation führt von Vorbereitung bis Dokumentation, bei dem viele Ineffizienzen vorkommen können.

Urteil von Emanuela Keller, Leiterin Intensivmedizin Neurochirurgie, Unispital Zürich: „Gratuliere zu dieser App, da besteht ein grosser Bedarf.“ Keller sieht jedoch Probleme, die App auf unterschiedliche Fachgebiete zuzuschneiden. Dies generiere ein anspruchsvolles Customizing. Zudem könnte die Einbindung in das bestehende KIS schwierig sein.

  • Ally Science: MedizininformatikerInnen der BFH-TI haben eine App für Pollenallergiker entwickelt. Heute gibt es bereits 8.000 NutzerInnen schweizweit. Die eingespeisten Daten werden anonymisiert an die Forschung weitergegeben.

Urteil von Daniel Taperneaux, Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz: Die App ist sehr gut, bietet Mehrwert, auch die grafische Darstellung der Symptome findet er gelungen, aus Patientensicht ist der Datenschutz gut gelöst.

  • PalliaCare: ein Web-/Mobil-Service der alle Beteiligten bei der Betreuung von PalliativpatientInnen über Schnittstellen vernetzt, ÄrztInnen, Pflege, Spitex, Seelsorge u.a.. Nach den ersten Pilotversuchen im Kanton Solothurn wird PalliaCare inzwischen von mehreren Spitex-Organisationen in Solothurn, Bern, Aargau sowie von einem Hospiz im Tessin erfolgreich eingesetzt. PalliaCare ist ein Gemeinschaftswerk von vier Kooperationspartnern und basiert auf den Swiss Medical Internet Services (SMIS) der Ärztekasse.

Urteil von Pflegeexperte Martin Fröhlich vom Unispital Zürich: „Gratulation zu dieser Lösung, die alle wichtigen AkteurInnen zusammenbringt und eine bessere Betreuung ermöglicht.“ Er wünscht sich zudem eine Weiterentwicklung der Chat- in eine Konferenz-Funktion.

  • Benecura: App für Swica-Versicherte, die die Flut an medizinischen Informationen ordnet und bewertet. Der Symptomcheck hilft PatientInnen dabei zu entscheiden, ob sie sich in ärztliche Behandlung begeben müssen, welche Selbstmedikation möglich ist oder ob es sich um einen Notfall handelt. Die Daten sind vertraulich, Swica kommt nicht an diese heran.

Urteil von Daniel Taperneaux, Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz: Die App soll ein sehr komplexes Problem lösen. Die Steuerung und Navigation durch das System sowie die Empfehlung seien sehr gut gelöst. Jedoch enden wohl viele Anfragen mit der Empfehlung zum/r Ärztin zu gehen. Besorgt sei er, dass eine Krankenkasse Daten sammle. Da stehe die Frage im Raum, macht Swica damit Risikoerhebungen über die NutzerInnen? Taperneaux würde gern eine dynamische Einwillung integrieren, um die Nutzung durch die Forschung zu erlauben.

  • Phellow: Die App vernetzt die privaten Gesundheitsapps eines/r PatientIn mit dem EPD und anderen eHealth-Strukturen und ermöglicht die Interaktion mit GesundheitsversorgerInnen. Angewendet wird die App bereits an der Uniklinik Heidelberg bei KardiologiepatientInnen.

Urteil von Pflegeexperte Martin Fröhlich vom Unispital Zürich: „Gratulation zu dieser App, die viele Probleme löst.“ Oft werden PatientInnen in den Notfall eingeliefert, von denen man keine Daten hat. Hätten sie diese App, könnte man diese Daten auslesen und leichter für die Diagnostik nutzen. Allerdings steht und fällt die Nutzung mit der Affinität der NutzerInnen.

Zum Abschluss des Vormittag geht Jürg Lehni auf die Bühne. Der Geschäftsführer von MKR Consulting und Veranstalter der Infosocietydays tritt nach 20 Jahren kürzer und gibt die Leitung ab Sommer an Pamela Balmer ab.


Das Swiss E-Health Forum ist Teil der Infosocietydays und fand am 7. und 8. März statt. Zu der Veranstaltungsreihe gehört auch das Swiss E-Government Forum. Alle Referate des E-Health Forums finden Sie hier.

Wir haben am 8. März vom Swiss E-Health Forums gebloggt, den Liveblog finden Sie hier unten.

 

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Digitalisierte Pflegedokumentation: Denkt künftig der Computer für mich?

Klinische Pflegedokumentation ist Teil des pflegerischen Alltages, sei es zur Versorgungsplanung, zur Evaluation erreichter Erfolge oder für Qualitäts- und Abrechnungszwecke. Was dabei zu beachten ist, schreibt unser Autor Dirk Hunstein.

Man sollte meinen, dass mit zunehmender Digitalisierung die bisherige klinische Pflege(prozess)dokumentation ihren rein „Informationen verwahrenden“ Charakter verlöre und zu einer Verbesserung der pflegerischen Versorgung beitrage. Doch solange bestehende Papierformulare 1:1 in eine Software kopiert werden, ist nichts gewonnen. Die elektronische Umsetzung des Pflegeprozesses funktioniert eben nicht über Formulare, sondern über Datenmodelle.

Solche Datenmodelle, wie sie z. B. den pflegerischen Basisassessments der Methode epa (ergebnisorientiertes Pflege-Assessment) zu Grunde liegen, strukturieren Informationen und setzen diese in Prozesse um. Bei epa steht zu Beginn die klinische Entscheidungsfindung, also die Feststellung von Art und Schwere von gesundheitsrelevanten Fähigkeiten und Beeinträchtigungen von PatientInnen (Pflegediagnostik), danach folgen die daraus abgeleitete Ziel- und Massnahmenplanung sowie die abschliessende Evaluation der Wirksamkeit pflegerischen Handelns. Diese aus der pflegerischen Routinedokumentation gewonnenen Primärdaten können anschliessend als Kennzahlen für die fachliche, organisatorische und finanzielle Steuerung sowie für Zwecke der Versorgungsforschung eingesetzt werden und – dabei wird es richtig spannend – für Prognosemodelle genutzt werden.
Bevor hierfür einige Beispiele aufgeführt werden, zum Verständnis zunächst einige Erläuterungen zur Funktionsweise der Instrumente der Methode epa.

Wie epa funktioniert

Die Basisassessmentinstrumente epaAC (Acute Care), epaKIDS (Pediatric Care), epaPSYC (Psychiatric Care) und epaLTC (Long Term Care) der Methode epa sind das Ergebnis eines pflegewissenschaftlichen Praxisforschungsprojekts, das 2002 in den HSK Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden gestartet wurde. Seit 2007 wird die Methode von der ePA-CC GmbH kontinuierlich weiterentwickelt. Kern der Methode ist die Messung (funktionaler) Patientenfähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, sich selbst zu kleiden, sich fortbewegen zu können, Informationen aufzunehmen und interpretieren zu können usw., aber auch psychosozialer Konzepte (z. B. Angst, Schmerz, Traurigkeit) sowie verschiedener Kontextinformationen (z. B. ob Ableitungssystemen für Urin oder Stuhl vorliegen usw.). Alle Informationen werden skaliert erhoben. Je nach Ausprägung seiner Fähigkeiten erhält der Patient pro Item 4, 3, 2 oder 1 Punkte, wobei 4 Punkte für den Normzustand „volle Fähigkeit“ und 1 Punkt für das Fehlen der entsprechenden Fähigkeit stehen.

Weil diese Daten im Rahmen der pflegerischen Routinedokumentation kontinuierlich anfallen, können – in Verbindung mit einer geeigneten Massnahmenklassifikation (95% aller Anwenderbetriebe arbeiten hier mit der Methode LEP) – auch Veränderungen sowie die Wirksamkeit des pflegerischen Handelns nachgewiesen werden.

Mit über 400 epa-Vertragsbetrieben im D-A-CH-Raum steht ein immenses Datenpotenzial zur Verfügung, um innovative Lösungen für die pflegerische Gesundheitsversorgung über alle Settings hinweg zu entwickeln bzw. bereitzustellen.

Nachfolgend werden einige Lösungsansätze skizziert, wie elektronische (Pflege-) Dokumentation in Verbindung mit künstlicher Intelligenz KI den klinischen Alltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern kann. Alle nachfolgend aufgeführten Beispiele sind schon heute umsetzbar.

Lösungsbeispiel geringer Komplexität

Automatisierte Massnahmenvorschläge: In allen elektronischen Dokumentationssystemen, in denen die Instrumente der Methode epa sowie LEP-Interventionen integriert sind (derzeit bieten 21 Softwarefirmen entsprechende Lösungen an), werden nach der Einschätzung der Patientenfähigkeiten automatisch nur noch jene Interventionen vorgeschlagen, die zum individuellen Patientenzustand passen; die Pflegefachperson muss nicht mehr aus dem gesamten Katalog auswählen. Dies erfolgt durch einfache fach- und sachlogische Verknüpfungen von Zustand (z. B. gering vorhandene Fähigkeit sich zu waschen) und dazu passenden Massnahmen, wie z. B. Unterstützung bei der Körperpflege. Bei diesem Beispiel steht das Thema effiziente Dokumentation im Vordergrund.

Lösungsbeispiel mittlerer Komplexität

Verbesserung der individuellen (pflegerischen) Versorgungsplanung durch automatische frühzeitige Risikoerkennung bei gleichzeitiger Vereinfachung der Dokumentation („selbstausfüllende“ Dokumentation): Durch die Verbindung von „Devices“ wie Lagesensoren, wie sie in jedem Smartphone oder jeder Smartwatch enthalten sind, kann erkannt werden, ob sich ein Patient im Bett ausreichend bewegt oder ob er ein erhöhtes Dekubitusrisiko aufweist. Ist dies nicht der Fall, erkennt die drucksensitive Matratze, dass der Patient soeben von der linken auf die rechte Seite gelagert wurde. Um welchen Patienten es sich dabei handelt, erkennt das System am Chip, der im Patienten-Identifikationsarmband enthalten ist. Die handelnde Person wiederum identifiziert sich über den Chip, der in ihr Namenschild eingebaut ist, so dass in der elektronischen Falldokumentation automatisch die richtige Handlung einschliesslich ihrer Dauer durch die richtige Person dem richtigen Patienten zugeordnet wird. Bei diesem Beispiel steht das Thema „Patientensicherheit“ im Vordergrund.

Lösungsbeispiele hoher Komplexität

Hierzu gehören Prognosemodelle, wie z. B. die Vorhersage der voraussichtlichen Entlassung in Verbindung mit dem voraussichtlichen Fähigkeitsprofil eines Patienten, um so früh wie möglich die passende erforderliche poststationäre Versorgung planen zu können. Aus dem Wissen über normale Genesungsverläufe können Hinweise auf mögliche Komplikationen gegeben werden, bevor sich eindeutige klinische Symptome zeigen, v. a. in Verbindung von Pflegedaten mit Biomarken oder Laborwerten (auf diesem Prinzip beruhen auch z. B. einige Krebsfrüherkennungsuntersuchungen oder HIV-Tests).

Weiter unterstützen Vorhersagen typischer Interventionen, die üblicherweise bei Patienten mit vergleichbaren Merkmalen erbracht werden. So lassen sich nicht nur noch genauere Vorschläge für individuelle Pflegeplanung geben, sondern es kann auch der Aufwand abgeschätzt werden und wie viel Personal gebraucht wird.

Aus Sicht der Versorgungsforschung ist interessant, dass mit den einheitlichen Datenmodellen von epa auch Setting-übergreifend Daten ausgewertet werden können. Wenn z. B. Herr Müller aus dem Langzeitbereich in die akutstationäre Versorgung, anschliessend in die Rehabilitation und danach wieder in den Langzeitbereich wechselt. Damit kann eine Einrichtung und Setting übergreifende massgeschneiderte Versorgung geplant und hinsichtlich ihres Erfolgs evaluiert werden. Bei diesen Beispielen steht die qualitativ hochwertige und effektive Gesundheitsversorgung im Vordergrund.

Herausforderungen und Ausblick

Alle Beispiele haben ein gewaltiges Missbrauchspotenzial gemeinsam: Wird künftig Fachexpertise durch künstliche Intelligenz ersetzt? Oder werden Patienten künftig nur noch dann behandelt, wenn eine ausreichende Rendite vorhergesagt werden kann?
Fest steht: Die Gesundheitsversorgung der Zukunft wird sich ändern. Wenn immer mehr Menschen von immer weniger Fachpersonen versorgt werden, müssen Lösungen gefunden werden. Digitalisierung kann hierbei helfen. Daher ist ein breiter und öffentlicher gesellschaftlicher Diskurs zu führen, der sich mit den Risiken und Konsequenzen aus der Nutzung von Gesundheitsdaten beschäftigt. Da dies aber kein abgegrenzter Prozess ist, der fortwährenden Änderungen unterliegt, hilft Abwarten nicht, bis ein Konsens erzielt ist. Vielmehr gilt es, digitale Lösungen nicht von vornherein zu blockieren, sondern ihre Einsatzmöglichkeiten konsequent weiterzuentwickeln, gleichzeitig aber kritisch zu hinterfragen und mögliche Konsequenzen abzuwägen.

Die Zukunft von Digitalisierung in der Pflege resp. der Gesundheitsversorgung sehe ich nicht in Robotik, sondern in Assistenzsystemen, die die klinische Entscheidungsfindung unterstützen, passgenauere Therapien vorschlagen und somit letztlich die Gesundheitsversorgung verbessern.

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Wenn humanoide Roboter auch pflegen

Die digitale Transformation wird auffallend einseitig diskutiert. Ausführlich thematisiert werden zwar Effizienz, Kostenreduktion und Sicherheit. Völlig unterbelichtet bleibt jedoch, was das Algorithmisieren mit uns Menschen macht, ausser uns zu ersetzen. Die Berufsbilder passen spätestens dann nicht mehr, wenn menschenförmige Roboter als (verlässlichere) ArbeitskollegInnen das Feld aufmischen – eine kritische Betrachtung unseres Autors.

Erfreulicherweise entscheiden sich viele junge Menschen für Ausbildungen im Gesundheitssektor. Allerdings wird der Bedarf trotz grossen Anstrengungen weit über dem Fachkräftepotenzial liegen: zum einen steigen viel zu viele aus (32% der Ärzte und 46% der Pflegenden; 1) , zum anderen sinkt die Zahl der SchulabgängerInnen. Fehlende Professionals und steigende Kosten zwingen zu Effizienzsteigerungen, ja zur Industrialisierung der Versorgung. Konsequenz: Wer heute in einen Gesundheitsbereich einsteigt, wird humanoide und humanoforme Roboter als Arbeitskollegen haben.

Entsprechend sind disruptive Verschiebungen zu erwarten: Wenn in der industrialisierten Routineversorgung das Lean Management umgesetzt und die gestrafften Prozesse nur noch hochspezialisiertes Knowhow für bestimmte Funktionen benötigen, braucht es dann noch mehrjährige Berufsausbildungen und Professionen mit abgegrenzten Berufsbildern?

Diese weitreichende Grundsatzfrage wird in der Bildung der Gesundheitsberufe nicht gestellt. Eigentlich eine geradezu unethische Unterlassung – hängt davon doch die Perspektive und die Lebensgestaltung von Zehntausenden junger Menschen ab, die eindringlich motiviert werden, möglichst 30 oder 40 Jahre dem Gesundheitswesen zu dienen. Wird die lebenslange Weiterbildung deren Neuausrichtung und Einpassung in die industrialisierten Prozesse richten können? Oder bleiben dann nur noch die Fittesten im völlig umgekrempelten Arbeitsmarkt? Diejenigen, die sich in die verbleibenden Nischen einfügen können, wenn alles automatisiert sein wird, was automatisiert werden kann?

Mehr Zuwendung oder futuristische Sozialromantik?

Im Quervergleich fällt auf, dass im Gesundheitssektor eine konservierende Lernwelt dominiert. Tief verankert ist die Vorstellung, dass die Versorgung von (kranken) Menschen nicht substituierbar ist, weil dies Empathie, Beziehungsarbeit, Dialog und Reflexion erfordert. Ausbildungen investieren viel in die Identitätsbildung. Diese umfasst die sukzessive Anpassung an Normen, berufsrelevante Vorstellungen und Wertorientierungen, aber auch die Formung der Persönlichkeit sowie den Kern und Umfang des Handelns. Durch den Bezug auf Rollenmodelle und Traditionen werden oft idealtypische Bilder transportiert, die – überspitzt gesagt – rückwärtsgerichtete Identitäten beschwören, professionsbezogene Territorien verfestigen, einen aufgeklärten Paternalismus stützen, der Selbstüberschätzung Vorschub leisten und den Glauben bestärken, dass PatientInnen immer abhängig sein werden.

Wenn die Prozesse effizienter geworden sind und uns Algorithmen und Roboter unterstützen, ja 80% der Ärzte ersetzbar geworden sind, werden die Prozessführer genau hinschauen, wofür die Zeit und die Menschen dann noch eingesetzt werden.

Auffallend an der Debatte über die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist, dass die Risiken (2) deutlich seltener thematisiert werden als die Opportunitäten. KI (KI) und damit arbeitende Instrumente werden meist als ökonomische Notwendigkeit oder als technologische Chance dargestellt. Einerseits wird ins Feld geführt, dass neue Anwendungen, neue Geräte, neue IT-Applikationen, neue Algorithmen etc. die Produktions- und Personalkosten senken, Daten wirkungsvoller verknüpfen sowie Sicherheit und Nutzen verbessern. Anderseits wird als Chance verkündet, dass Health-Professionals dann wieder mehr Zeit haben werden für die Kranken. (3)

Während bei der Effizienzsteigerung die Erwartungen erfüllt werden, ist es wohl naiv zu glauben, dass sich in den gestrafften Prozessen wieder Komfortzonen und eine neue Gemütlichkeit etablieren können. Structure follows strategy gilt auch hier. Wenn die Prozesse effizienter geworden sind und uns Algorithmen und Roboter unterstützen, ja 80% der Ärzte ersetzbar geworden sind, werden die Prozessführer genau hinschauen, wofür die Zeit und die Menschen dann noch eingesetzt werden. Maschinen übernehmen alles Repetitive; Zeit für Zuwendung kann hinzugekauft werden.

Formatiert für die Welt von gestern, oder ready for tomorrow?

Das mag erschreckend kulturpessimistisch klingen. Erschreckend ist allerdings auch, dass wir uns nicht fragen, wie es denn uns selber dabei gehen könnte. In freudiger Erwartung der Zukunft wird nicht erkannt, vergessen oder verdrängt, dass die Algorithmen und Automatismen auch unser Verhältnis untereinander als Menschen und Professionals grundlegend verändern werden.

Der Autor mit dem humanoiden Roboter Sophia.

Meine Begegnung mit der fast-menschlichen SOPHIA (5, 6) war irritierend – auch wenn sie in Talkshows brilliert (7), gibt es bei diesem Wesen noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Etwa beim Wahrnehmen des Gegenübers, beim Verstehen, bei der Interaktion. Es fehlt ihr schlicht an Soft Skills, um eine halbwegs ansprechende Konversation zu führen (siehe Video). Sie mag gesprächig sein, aber aktuell ist es ein Sozialexperiment. Es ist noch kein Gegenüber, das in der Lage ist, dank KI das aktuellste Wissen zu mobilisieren, zu vernetzen, zu vermitteln und zum Wohle von Patienten einzusetzen. Mit ihr kann man noch nicht kooperieren, um argumentativ Lösungswege zu erörtern, um Fehler zu vermeiden, um den Nutzen und die Qualität zu verbessern oder um zu guten Entscheidungen zu gelangen. Die EntwicklerInnen sagen denn auch, das sei erst KI im Kindheitsstadium.

https://www.youtube.com/watch?v=THU-Mg6H994

Trotzdem: wenn dereinst Algorithmen die Entscheide fällen und uns humanoide Roboter und menschenförmige Maschinenwesen umgeben (oder sich um uns kümmern), werden dies Nachfahren von Sophia oder anderen ähnlichen Geschöpfen (9, 10) sein. Dass es dann nicht immer der Mensch ist, der die Maschine steuert, liegt auf der Hand. Wahrscheinlicher ist ein Zusammenwirken von Menschen, Maschinen und KI, welches neue Regeln für unser Handeln und auch unsere Handlungsspielräume einführt.

Bis dahin bleibt noch Zeit, weil die digitale Transformation nicht schlagartig eintritt, sondern ein schleichender Prozess ist. Im Interesse einer nachhaltigen Personalsicherung und Vermeidung eines Praxisschocks muss die Bildung vom Silodenken und einer Formatierung wegkommen, welche auf unmittelbare Einsatzfähigkeit abzielt. Es gilt, den Blick zu erweitern, um zukunftsfähig zu werden: Statt nur technisches Knowhow und instrumentelle Skills zu vermitteln, müssen die Effekte der Digitalisierung und der KI auf unsere Identität, die zwischenmenschliche Interaktion und das professionelle Handeln in der Ausbildung thematisiert werden. Interprofessionalität, die aktuell forciert wird, umfasst auch den Einbezug dieser Wesen und Supportsysteme.

Auf der strategischen Ebene müssen Zweck und Ziele mehrjähriger professionsbezogener Formung, exklusiven Wissens und ausgrenzender Identitätsbildung radikal hinterfragt werden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Menschen, die grundlegend andere Vorstellungen von der Praxis haben, in Intensivseminaren mit der Virtual-Reality-Brille in die digitalisierte Arbeitswelt hineingeführt werden können und diese bedenkenlos akzeptieren.

 


Referenzen

  1. https://www.obsan.admin.ch//sites/default/files/publications/2016/obsan_71_bericht.pdf
  2. NZZ Zukunftsdebatte vom 17. Oktober 2018, bei der eine der Leitfragen die Möglichkeiten adressierte, wie und ob wir in der Lage sein werden, fortgeschrittene System der künstlichen Intelligenz im Zaum zu halten
  3. Beitrag in Ausgabe 4/2018 des Fachmagazins Arzt-Spital-Pflege, S. 22ff
  4. https://medicalfuturist.com
  5. https://www.cnbc.com/2018/06/05/hanson-robotics-sophia-the-robot-pr-stunt-artificial-intelligence.html 
  6. https://www.youtube.com/watch?v=AEpiOrFoNtI
  7. Sequenz: Schauspieler Will Smith hat ein Date mit einem Humanoiden
  8. https://futurism.com/images/top-10-humanoid-robots/
  9. https://www.youtube.com/watch?v=clg_9fpEI8c
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Implementing digital health for real: what factors affect participation

Thanks to healthier lifestyles, nutrition and education, we are getting older and older. Digital aids such as apps and wearables also help. Siobhan O’Connor of  Edinburgh University examines what helps or hinders their everyday use.

In Switzerland and across Europe, populations are living longer thanks to good public health and education systems. However, older adults can have complex care needs as their physical health declines. Lifestyles changes in the latter half of the 20th century such as diets high in sugar and fat, a lack of exercise and unhealthy habits such as smoking, binge drinking and recreational drug use are increasing the numbers of people with long-term chronic conditions such as asthma, diabetes and heart disease. These problems are placing huge burdens on patients, families, professionals and health systems worldwide.

A wide range of mobile, online and sensor technologies are available to the public to support healthy lifestyles and for patients to manage their disease. Lots of research has looked at how well different types of hardware and software work with patients, carers and people who want to stay healthy. However, many people do not use these electronic tools outside of taking part in research as they can experience barriers that prevent them from engaging in technology for their health. A review of the literature on this subject was published in 2016 and can be read for free here.

The review identified many aspects, which we summarised into three themes, that help or hinder patients and the public when engaging and enrolling in all types of digital health interventions. It included technologies such as telehealth, mobile apps, online health services, social media, wearable devices like pedometers and patient accessible electronic health records.

  • The first theme from the literature review is around personal agency (choice and control) and motivation as people have difference preferences towards technology for their health. For example, some people are more motivated to look after their health and like the flexibility that technology offers to access health information and services.
  • The second area is personal life and values which includes how busy someone’s life is and what competing priorities they have. It also covers the skills and equipment needed to use digital health products and services and how much people value the privacy and security of their health data.
  • The third reason why patients and the public participate in digital health or not is the engagement and recruitment approach that is used. This can include direct support from family and friends, advice from a trusted source such as a peer or colleague, endorsement by a health professional (e.g. doctor or nurse), and strategies used to promote awareness and understanding of the technology. The strategies could be a mixture of advertising in print media (newspapers or magazines), electronic media (TV or radio) or online media (email, social media, websites).
  • The fourth and final theme highlighted in the literature review is the quality of the digital health intervention. Whether patients and the public had a positive or negative perception of the quality of the digital information or virtual interaction that could occur when using the technology influenced their decision to participate or not in it. For example, some people had experienced abusive language on social media or did not think interacting virtually with a healthcare professional would be as good as meeting them in person. How easy it was to sign up to and register for a technology was another aspect of quality that people considered before they began using it.

From these themes the literature review created a Digital Health Engagement Model (DIEGO) to summarise the complexity of participating in digital health (see Figure 1). Using this model could help researchers, clinicians, companies and policy makers understand the dynamics of implementing digital health products and services in the real-world and what barriers and facilitators patients and the public experience in the process. Further research is underway to extend and refine the initial DIEGO model and use it to develop a valid and reliable eHealth readiness assessment tool. This could help improve how digital health is implemented in the future.

Figure 1: Digital Health Engagement Model (DIEGO) (O’Connor et al, 2016)

 


Reference

  • O’Connor, S., Hanlon, P., O’Donnell, C.A., Garcia, S., Glanville, J. & Mair, F. S. (2016). Understanding factors affecting patient and public engagement and recruitment to digital health: a systematic review of qualitative studies. BMC Medical Informatics and Decision Making 16:120.
  • https://bmcmedinformdecismak.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12911-016-0359-3
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Apps und Apotheken ebnen den Weg zum Patientendossier

2018 ist ein Meilenstein fürs Schweizer eHealth: Das digitale Patientendossier EPD wird eingeführt. Das Swiss e-Health-Barometer macht jährlich eine Umfrage zur Digitalisierung des Gesundheitssystems. In der jüngsten Ausgabe zeigt sich, dass die Ärzteschaft das EPD skeptisch ansieht und die Bevölkerung zwar grundsätzlich positiv eingestellt ist, aber das Interesse verliert. Über den Status Quo des EPD haben wir mit Dr. Jürgen Holm, Professor für Medizininformatik an der Berner Fachhochschule gesprochen.

Prof. Dr. Jürgen Holm

Die Ärztinnen und Ärzte sind skeptisch, die Patientinnen und Patienten zwar potentiell aufgeschlossen, aber uninteressiert – entspricht das auch Ihrer Wahrnehmung?

Dr. Jürgen Holm: Das Barometer ist eine interessante, aber eigentlich auch eine sehr theoretische Umfrage. Es wird seit Jahren versucht einen Trend herauszufinden zu einem Thema, das real noch gar nicht umgesetzt ist. Unterschwellige, wenn auch berechtigte Fragen zum Datenschutz, Persönlichkeitsschutz, Mehrbelastung, Kosten, Transparenz usw. schwingen in den Köpfen der Befragten mit und sollen spontan beantwortet werden – ohne jegliche Erfahrung und einer brauchbaren Vorstellung davon, wie denn das zukünftige EPD aussehen und in die Arbeitsprozesse integriert sein wird. Es wird also eher mit einem spontanen Bauchgefühl geantwortet und in den täglichen Erfahrungshorizont der aktuellen Diskussion zu ICT-Themen gestellt. Bei der Ärzteschaft, die zunächst einmal Investitionen vor sich hat, stehen natürlich die Finanzierungsthemen vorne an. In einem Umfeld dauerhaft angespannter Prämienentwicklungen sehen sie zurzeit zusätzliche Ausgaben und nicht bezahlte Mehrarbeit auf sich zukommen. Und trotzdem ist für mehr als zwei Drittel der Befragten das EPD grundsätzlich eine «gute Sache» und mehr als die Hälfte geben an, das EPD ihren Patienten und Kunden auch zu empfehlen. Insofern gibt es Skepsis bei den noch unklaren Detailfragen, weniger aber bei der Sache selbst. Die Zustimmung von knapp 70% bei der Wohnbevölkerung ist «spontan» ebenfalls gross. Nur: In meinem privaten Umfeld beispielsweise ist das EPD praktisch unbekannt, bestenfalls hat man mal etwas davon gehört – wahrscheinlich durch mich. Wenn ich dann erkläre, was es ist, wundern sie sich, dass es das noch nicht gibt.

Wie könnten die Politik oder eHealth Schweiz die Ärzteschaft vom EPD überzeugen? Was fehlt dem EPD, um diese Stakeholder zu überzeugen?

Im Grunde erscheint mir das Vorgehen recht nachvollziehbar. Mit dem verabschiedeten Gesetz und den Fristen für die Einführung in Spitälern und Heimen wird aus meiner Sicht in einer ersten Phase das Wichtigste überhaupt erreicht: es werden in der gesamten Schweiz eHealth-Gemeinschaften aufgebaut, an welche die verpflichteten Akteure angeschlossen sind und mit einer vorgegebenen Interoperabilität zum Datenaustausch ab 2020 bzw. 2022 zumindest einmal Dokumente austauschen können. Dann werden wir zum ersten Mal etwas haben, worüber wir wirklich diskutieren können und aufzeigen können was prozessual alles möglich sein wird. Und um zu verstehen, was wir 2020 haben werden, sage ich es gerne noch einmal: wir haben dann eine schweizweite einheitliche eHealth-Basisinfrastruktur mit Vorgaben zum interoperablen Datenaustausch. Etwas, was es bisher noch nicht gegeben hat und aus meiner Sicht die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen erst richtig ermöglichen wird. Nicht nur Dokumente sind dann austauschbar, in den folgenden Jahren werden dann zunehmend weitere Daten strukturiert ausgetauscht, können App-Anwender ihre erfassten Daten den Behandelnden zur Verfügung stellen und auf dieser Datenautobahn – exklusiv für das Gesundheitswesen – werden ebenfalls die B2B-Prozesse laufen können. Eine völlig neue Ausgangssituation. Es gilt dann zu zeigen, dass der Mehrwert dieser Infrastruktur neben den bekannten Vorteilen des EPDs selbst in der eigentlichen Digitalisierungsmöglichkeit steckt, auf einer möglichst sicheren Datenautobahn strukturierte Daten auszutauschen – und dies unter den berechtigten Akteuren im Schweizer Gesundheitswesen – schweizweit. In diesem Sinne ist für mich auch die doppelte Freiwilligkeit kein Problem. Es wird einfach etwas länger dauern, als vielleicht der eine oder andere es erhofft – aber die Vorteile werden für die meisten Akteure so gross sein, dass sie dann schon «freiwillig» mitmachen werden. Und wenn nicht, konnten wir mit Nutzen nicht überzeugen. Daher bin ich auch der Meinung: bauen wir doch jetzt die Infrastruktur auf, verpflichten die Spitäler und Heime ein Netzwerk aufzubauen und zeigen dann, welche Mehrwerte wir darauf setzen können. Die Hersteller werden dabei eine grosse Rolle spielen – denn sie müssen und werden Mehrwerte, «Innovationen», schaffen.

Während die Ärzteschaft dem EPD weniger traut, vertraut die Bevölkerung einer solchen Möglichkeit eher. Wie könnte man die Patientinnen und Patienten ganz konkret gewinnen?

Die Vorteile sind gross: So ist die Datenhoheit stets bei den Patienten. Wir haben ein explizites und wahrnehmbares Recht auf Einsicht in unsere Daten. Wir kommen damit dem informationellen Selbstbestimmungsrecht ein Stück näher. Weiter ermöglich das EPD: Unabhängigkeit von Zeit und Ort um Gesundheitsdaten abzurufen, schnellerer Zugang zu medizinischen Informationen für die Leistungserbringer, besser informierte Leistungserbringer für mehr Sicherheit und Behandlungsqualität, mehr Transparenz, „eine Akte“, eMedikation, eImpfdossier, Notfalldaten, eServices wie Patientenverfügung, Organspenderausweis usw.

Aber warum dies alles schon kommunizieren, wenn es doch das EPD so noch gar nicht gibt? Es wäre nicht hilfreich schon jetzt überall Werbung zu machen, für ein zukünftiges EPD. Es gäbe dann sofort Anfragen für die Eröffnung der Akten und diese würden dann ins Leere laufen – und das Interesse und vielleicht auch das Vertrauen ebenfalls. Es ist also im Moment wirklich noch eine recht theoretische Diskussion. Und so lange die Gemeinschaften und die Hersteller von den Plattformen nicht auch attraktive Angebote geschaffen haben, sollte man nicht überstürzt schon Kunden gewinnen. Das kann schnell nach hinten losgehen. Ich denke also: wir sollten erst die Werbetrommel rühren und die damit verbundene Nutzendiskussion für die Wohnbevölkerung lostreten, wenn auch etwas reales attraktives, sicheres und nutzenbringendes existiert.

Gesundheitsapps sind bei der Bevölkerung sehr beliebt. Am eHealth-Forum im März beklagten verschiedene Referenten, dass diese Apps nicht unerhebliche Daten produzieren, die jedoch leider bisher nicht in ein zentrales Patientendossier einfliessen. Stattdessen bleiben diese Daten beim Patienten und natürlich bei den App-Unternehmen. Wie könnte man diese Diskrepanz ändern?

Ich komme gerne auf die «einheitliche eHealth-Basisinfrastruktur» zurück: ein eHealth-Mehrwert wird ebenso sein, dass wir endlich auch die vielen interessanten Appdaten nutzen können, wenn die Daten erst einmal von den Menschen auf ihr EPD hochgeladen werden können. Aber eben: wir sind noch nicht ganz so weit. Zurzeit gibt es zwar diesbezüglich schon einige Lösungsmöglichkeiten auch unabhängig vom EPD – wenn auch dies der logischere Weg wäre. Ich verweise z.B. auf das «MIDATA» Projekt, das von der ETH lanciert wurde und in Zusammenarbeit mit der BFH vorangetrieben wird. Hier können bereits heute Apps angebunden werden, die erfassten Daten auf einem «persönlichen Datenkonto» abgelegt und bei Einwilligung des Kontoinhabers an z.B. Behandelnde oder anonym für die Forschung weitergeleitet werden.

Sehen Sie eine mittelfristige Lösung für die Anbindung dieser Daten?

Bei den Gesundheitsapps wird sich in den nächsten Monaten und Jahren vieles erheblich ändern. Abgesehen von Lifestyle und Fitnessanwendungen, die bereits heute einige interessante Daten aus der vermeintlich gesunden Phase des Patienten aufzeigen könnten, professionalisieren sich die medizinischen Apps zusehends: sie werden zu Medizinprodukten und liefern somit in Zukunft – und einige bereits schon heute – verlässlichere Daten für die Diagnosestellung und Therapiefindung. Ab 2020 wird dies in der EU im Übrigen mit dem neuen Medizinprodukterecht verpflichtend sein und die Schweiz wird da nicht hintenanstehen. Diese parallele Entwicklung bei den Apps wird im Rahmen des EPDs einen hohen Nutzen stiften in der Medizin, beides wird ab 2020 – wohl sicher auch mit einer gewissen Übergangszeit – zur Verfügung stehen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich das dann weiterentwickelt. Die Daten solcher professionalisierten Apps gehören sicher nicht mehr auf die Server von Herstellern mit undurchsichtigen AGBs – das EPD könnte hier eine interessante Lösung sein – aber vielleicht haben sich bis dahin auch Initiativen wie z.B. die «MIDATA.coop» durchgesetzt. Das ist schwer vorherzusagen.

Wer könnte aus Ihrer Sicht der entscheidende Treiber sein für das EPD?

Das EPD ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen den Menschen und den Gesundheitsfachpersonen und alle – Datensicherheit vorausgesetzt – sollten ein Interesse daran haben. Aber kommen wir auf den Boden zurück: aus heutiger Sicht erscheint mir die Idee interessant, dass die Apotheken für die Eröffnung eines EPDs stehen könnten. Wenn dies in jeder Apotheke angeboten werden kann und vielleicht noch zusätzliche Dienste wie z.B. Patientenverfügung oder Organspenderausweise angeboten werden, könnte dies ein interessanter Treiber sein. Auch wenn die Menschen erst einmal beworben werden, könnte dies zu einigen EPD-Anträgen führen. Entscheidend dafür wird sein, dass dies einfach und unkompliziert funktioniert – am besten über das Internet. Das eHealth-Barometer zeigte jedoch ein etwas anderes Bild auf. Auf die Frage, wo die Wohnbevölkerung am liebsten ein EPD eröffnen würde, antworteten nur 1% in der Apotheke und 19% im Internet. Mehr als 70% wollten dies bei ihrem Hausarzt. Dies zeigt sehr schön das Vertrauensverhältnis der Patienten zu ihren Hausärzten auf – was ich auch sehr schätze. Und es macht Sinn, wenn man erkrankt ist. Aber in allen anderen Fällen – für das Hochladen von eigenen Dokumenten, wenn ich auf Reisen gehe, Verfügungen, Spenderausweise, meine App-Daten usw. sind Apotheken und Internet sicher gute Treiber.

Sollten sich aus Ihrer Sicht auch die Krankenkassen daran beteiligen?

Ein klares «Jein»! Versicherer werden auch in Zukunft keinen automatischen Zugriff auf Behandlungsdaten haben – die Menschen sind aber natürlich auch frei ihnen Daten zur Verfügung zu stellen. Schon heute gibt es in den Zusatzversicherungen Rabattmöglichkeiten, wenn die Kunden ihnen z.B. Fitnessdaten mitteilen. Und wenn wir dem EPD unterstellen, dass die Behandlungsqualität und die Patientensicherheit, wie auch die Effizienz des Informationsaustauschs sich verbessern, dann spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, auch in der Grundversicherung für das Führen eines EPDs einen Rabatt zu gewähren – aber selbstverständlich ohne Einsicht in das EPD. Auch dies könnte im Übrigen ein Treiber sein. Das grundsätzliche Problem «bei mehr Einsicht in meine Daten» mit den Versicherern wäre aber, dass eine Krankenversicherung nur noch dann Produkte verkaufen will, wenn jemand nachweislich gesund ist bzw. gesund lebt. Das wäre aber eine Aufkündigung der Solidarität und würde gesellschaftlich wahrscheinlich schlussendlich in die Einheitskasse münden. Daher sollte die Gewinnorientierung der Versicherer nicht dazu führen Menschen mit Gebrechen in den Zusatzversicherungen auszuschliessen bzw. aus der Grundversicherung möglichst zu verdrängen, sondern Versicherungsmodelle anzubieten, die Gesundheitskompetenz, Prävention und Selbstverantwortung fördern und belohnen. Ein Element in diesem Kontext könnte auch das EPD sein.


Zur Person

Jürgen Holm ist Professor und Studiengangleiter für Medizininformatik am Departement Technik und Informatik der Berner Fachhochschule. Er engagiert sich im Bereich semantische Interoperabilität, ICT-Prozessanalyse und bei der Umsetzung von eHealth-Projekten.

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2018 ist ein Meilenstein fürs Schweizer eHealth: Das digitale Patientendossier EPD wird eingeführt. Das Swiss e-Health-Barometer macht jährlich eine Umfrage zur Digitalisierung des Gesundheitssystems. In der jüngsten Ausgabe zeigt sich, dass die Ärzteschaft das EPD skeptisch ansieht und die Bevölkerung zwar grundsätzlich positiv eingestellt ist, aber das Interesse verliert. Über den Status Quo des EPD haben wir mit Dr. Jürgen Holm, Professor für Medizininformatik an der Berner Fachhochschule gesprochen.

Prof. Dr. Jürgen Holm

Die Ärztinnen und Ärzte sind skeptisch, die Patientinnen und Patienten zwar potentiell aufgeschlossen, aber uninteressiert – entspricht das auch Ihrer Wahrnehmung?

Dr. Jürgen Holm: Das Barometer ist eine interessante, aber eigentlich auch eine sehr theoretische Umfrage. Es wird seit Jahren versucht einen Trend herauszufinden zu einem Thema, das real noch gar nicht umgesetzt ist. Unterschwellige, wenn auch berechtigte Fragen zum Datenschutz, Persönlichkeitsschutz, Mehrbelastung, Kosten, Transparenz usw. schwingen in den Köpfen der Befragten mit und sollen spontan beantwortet werden – ohne jegliche Erfahrung und einer brauchbaren Vorstellung davon, wie denn das zukünftige EPD aussehen und in die Arbeitsprozesse integriert sein wird. Es wird also eher mit einem spontanen Bauchgefühl geantwortet und in den täglichen Erfahrungshorizont der aktuellen Diskussion zu ICT-Themen gestellt. Bei der Ärzteschaft, die zunächst einmal Investitionen vor sich hat, stehen natürlich die Finanzierungsthemen vorne an. In einem Umfeld dauerhaft angespannter Prämienentwicklungen sehen sie zurzeit zusätzliche Ausgaben und nicht bezahlte Mehrarbeit auf sich zukommen. Und trotzdem ist für mehr als zwei Drittel der Befragten das EPD grundsätzlich eine «gute Sache» und mehr als die Hälfte geben an, das EPD ihren Patienten und Kunden auch zu empfehlen. Insofern gibt es Skepsis bei den noch unklaren Detailfragen, weniger aber bei der Sache selbst. Die Zustimmung von knapp 70% bei der Wohnbevölkerung ist «spontan» ebenfalls gross. Nur: In meinem privaten Umfeld beispielsweise ist das EPD praktisch unbekannt, bestenfalls hat man mal etwas davon gehört – wahrscheinlich durch mich. Wenn ich dann erkläre, was es ist, wundern sie sich, dass es das noch nicht gibt.

Wie könnten die Politik oder eHealth Schweiz die Ärzteschaft vom EPD überzeugen? Was fehlt dem EPD, um diese Stakeholder zu überzeugen?

Im Grunde erscheint mir das Vorgehen recht nachvollziehbar. Mit dem verabschiedeten Gesetz und den Fristen für die Einführung in Spitälern und Heimen wird aus meiner Sicht in einer ersten Phase das Wichtigste überhaupt erreicht: es werden in der gesamten Schweiz eHealth-Gemeinschaften aufgebaut, an welche die verpflichteten Akteure angeschlossen sind und mit einer vorgegebenen Interoperabilität zum Datenaustausch ab 2020 bzw. 2022 zumindest einmal Dokumente austauschen können. Dann werden wir zum ersten Mal etwas haben, worüber wir wirklich diskutieren können und aufzeigen können was prozessual alles möglich sein wird. Und um zu verstehen, was wir 2020 haben werden, sage ich es gerne noch einmal: wir haben dann eine schweizweite einheitliche eHealth-Basisinfrastruktur mit Vorgaben zum interoperablen Datenaustausch. Etwas, was es bisher noch nicht gegeben hat und aus meiner Sicht die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen erst richtig ermöglichen wird. Nicht nur Dokumente sind dann austauschbar, in den folgenden Jahren werden dann zunehmend weitere Daten strukturiert ausgetauscht, können App-Anwender ihre erfassten Daten den Behandelnden zur Verfügung stellen und auf dieser Datenautobahn – exklusiv für das Gesundheitswesen – werden ebenfalls die B2B-Prozesse laufen können. Eine völlig neue Ausgangssituation. Es gilt dann zu zeigen, dass der Mehrwert dieser Infrastruktur neben den bekannten Vorteilen des EPDs selbst in der eigentlichen Digitalisierungsmöglichkeit steckt, auf einer möglichst sicheren Datenautobahn strukturierte Daten auszutauschen – und dies unter den berechtigten Akteuren im Schweizer Gesundheitswesen – schweizweit. In diesem Sinne ist für mich auch die doppelte Freiwilligkeit kein Problem. Es wird einfach etwas länger dauern, als vielleicht der eine oder andere es erhofft – aber die Vorteile werden für die meisten Akteure so gross sein, dass sie dann schon «freiwillig» mitmachen werden. Und wenn nicht, konnten wir mit Nutzen nicht überzeugen. Daher bin ich auch der Meinung: bauen wir doch jetzt die Infrastruktur auf, verpflichten die Spitäler und Heime ein Netzwerk aufzubauen und zeigen dann, welche Mehrwerte wir darauf setzen können. Die Hersteller werden dabei eine grosse Rolle spielen – denn sie müssen und werden Mehrwerte, «Innovationen», schaffen.

Während die Ärzteschaft dem EPD weniger traut, vertraut die Bevölkerung einer solchen Möglichkeit eher. Wie könnte man die Patientinnen und Patienten ganz konkret gewinnen?

Die Vorteile sind gross: So ist die Datenhoheit stets bei den Patienten. Wir haben ein explizites und wahrnehmbares Recht auf Einsicht in unsere Daten. Wir kommen damit dem informationellen Selbstbestimmungsrecht ein Stück näher. Weiter ermöglich das EPD: Unabhängigkeit von Zeit und Ort um Gesundheitsdaten abzurufen, schnellerer Zugang zu medizinischen Informationen für die Leistungserbringer, besser informierte Leistungserbringer für mehr Sicherheit und Behandlungsqualität, mehr Transparenz, „eine Akte“, eMedikation, eImpfdossier, Notfalldaten, eServices wie Patientenverfügung, Organspenderausweis usw.

Aber warum dies alles schon kommunizieren, wenn es doch das EPD so noch gar nicht gibt? Es wäre nicht hilfreich schon jetzt überall Werbung zu machen, für ein zukünftiges EPD. Es gäbe dann sofort Anfragen für die Eröffnung der Akten und diese würden dann ins Leere laufen – und das Interesse und vielleicht auch das Vertrauen ebenfalls. Es ist also im Moment wirklich noch eine recht theoretische Diskussion. Und so lange die Gemeinschaften und die Hersteller von den Plattformen nicht auch attraktive Angebote geschaffen haben, sollte man nicht überstürzt schon Kunden gewinnen. Das kann schnell nach hinten losgehen. Ich denke also: wir sollten erst die Werbetrommel rühren und die damit verbundene Nutzendiskussion für die Wohnbevölkerung lostreten, wenn auch etwas reales attraktives, sicheres und nutzenbringendes existiert.

Gesundheitsapps sind bei der Bevölkerung sehr beliebt. Am eHealth-Forum im März beklagten verschiedene Referenten, dass diese Apps nicht unerhebliche Daten produzieren, die jedoch leider bisher nicht in ein zentrales Patientendossier einfliessen. Stattdessen bleiben diese Daten beim Patienten und natürlich bei den App-Unternehmen. Wie könnte man diese Diskrepanz ändern?

Ich komme gerne auf die «einheitliche eHealth-Basisinfrastruktur» zurück: ein eHealth-Mehrwert wird ebenso sein, dass wir endlich auch die vielen interessanten Appdaten nutzen können, wenn die Daten erst einmal von den Menschen auf ihr EPD hochgeladen werden können. Aber eben: wir sind noch nicht ganz so weit. Zurzeit gibt es zwar diesbezüglich schon einige Lösungsmöglichkeiten auch unabhängig vom EPD – wenn auch dies der logischere Weg wäre. Ich verweise z.B. auf das «MIDATA» Projekt, das von der ETH lanciert wurde und in Zusammenarbeit mit der BFH vorangetrieben wird. Hier können bereits heute Apps angebunden werden, die erfassten Daten auf einem «persönlichen Datenkonto» abgelegt und bei Einwilligung des Kontoinhabers an z.B. Behandelnde oder anonym für die Forschung weitergeleitet werden.

Sehen Sie eine mittelfristige Lösung für die Anbindung dieser Daten?

Bei den Gesundheitsapps wird sich in den nächsten Monaten und Jahren vieles erheblich ändern. Abgesehen von Lifestyle und Fitnessanwendungen, die bereits heute einige interessante Daten aus der vermeintlich gesunden Phase des Patienten aufzeigen könnten, professionalisieren sich die medizinischen Apps zusehends: sie werden zu Medizinprodukten und liefern somit in Zukunft – und einige bereits schon heute – verlässlichere Daten für die Diagnosestellung und Therapiefindung. Ab 2020 wird dies in der EU im Übrigen mit dem neuen Medizinprodukterecht verpflichtend sein und die Schweiz wird da nicht hintenanstehen. Diese parallele Entwicklung bei den Apps wird im Rahmen des EPDs einen hohen Nutzen stiften in der Medizin, beides wird ab 2020 – wohl sicher auch mit einer gewissen Übergangszeit – zur Verfügung stehen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich das dann weiterentwickelt. Die Daten solcher professionalisierten Apps gehören sicher nicht mehr auf die Server von Herstellern mit undurchsichtigen AGBs – das EPD könnte hier eine interessante Lösung sein – aber vielleicht haben sich bis dahin auch Initiativen wie z.B. die «MIDATA.coop» durchgesetzt. Das ist schwer vorherzusagen.

Wer könnte aus Ihrer Sicht der entscheidende Treiber sein für das EPD?

Das EPD ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen den Menschen und den Gesundheitsfachpersonen und alle – Datensicherheit vorausgesetzt – sollten ein Interesse daran haben. Aber kommen wir auf den Boden zurück: aus heutiger Sicht erscheint mir die Idee interessant, dass die Apotheken für die Eröffnung eines EPDs stehen könnten. Wenn dies in jeder Apotheke angeboten werden kann und vielleicht noch zusätzliche Dienste wie z.B. Patientenverfügung oder Organspenderausweise angeboten werden, könnte dies ein interessanter Treiber sein. Auch wenn die Menschen erst einmal beworben werden, könnte dies zu einigen EPD-Anträgen führen. Entscheidend dafür wird sein, dass dies einfach und unkompliziert funktioniert – am besten über das Internet. Das eHealth-Barometer zeigte jedoch ein etwas anderes Bild auf. Auf die Frage, wo die Wohnbevölkerung am liebsten ein EPD eröffnen würde, antworteten nur 1% in der Apotheke und 19% im Internet. Mehr als 70% wollten dies bei ihrem Hausarzt. Dies zeigt sehr schön das Vertrauensverhältnis der Patienten zu ihren Hausärzten auf – was ich auch sehr schätze. Und es macht Sinn, wenn man erkrankt ist. Aber in allen anderen Fällen – für das Hochladen von eigenen Dokumenten, wenn ich auf Reisen gehe, Verfügungen, Spenderausweise, meine App-Daten usw. sind Apotheken und Internet sicher gute Treiber.

Sollten sich aus Ihrer Sicht auch die Krankenkassen daran beteiligen?

Ein klares «Jein»! Versicherer werden auch in Zukunft keinen automatischen Zugriff auf Behandlungsdaten haben – die Menschen sind aber natürlich auch frei ihnen Daten zur Verfügung zu stellen. Schon heute gibt es in den Zusatzversicherungen Rabattmöglichkeiten, wenn die Kunden ihnen z.B. Fitnessdaten mitteilen. Und wenn wir dem EPD unterstellen, dass die Behandlungsqualität und die Patientensicherheit, wie auch die Effizienz des Informationsaustauschs sich verbessern, dann spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, auch in der Grundversicherung für das Führen eines EPDs einen Rabatt zu gewähren – aber selbstverständlich ohne Einsicht in das EPD. Auch dies könnte im Übrigen ein Treiber sein. Das grundsätzliche Problem «bei mehr Einsicht in meine Daten» mit den Versicherern wäre aber, dass eine Krankenversicherung nur noch dann Produkte verkaufen will, wenn jemand nachweislich gesund ist bzw. gesund lebt. Das wäre aber eine Aufkündigung der Solidarität und würde gesellschaftlich wahrscheinlich schlussendlich in die Einheitskasse münden. Daher sollte die Gewinnorientierung der Versicherer nicht dazu führen Menschen mit Gebrechen in den Zusatzversicherungen auszuschliessen bzw. aus der Grundversicherung möglichst zu verdrängen, sondern Versicherungsmodelle anzubieten, die Gesundheitskompetenz, Prävention und Selbstverantwortung fördern und belohnen. Ein Element in diesem Kontext könnte auch das EPD sein.


Zur Person

Jürgen Holm ist Professor und Studiengangleiter für Medizininformatik am Departement Technik und Informatik der Berner Fachhochschule. Er engagiert sich im Bereich semantische Interoperabilität, ICT-Prozessanalyse und bei der Umsetzung von eHealth-Projekten.

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