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«Komm, sprich mit mir» – When Art meets Digitalisation

Der Berner Stadtpräsident als Hologramm? An der partizipativen Videoinstallation «Komm, sprich mit mir» des Künstlers Frantiček Klossners haben neben Alec von Graffenried rund 70 Personen mitgewirkt. Die Skulptur wird heute am Sommerfest der BFH Wirtschaft präsentiert. Sie beschäftigt sich auf spielerisch-philosophische Weise mit der Digitalisierung. 

Die BFH Wirtschaft feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen und nutzt die Jubiläumsaktivitäten auch als Kommunikationsplattform. Als interne Massnahme lancierte das Departement ein partizipatives Projekt, das die Erwartungen und Wünsche an die Neupositionierung aufnimmt und sie in Form eines Kunstwerkes abbildet. Der international anerkannte Medienkünstler und Dozent an der Hochschule der Künste Bern, Frantiček Klossner konnte für das Projekt gewonnen werden. Sein künstlerisches Schaffen dreht sich um existenzielle Fragen. Das Menschenbild der Gegenwart steht im Fokus seiner Werke. Dialog und Partizipation sind zentrale Bestandteile seiner Kunst.

70 Stimmen über die digitale Zukunft

Ein Kunstprojekt als interne Kommunikationsmassnahme? Der anfänglichen Skepsis folgten Bereitschaft und Neugierde, den Anleitungen des Künstlers zu folgen. Alle Mitarbeitenden waren eingeladen, ihre persönlichen Erwartungen und Wünsche an die Zukunft der BFH Wirtschaft in einem Video-Statement abzugeben. Diese gefilmten Wortmeldungen sind Teil einer interaktiven Videoinstallation in Form einer skulpturalen sitzenden Figur, die im Eingangsbereich zur Aula einen festen Platz erhalten hat. Sie wartet darauf, angesprochen zu werden, um in unkonventioneller Weise eine Vielzahl von Antworten auf Fragen zur Zukunft der Bildung und dem Einfluss der Digitalisierung auf die Gesellschaft zu geben. Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und Handeln? Was ist Bildung und wie entfaltet sie sich? Wie gestalten wir unsre Zukunft? Was erwarten wir von der BFH Wirtschaft?

Die interaktive Videoskulptur kann über ein Mikrofon «angesprochen» werden. Wer seine Stimme ins Spiel bringt, wird mit facettenreichen Antworten überrascht. Bei jedem Sprachappell beginnt die Skulptur erneut zu sprechen. Die gesamte Video-Library umfasst 77 verschiedene Statements. Die Videoaufnahmen entstanden mit Mitarbeitenden, Studierenden und Alumni der BFH Wirtschaft sowie prominenten Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Wir begegnen u.a. dem Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Bern, Christoph Ammann, dem Berner Stadtpräsidenten, Alec von Graffenried und Deutschlands bekanntester freier Philosophin und Bestsellerautorin Rebekka Reinhard. Mit ihren prägnanten Statements verleihen sie der Skulptur ihre Stimmen und der Zukunft viele inspirierte Gesichter.


Über das Projekt

Das Projekt entstand im Rahmen des Jubiläums «50 Jahre Departement Wirtschaft BFH» und zeigt den Weg des Departements in eine digitale Zukunft.

Partizipierende in alphabetischer Reihenfolge: Benjamin Adriaensen, Christoph Ammann (Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Bern), Daniela Ambühl, Rébecca Baumann, Herbert Binggeli (Rektor der Berner Fachhochschule), Nathalie Bourquenoud (Die Mobiliar), Manuel Fischer, Malika Garchi, Ruth Gilgen (externe Projektleitung 50 Jahre BFH-W), Alec von Graffenried (Stadtpräsident von Bern), Andrea Gurtner, Anja Habegger, Alexander Hunziker, Ingrid Kissling-Näf, Anna Knutti, Nino Müller, Alessia Neuroni, Claus Noppeney, Eric Postler, Alberto Rascon, Rebekka Reinhard (Philosophin), Simon Schneeberger, Lynn Scholtes, Carole Schwarzenbach, David Seav, Ilja Steiner, Claudia Vogel, David Wiedmer, Bruno Wymann.

Projektleitung: Daniela Ambühl, BFH Departement Wirtschaft

Künstlerisches Konzept und Umsetzung: Frantiček Klossner

Kamera: Tom Bernhard, Recycled TV AG für Film und Fernsehen

Postproduktion: Adrian Perez, Project Axel Foley GmbH

Software Engineering: Daniel Schwab, Substring GmbH

3D Modeling: Sven Zürcher, Peter Gaffuri AG

3D CNC Foam Carving: Thierry Ingold, Form AG


Über den Künstler

Frantiček Klossner lebt in Bern und befasst sich mit Videokunst, Installation, Performance, Fotokunst, Zeichnung und Visual Poetry. In seinem spartenübergreifenden Schaffen beschäftigt er sich mit existenziellen Fragen und fokussiert dabei auf das Menschenbild der Gegenwart. In Videoinstallationen wie «Komm, sprich mit mir» und performativen Skulpturen setzt Klossner den menschlichen Körper ein, um die Prozesse psychischer Individuation und sozialer Interdependenzen darzustellen. Er verhandelt in seinen ästhetischen poetischen Werken politische und gesellschaftliche Themen, wobei er das Publikum in einen direkten Dialog einbindet. Mehr Informationen zu seinem Schaffen finden Sie hier.

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Wie die Digitalisierung den Kaufprozess verändert

Dank dem Internet können sich Konsument*innen heute leichter über Produkte informieren und online wie klassisch im Fachgeschäft einkaufen. Eine vom SNF geförderte Studie der BFH Wirtschaft untersucht, wie die digitalen Angebote die Kaufentscheide der Konsument*innen beeinflussen. Im Gespräch mit BFH-Forscherin Lilian Laub.

Lilian Laub, wissenschaftliche Assistentin am Institut Innovation and Entrepeneurship

Auf was fokussieren Sie in der Studie ?
An unserem Institut beschäftigen wir uns mit den Veränderungen in Unternehmen durch die Digitalisierung. Da lag es nahe, auch das veränderte Kaufverhalten der Konsument*innen zu untersuchen. Mit der Entstehung des eCommerce sind nicht nur mehr Waren für die grosse Masse leichter erreichbar, sondern auch der ganze Kaufprozess hat sich heterogen aufgefächert. Wir können uns vor einer Anschaffung online über ein Produkt informieren, Preise vergleichen und dann doch in einem Laden einkaufen oder umgekehrt: wir lassen uns in der Filiale beraten und kaufen dann online. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Bewertungen bzw. Rezensionen der Online-Kund*innen, die Kaufentscheidungen auch beeinflussen können.

Wie untersuchen Sie den Kaufprozess bzw. die Kaufentscheidung?
Wir untersuchen wie sich die Digitalisierung in Form von eCommerce und traditionellen Kaufprozessen die heutigen Kaufentscheide beeinflussen. Dazu analysieren wir die Kaufentscheide von 90 Proband*innen. Diese bekommen innerhalb von vier Wochen zwei Aufträge, bei welchen sie sich über Produkte informieren sollen, mit der Absicht, sie später zu kaufen. Beim einem der Aufträge dürfen sie digitale Hilfsmittel wie Apps, Foren und Plattformen nutzen. Bei dem anderen Auftrag dürfen sie allerdings nur traditionell recherchieren, also im Freundes- und Bekanntenkreis, in Zeitungen, Zeitschriften, Werbeprospekten sowie im Geschäft. Sie dokumentieren ihre Recherche in einem Realtime-Tagebuch mit WhatsApp. So haben wir Forschenden die Gelegenheit, direkt und unmittelbar nachfragen zu können. Die Proband*innen durchlaufen den gesamten Entscheidungsfindungsprozess ohne jedoch am Schluss das Portemonnaie zu zücken. Damit es für die Proband*innen nicht redundant wird, klären wir im Voraus mit einem Fragebogen ab, welche Produkte für sie in Frage kämen. Die Antworten werten wir qualitativ aus.

Was ist an Ihrer Studie speziell?
Die Erhebungsmethode ist «neuartig», man kann mit verschiedensten Mitteln kommunizieren und Bilder, Texte, Emojis und Sprachnachrichten sind erlaubt – die Proband*innen haben bei der Dokumentation Ihrer Tätigkeiten viele Freiheiten. Uns ist es so möglich, nicht nur den strukturellen Ablauf des Kaufentscheidungsprozess zu verfolgen, sondern auch den Einfluss von kognitiven und emotionalen Aspekten zu ergründen – beispielsweise wann sich Personen überfordert fühlen oder erfreut sind. Nach Abschluss der Studie werden im kommenden Jahr die Ergebnisse auf einem Symposium vorgestellt. Proband*innen und Forschenden haben so die Gelegenheit sich über die Ergebnisse auszutauschen und weitere Forschungsansätze zu entwickeln.

Seit wann läuft das Projekt?
Das Projekt läuft seit Dezember 2018 für 18 Monate und wird vom SNF gefördert. Unser ist Ziel es, dass die Erhebungsphase Ende Sommer abgeschlossen werden kann.

Für welche Probandengruppe interessieren Sie sich?
Grundsätzlich für alle Personen ab 16 Jahren bzw. für alle, die WhatsApp haben, etwas Zeit und sich vielleicht sogar auch dafür interessieren, wie ihr eigener Entscheidungsfindungsprozess abläuft. Bisher haben sich vor allem Interessenten unter 30 Jahren gemeldet, daher suchen wir vor allem noch Teilnehmer*innen über 40. Interessierte können hier melden und ihre Mailadresse angeben, dann erhalten sie von uns detailliertere Informationen. Wir bieten auch eine kleine monetäre Kompensation.


Zur Person

Lilian Laub ist wissenschaftliche Assistentin am Institut Innovation and Entrepeneurship am Departement Wirtschaft der Berner Fachhochschule. Ihre Forschungsinteressen konzentrieren sich auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

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Wie sich digitale Beziehungen auf unsere psychische Gesundheit auswirken

Wir bloggen heute von der Fachtagung «Distanzlos distanziert» der Berner Fachhochschule Gesundheit und dem Freiburger Netzwerk für psychische Gesundheit. In Referaten und Workshops geht es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Alltag und unsere Beziehungen. 

Die Tagung startet mit einem Referat von Prof. Dr. Georg Hasler, Chefarzt des Freiburger Netzwerks für psychische Gesundheit über Beziehungen – was sind Beziehungen, wie entstehen sie und wodurch sind sie gekennzeichnet? Er zeigt auf, dass die Beziehung zwischen den NutzerInnen und den grossen Konzernen wie Facebook, Google und Amazon ebenso hierarchisch ist, wie die Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. „Die natürliche menschliche Beziehung ist aber in ihrem Ursprung nicht-hierarchisch, Hierarchien sind erst später entstanden“, sagt Hasler. Die Menschen haben über tausende Jahre egalitär gelebt. Die Bindungsforschung belege, dass zwischenmenschliche Beziehungen gar nicht so stabil sind, wie wir oft denken, sondern viel flexibler, dynamischer und wandelbarer. „Wir können uns also leicht auf digitale Beziehungen einlassen“, sagt Hasler und zitiert die moderne Bindungstheorie: „Bindung ist ein fundamentales Bedürfnis und hat grössere Priorität als der Wunsch nach Selbstverwirklichung.“ Dieses Bedürfnis befriedigt sich durch einen regelmässigen Kontakt zu Personen, die sich gegenseitig umeinander sorgen und gemeinsame Erlebnisse haben. Die Inhalte in den sozialen Medien wie Instagram erzählen jedoch keine gemeinsamen Geschichten, in denen beispielsweise eine Krise überwunden wird. Selbstdarstellungen überwiegen. Generell kann sich das Bindungsbedürfnis erschöpfen. „Die Frage ist nun, können digitale Beziehungen das Bindungsbedürfnis auch stillen?“, fragt Hasler.

Die vergleichende Studie von Twenge et al (2017) zeigt, dass Jugendliche mit Smartphones:

  • später und weniger Autofahren,
  • später und weniger Sex haben,
  • aber mehr Pornographie konsumieren
  • sich weniger prügeln und betrinken,
  • weniger sexuelle Gewalt verüben,
  • mehr Wert auf Sicherheit legen,
  • politisch Stellung nehmen,
  • ihre Eltern weniger kritisieren
  • mehr Ferien mit den Eltern verbringen
  • haben weniger reale Freunde
  • sind mehr auf sich bezogen,
  • haben weniger Altruismus, Religiösität und
  • starten späterer ins Berufsleben.

„Einiges davon sind Merkmale einer sozialen Phobie“, sagt Hasler. Auch gibt es Untersuchungen, dass eine steigende Bildschirmzeit depressive Symptome vergrössert – vor allem bei Frauen. Menschen, die sehr viel Zeit im Netz verbringen und dort virtuelle Beziehungen pflegen, erschöpfen ihr Bedürfnis nach Beziehungen, so dass sie kein Bedürfnis mehr nach realen Beziehungen haben. Dies fördere insbesondere bei Frauen Depressionen.

Andere Studien zeigen, dass besonders die Beziehungen, die in geografischer Nähe sind, viel wichtiger und entscheidender für die psychische Gesundheit sind als etwa sehr gute, aber weit entfernte Freunde. Ein Umzug müsste also sehr einscheidend sein. Dies trifft vor allem für Jugendliche zu: werden sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden, steigen Suizid- und Gewaltrisiko deutlich an. Die digitalen Beziehungen puffern den Umzug nicht ab. Auch gemeinsame Aktivitäten und Hobbies fördern enge Bindungen und die Resilienz sowie gemeinsam überwundene Krisen. „Digitale Bziehungen werden u.a. von Facebook durch Algorithmen lokalisiert“, sagt Hasler. Die Beziehungen können humanisiert werden, durch die Nutzung entsprechend dem individuellen Alltagsrhythmus, mehr Gesichten als Bilder zu konsumieren u.a.

In der Psychiatrie kann die digitale Vernetzung genutzt werden. Hasler und sein Team haben eine App zur Rückfallverhütung entwickelt, die Standorte, Schlaf, Umgebung, soziale Beziehungen und Konzentration via Tippfehler eines/einer PatientInnen trackt.

Macht die Digitalisierung das Gesundheitswesen effizienter?

Wird eine digitalisierte Gesundheitsversorgung wirtschaftlicher? Prof. Dr. Urs Brügger, Direktor des BFH-Departements Gesundheit über die aktuelle Gesunheitsökonomie. Brügger schildert die Digitalisierung des Gesundheitssektors von Elektronischem Patientendossier (EPD) bis Künstliche Intelligenz. Während das EPD in der Schweiz harzt, geht es mit KI rasant voran.

Eine Studie etwa untersuchte, wer besser diagnostizieren kann Ärztinnen oder Maschinen? Und kommt zu dem Schluss, dass Maschinen beispielsweise in der Radiologie dies bald besser können und ganz übernehmen könnten. „In der Diagnostik ist die Entwicklung rasant und mehr Ärztinnen werden durch Maschinen ersetzt“, sagt Brügger. Die Interpretation und Behandlung wird dann jedoch wieder vermehrt von Menschen übernommen. Auch in der Physiotherapie erfüllen vermehrt Roboter mechanische, wiederkehrende Tätigkeiten. „Das lieben natürlich die Spitalmanager, da Roboter effizienter und messbarer arbeiten als PhysiotherapeutInnen“, sagt Brügger.

In der somatischen Medizin gehören Maschinen also schon zum Alltag. Heikler ist die psychiatrische Medizin, in der es bisher zwar webbasiertes Coaching gibt. Dabei wird jedoch stets auf FachärztInnen verwiesen. „Da stellt sich manchmal schon die Frage, ob diese Tools nur Spielerei sind oder ein Medizinprodukt ist“, betont Brügger. Viele Gadgets würden die Anforderungen nach Art 32 des KVG kaum bis nicht erfüllen:

  1. Die Leistungen (…) müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein.
  2. Die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft.

Brügger plädiert daher dafür, die Risiken von Geräten und Apps zu identifizieren und zu prüfen. Nicht nur die Sicherheit und Wirksamkeit werden dabei angeschaut sondern auch die Kosten. Während die Herstellerfirmen natürlich Versprechen abgeben, braucht es doch eine gesunheitsökonomische Analyse, die Effekte und Kosten gegeneinader aufwiegen. Bei diesen Studien kommen auch ethische Aspekte ins Spiel. „Das Ziel ist jedoch nicht, dass wir billiger werden, sondern eine besssere Behandlung anbieten“, sagt Brügger.

Digitalisierung in der Psychotherapie

Onlinetherapie und Apps – Prof. Dr. Thomas Berger, Leiter der Klinischen Psychologie und Psychotherapie der Universität Bern stellt digitale Angebote innerhalb der Psychotherapie vor. In Australien gehören diese bereits zur Regelversorgung. Auch Schweden hat vorwärts gemacht mit der „Internetpsykatri“ – einer Onlinetherapieform. Besonders flächenmässig grosse Länder haben eine grössere Akzeptanz für Onlinetherapien, da die PatientInnen lange Wege zu TherapeutInnen haben. Aber auch in den Niederlanden kombinieren heute schon 70 % der psychiatrischen Kliniken Onlineangebote mit konservativen Therapien. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass etwa die Hälfte der psychisch Kranken eine herkömmliche Therapie finden. Mit den Tools für Onlinetherapien erreicht man mehr Menschen mit psychischen Problemen, als wenn man darauf wartet, dass sie in die Klinik oder in die Praxis kommen.

Onlinebasierte Therapien haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt. Es gibt Email-, Chat- und Videotherapie. Diese haben zwar den Vorteil, dass man Menschen erreicht, die weit weg sind. Aber können zeitlich viel aufwändiger sein. Zudem gibt es Selbsthilfeplattformen und -apps. Am meisten aber wird „angeleitete Selbsthilfe“ angeboten – wie eben Australien und Schweden, bei der im Hintergrund TherapeutInnen stehen und erreichtbar sind. Dabei werden praktische Übungen und Psychoedukation an die App delegiert und anschliessend Gespräche weiterhin von und mit Menschen geführt werden. Berger plädiert für diese „Mischbehandlungen“ (blended treatments) – diese könnten künftig wichtiger werden. Gleichzeitig werden Änderungen der Symptome protokolliert und auf lange Zeit beobachtet. Das ist für Berger zusammen mit einer regelmässigen Umfrage zu Symptomen und Zustand ein grosser Vorteil gegenüber der traditionellen Therapiesituation, die gewöhnlich keine Umfragen bei den PatientInnen macht.

Die bisherigen Tools ahmen die traditionelle Therapiesitzung nach: einmal pro Woche etc. Es gibt akademische Apps, die zwar evidenzbasiert sind, aber nicht zeitnah und attraktiv entwickelt werden. Dem gegenüber stehen kommerzielle Aps, die zwar attraktiv daher kommen, aber nicht wirksam sind. Dabei können App-Bewertungsprogramme wie MindTools.io helfen.

Die Forschung hat gezeigt, dass ungeleitete Selbsthilfeapps zwar viele Menschen erreichen, aber nicht besonders hohe Effekte erzielen. Im Präventionsbereich und in public health können sie sinnvoll sein. Es habe sich gezeigt, dass es wichtiger ist, wer das Produkt wie vermittelt als das Produkt selbst. Angeleitete Selbtshilfeapps etwa genauso effektiv sind wie eine Face-to-face-Therapie bei vielen psychischen Krankheiten, das zeigen zahlreiche Studien. Mischbehandlungen die bessere Wirkung haben als die herkömmliche Therapie. Aber womöglich nutzen dies eher technikaffine PatientInnen. Berger sieht die Zukunft in Mischbehandlungen. „Die Kombination von Apps oder Onlineangeboten mit einer Therapiebeziehung ergibt eine bessere Psychotherapie“, glaubt Berger.

Vom Unbehagen mit der Digitalisierung

Dem Unbehagen in der digitalen Zusammenarbeit widmet sich Prof. Dr. Reinhard Riedl, Leiter des BFH-Zentrums Digital Society. Von Unbehagen ist auf den ersten Blick in der IT nicht so viel zu sehen, da die heutigen Apps für jedermann nutzbar sind. Früher hingegen war die Nutzung von Computern oft unbequem.

Die Zukunft sieht Riedl in der engen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine als Tandem. Klingt auch noch nicht nach Unbehagen. „Wir werden in Zukunft nicht mehr gefangen sein in der Informatik, der Mensch und seine Werkzeuge werden zusammenkommen, um die Welt noch besser zu beherrschen“, sagt Riedl. Dennoch herrscht eine grosse Angst, dass die Technologien der dritten Ordnung, also solche, die miteinander kommunizieren können, die Herrschaft über uns übernehmen werden. „Das ist eine der realen Befürchtungen der modernen Philosophie“, so Riedl. Real ist demnach auch, dass Maschinen sehr weitreichende Funktionen und Berufe übernehmen werden. Jedoch könnten im Wettbewerb von Mensch und Maschine nur beide gemeinsam gewinnen können. Der Kontext, in dem eine Maschine vorherrscht, muss begrenzt werden. Beispiel: Maschinen können inzwischen zwar teilweise besser radiologisch diagnostizieren, doch nur in der Kombination mit dem Menscen stimmen die Diagnosen wirklich.

Momentan wird unser Online-Erlebnis durch die personalisierten Filterblasen bestimmt. Die Optimierung wird aber abgelöst werden durch voraussagende Kognitionswerkzeuge, die sich mit dem menschlichen Denken synchronisiert. Die Filterblasen werden uns weniger einschränken und weniger wahrnehmbar sein.

Dass Maschinen die Herrschaft übernehmen, glaubt Riedl hingegen nicht, dies sei eine zeitlich „sehr ferne Vorstellung“. Die Berufe werden sich verändern ja, aber die Technologien werden unsere Wahrnehmungen vergrössern. Die klassische Digitalisierungsthese in der Wirtschaft derzeit lautet: Es wird mehr Vielfalt aber auch mehr Ungleichheit geben, sagt Riedl. Die Arbeitsmärkte inkluse Stellensuche werden sich stark verändern. Prognosen gehen davon aus, dass Menschen weniger bei KMU angestellt sein werden, sondern flexibel bei Grossunternehmen. Damit gehe Stabilität verloren udn fordere von den ArbeitnehmerInnen ein hohes Mass an Selbstoptimierung und lebenslanges Lernen.

Durch die Digitalisierung wird eine neue gesellschaftliche Ordnung entstehen, ist sich Riedl sicher. Diese wird auf den Grundsätzen von Open Data und Traded private Data beruhen. Die Auswirkungen sind:

  • Wir vernetzen uns stärker,
  • sind transparenter,
  • fokussieren uns stärker auf das Hier & Jetzt,
  • es gibt weniger Raum für Individuen abseits des Mainstreams und
  • alles, was wir tun, wird bewertet werden, wie es schon heute mit der Bürgerüberwachung in China Realität ist.

Gleichzeitig verlieren wir:

  • Selbstverständlichkeiten,
  • Gemeinsamkeiten und
  • auch Abgrenzungen.

Für Riedl ist die Digitalisierung deshalb so erfolgreich, weil sie wenig Freiräume ermöglicht und anti-disruptiv wirkt. Kreativität und Zufall sind bei der Nutzung von Algorithmen und Datennutzung nahezu ausgeschlossen. „Wenn man immer unter idealen Bedingungen lebt, gibt es ja kaum noch Reibungspunkte“, so Riedl. „Stattdessen wird unser künftiges Leben davon bestimmt, dass wir einen permanenten Auftritt hinlegen müssen.“ Jede aktive Verweigerung werde in diesem System unmöglich sein, da wir immer unter Beobachtung stehen. Die digitale Zusammenarbeit werde immer effizienter, aber werde die Menschen immer mehr reinnehmen. Man könne heute nicht mehr sagen, was in drei Jahren sein wird.

Damit endet die Tagung. Die nächste «Distanzlos distanziert» findet im Februar 2021 statt.

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Januarausgabe: 2019 – die Konvergenz beginnt

Lange haben wir über die Konvergenz der Medien diskutiert, ehe sie in Form von Smartphones Wirklichkeit wurde, die die NutzerInnen ins Zentrum der Integration stellen, im Rahmen kontrollierter Ökosysteme. Das zeigt zweierlei, dass einerseits Innovation auf abstrakter Ebene durchaus antizipiert werden, dass andererseits aber die konkrete Materialisierung doch oft sehr überrascht. Insbesondere haben viele Topmanager die Bedeutung des Smartphones beim ersten Auftauchen als erstes iPhone gar nicht verstanden – obwohl das Konvergenzthema ein bekanntes und etabliertes war. Man kann daraus schliessen, dass Dreh- und Angelpunkt immer der konsumierende Mensch ist. Aber dies definiert noch nicht, in welcher Rolle der Mensch dabei agiert. Die kann sehr unterschiedlich sein. Es ist deshalb sinnvoll, den Mensch in allen möglichen Rollen als Integrator zu betrachten, wenn wir uns mit Konvergenz- oder Integrationsfragen im Kontext der digitalen Transformation befassen.

Schon lange haben wir mittlerweile auch über die vierte industrielle Revolution diskutiert, die uns in Form der cyberphysikalischen Systeme versprochen wurde, also das Konvergieren, respektive die Integration von digitalen Informationsverarbeitungssystemen und physikalischen Produktionssystemen. Doch bislang fehlt die Möglichkeit, sie fachdisziplinär zu gestalten. So bleibt die vierte industrielle Revolution ein Marketing-Begriff, der sich in Diskussion als kaum bewältigbar erweist, beispielsweise wenn es um Cybersecurity für cyberphysikalische Systeme geht. Aber auch Standardisierungen von Teilaspekten wie die Industrie 4.0 überzeugen bislang kaum. Wir benötigen dringend disziplinär getragene Design-Instrumente, besser noch transdisziplinäre Design-Instrumente, die ein Konvergieren der disziplinären Perspektiven in der Praxis ermöglichen. Dabei sollte ebenfalls der Mensch im Zentrum stehen, aber nicht als KonsumentInnen, Betroffene oder NutzerInnen, sondern als GestalterInnen. Früher nannte man das IngenieurInnen, doch mittlerweile ist es rivalisierenden Disziplinen gelungen, die Reputation der IngenieurInnen massiv zu diskreditieren. «Ich glaube ihnen nicht, sie sind Ingenieur» ist kein seltener Spruch in der Geschäftswelt. Es ist es politisch geschickter von GestalterInnen zu sprechen. Denn dafür halten sich alle.

Die Frage lautet dann, wie wir ein Konvergieren des multidisziplinären Gestaltens erreichen – und zwar ein Konvergieren auf Augenhöhe. Es bringt nichts, wenn Software-IngenieurInnen die wirkliche Arbeit machen, die dann von Usability-ExpertInnen ein wenig umgestellt wird, um das Schlimmste zu beheben. Es bringt ebenso wenig, wenn die BetriebswirtInnen grossartige Anweisungen geben, und die Software-IngenieurInnen sich in der Disziplin der technischen Hermeneutik üben. Es bringt bestenfalls den TheaterautorInnen etwas, die an «Top Dogs 2.0» arbeiten, wenn die DesignerInnen mit den ManagerInnen Design-Thinking-Workshops machen. Und ich fürchte – um den Reigen zu schliessen – dass es niemanden gross beglücken würde, wenn die User Experience SpezialistInnen sich vom postdramatischen Theater inspirieren liessen. Obwohl – einen Versuch wäre es wert!

Was wir benötigen ist eine Konvergenz, in der alle ihre Expertise auf Augenhöhe einbringen können. Vielleicht aber ist dieser Wunsch eine Illusion, weil er eine Bereitschaft zur Teamarbeit voraussetzt. Vielleicht ist die vielversprechendste Lösung die, dass wir Werkzeuge bauen, die es den transdisziplinären GestalterInnen erlauben, die disziplinären Expertisen zu bündeln und zu nutzen, wie sie es möchte. Den einzelnen Menschen ins Zentrum des Designs zu stellen ist letztlich einfacher als das Team ins Zentrum zu stellen. DevOps hat zwar einen Qualitätssprung in der Zusammenarbeit innerhalb der IT und zwischen Business und IT ermöglicht, aber es ist bislang völlig unklar, wie wir damit Systeme gestalten können, deren Komplexität nicht durch ein Entkoppeln mittels Microservices gebändigt werden kann.

Mit digitalen Werkzeugen, die entweder für Individuen oder für Teams ein kohärentes multidisziplinäres Gestalten ermöglichen, kann auch die Gestaltung von soziotechnischen Ökosystemen adressiert werden, die cyberphysikalische und soziale Aspekte zusammen systemisch betrachten. Es ist Zeit, dass wir beginnen, die Konvergenz der Gestaltungsdisziplinen für cyberphysikalische Systeme und für soziotechnische Ökosysteme vorwärts zu bringen.

Die erste Societybyte-Ausgabe 2019 ist schon mal eine Mischung – vor allem aus Beiträgen zum Thema Digitalisierung und Geisteswissenschaften sowie aus Beiträgen zum Thema Smartcity. Das wäre ein Anfang fürs Konvergieren, auch wenn er sich durch Zufälle ergab. Lassen Sie uns 2019 ganz bewusst zum Jahr der Konvergenz und der Integration machen!

Herzlichst, Ihr Reinhard Riedl

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Alles digital kuratieren – von Leistungsanbietern bis zu Kunstwerken

Die Digitalisierung macht das Kuratieren zur Schlüsselkompetenz und zum attraktiven Geschäftsfeld, weil sie die Vielfalt an zugänglichen Angeboten extrem erhöht. Gleichzeitig vereinfacht sie die Kuratierung in mehrfacher Hinsicht, schreibt Reinhard Riedl, Leiter des BFH-Zentrums Digital Society.

Der Autor verwendet den Begriff  «Kurator» in der weiblichen Form und schliesst damit auch die männlichen Kuratoren mit ein. Entsprechendes gilt für alle Beispielberufe.

«Kuratorinnen» waren einst altrömische Bürokratinnenen (1), in der digitalen Welt ist dagegen das Kuratieren allgegenwärtig und wird oft von Maschinen übernommen. Es bedeutet, aus der exzessivem Vielfalt von Angeboten eine Auswahl so dargestellt und angeordnet zu präsentieren, dass es die oder der Interessierte möglichst einfach und attraktiv findet. Das heisst, Kuratieren hat eine Empfänger- und eine Sender- beziehungsweise Quellenperspektive. Aus Empfängerperspektive ist es nichts anderes als «den richtigen Zugang schaffen». Aus Quellenperspektive geht es vor allem um ein Vermitteln, wozu aber auch die Hilfe zur Aneignung zählt, sowie in einigen Bereichen die Sicherung des langfristigen Zugangs, beispielsweise die Konservierung. Auch in der Quellenperspektive steht nach allgemeinem Sprachverständnis der Nutzen für die Empfänger im Vordergrund. Im Folgenden wird diese Sichtweise übernommen.

Sehr unterschiedliche Praktiken

Im trivialsten Fall werden beim Kuratieren Listen erstellt. Oft geht es aber um ein nichtlineares Arrangieren, nicht nur in der Kunst. Es gibt insbesondere auch kontraintuitive Formen des Kuratierens, die antieffizient wirken. Der Supermarkt, der Umwege erzwingt, ist hierbei ein Grenzfall. Das vielleicht berühmteste Beispiel für ein Kuratieren durch chaotisches Arrangieren ist das legendäre MIT-Gebäude Nummer 20, das im Ruf stand, Zusammenarbeit mehr zu fördern als alle Führungsmassnahmen, weil es so unübersichtlich war. (2)

Eine exakt abgrenzende Definition des Kuratierens ist nicht möglich. Unklar ist die Abgrenzung beispielsweise im Fall des Vermittelns im Sinne von Zuhalten. Der «Broker» ermöglicht eine geschäftliche Aneignung, auch in Fällen die gegen Moralvorstellungen oder sogar gegen Gesetze verstossen. Der Vermittler von Neuer Musik tut das Gleiche, wenn auch im immateriellen Sinn. Besteht da ein Unterschied? Und wenn ja, was ist dann mit den Sharing-Economy-, E-Commerce-und Dating-Plattformen?

Klar ist hingegen, dass Kuratieren in vielen Fällen aus unterschiedlichen Tätigkeiten oder «Features» besteht, die auch separat für sich existieren. Beispielsweise ist das Verfassen von Kunstkritiken Teil von vielen Kuratierformen, beispielsweise im E-Commerce, existiert aber als Tätigkeit für sich in den Medien, wo es eine Hilfe zum Kuratieren-für-sich-selber darstellt.

Die heutigen Super-Kuratierer sind Google, Amazon und Co. In vielen Unternehmen gibt es neu neben dem Datencoach auch die Daten-Kuratorin, die letztlich die Datenpolitik des Unternehmens gestaltet und immer mehr zur Schlüsselperson für die zukunftsorientierte Unternehmensführung wird. Doch das Handwerk des Kuratierens ist alt. Ein Urmodell der Kuratorin ist die Archivarin. Sie musste Dokumente so aufbewahren, dass auch in der fernen Zukunft gefunden und genutzt werden konnten – ohne zu wissen, wofür sie genutzt würden. Ein frühes Beispiel für eine Nachhaltigkeitsherausforderung! Vielleicht noch älter ist das Kuratieren der Lehrerinnen. Sie kuratieren Wissen. Das moderne Kuratieren ist also ein sehr altes, wenn auch meist nichtmanuelles, Handwerk.

Sehr unterschiedliche Auswirkungen

Trotzdem stören sich viele an Kuratieraktivitäten und am Wort Kuratieren beziehungsweise am Wort Kuratorin: «Wieso braucht tolle Kunst Vermittlung?» fragen die einen. «Warum muss eine für andere auswählen oder Kunstwerke kritisieren?» beschweren sich andere, «Wieso braucht es einen Begriff für etwas, das alle tun?» klönen dritte. Lassen Sie uns deshalb das «Problematische» der neuen Begrifflichkeit und der überall gewärtigen Aktivitäten näher untersuchen.

Obwohl Kuratieren fast überall wichtig ist, macht es Sinn, es explizit zu thematisieren, denn dies fördert die Professionalisierung. Dass dabei transversal Ideen fliessen und Good Practices bereichsübergreifend ausgetauscht werden, ist eine positive Wirkung der Karriere des Begriffs. Ein Beispiel für einen breiten transversalen Ideenfluss ist die Digitalisierung des Kuratierens. Neue digitale Werkzeuge unterstützen die Arbeit der Kuratorinnen auf sehr ähnliche Weise in sehr unterschiedlichen Bereichen. Zu vermeiden ist dabei nur, dass traditionelle Praktiken einzelner Bereiche durch neue, universelle verdrängt werden. Unter dieser Randbedingung ist eher positiv als ambivalent, dass durch die Begriffsbildung hinterfragbar wird, was in der jeweiligen Kuratorinnenrolle geleistet wird.

Eher positiv als ambivalent ist auch, dass Kuratieren Effizienz- und Qualitätssteigerungen ungeheuren Ausmasses ermöglicht – zwar nicht in allen Bereichen, aber die Anzahl der nicht digital kuratierbaren Bereiche schrumpft stetig. Indem Kuratiertes digital repräsentiert und algorithmisch organisiert und arrangiert werden kann, und indem der verbleibende menschliche Anteil an der zu leistenden Arbeit in die sogenannte «Crowd» ausgelagert werden, kann zugleich einerseits beim Kuratieren mehr berücksichtigt und personalisiert werden und anderseits das zugrunde liegende Geschäftsmodell so verbessert werden, dass mehr Kuratierungen stattfinden können. Virtuelle und augmentierte Realität, aber auch andere Technologien wie 3D-Printing, können sehr effektiv für die Vermittlung genutzt werden. Die Digitalisierung ermöglicht zudem neue Formen des Bewahrens ebenso wie auch bessere Zugriffe auf das Bewahrte. Allerdings sind manche Praktiken der so genannten ExOs (exponentielle Organisationen, (4)) ziemlich abschreckend, weil das bedarfsorientierte Adhoc-Nutzen von Arbeitskräften prekären Arbeitsverhältnissen Vorschub leistet und weil gerade der Hype um die Werte einer ExOs geringere Entlöhnung von Zuarbeit für das Kuratieren fördert.

Dass per se neue Werte für das Kuratieren entstehen, oder Werte von einem Bereich in den anderen transferiert werden, hat ebenfalls positive und negative Folgen. Positiv sind die Folgen dort, wo eine weltoffene Haltung dominiert, durch neue Wertperspektiven mehr erfahrbare Vielfalt entsteht und deshalb die Wertschöpfung im Kuratieren steigt. Negativ sind die Folgen dort, wo finanzielle Entlöhnung für geleistete Arbeit reduziert oder wo der Austausch unter unterschiedlichen Szenen unterbunden wird. Was viele Zeitgeistautoren oft im Wertehype übersehen, ist, dass erstens nichtmonetäre Entschädigungen letztlich weniger Freiheit bedeuten und dass zweitens, die Wertorientierung in der Gesellschaft Gräben aufreisst. Auch die zunehmende Messbarkeit der Leistung einer Kuratorin hat erfreuliche und gefährliche Folgen, weil es einerseits faktenbasiertes Feedback gibt, anderseits dadurch aber auch oft der Blick auf das Wesentliche und die Zukunft vernebelt wird.

Votum für forschungsbasierte Digitalisierung und Professionalisierung

Was wir angesichts des grossen Potentials der Digitalisierung und Professionalisierung im Kuratieren – und der damit gleichzeitig verbundenen Gefahren – dringend bräuchten, ist dreierlei: angewandte Grundlagenforschung, einen bereichsübergreifenden Erfahrungsaustausch unter Kuratorinnen und spezielle Ausbildungen. In dieser Reihenfolge, aber zeitlich überlappend, damit es nicht zu lange dauert, bis wir genügend viele digital und fachlich kompetente Kuratorinnen haben. Denn es ist absehbar, dass der Bedarf in Zukunft rasant steigend wird.

 


Referenzen

  • (1) Heute schon kuratiert? Joachim Günther, 18.11.18
  • (2) Curation: The Power of Selection in a Worls of Excess, Michael Bhaskar, Little, Brown Book Group Limited, 2017
  • (3) Salim Ismail, Michael S. Malone, Yuri van Geest: Exponentielle Organisationen: Das Konstruktionsprinzip für die Transformation von Unternehmen im Informationszeitalter, Vahlen 2017
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Digital Humanities – zwischen Metawissenschaft und neuer Disziplin

Die Digital Humanities, also die «digitalen Geisteswissenschaften» sind zurzeit in aller Munde – sei es weil sie die Geisteswissenschaften retten und in eine goldene Zukunft führen werden, sei es weil sie drohen, sie endgültig zu zerstören. Eine Einordnung unseres Autors, dem Linguistik-Informatiker Michael Piotrowski von der Universität Lausanne

Derartige Heilserwartungen bzw. Untergangsszenarien sind offensichtlich überrissen, aber obwohl es inzwischen etliche Konferenzen, Zeitschriften und Professuren (einige davon auch in der Schweiz) gibt, gilt nach wie vor: «Die Digital Humanities sind ein Fach, dessen Inhalte und Qualitätsstandards seit geraumer Zeit der Klärung harren» (Loescher 2017), obwohl sie in der Forschungsgemeinde ausführlich diskutiert wurden: es gibt ganze Bücher zu diesem Thema (Terras, Nyhan, und Vanhoutte 2013); die Seite What Is Digital Humanities? liefert bei jedem Aufruf eine zufällige Definition aus einer Sammlung von über 800. Die Frage ist dabei keineswegs so «akademisch» wie es zunächst scheinen mag, denn Inhalte und Qualitätsstandards haben direkte Auswirkungen auf die Finanzierung von Projekten und die Karrieren von Wissenschaftern, aber auch auf die Mobilität und Berufsaussichten von Studierenden in den entsprechenden Studiengängen. Sahle (2015) mahnt zu Recht: «Um die Digital Humanities nicht der Beliebigkeit anheim fallen zu lassen, kommen wir nicht umhin, auf einen klar und fest definierten Begriff zu pochen.»

Suche nach einer Definition

Zunächst ist festzuhalten, dass die Frage nicht ist, was die Digital Humanities im ontologischen Sinne sind, sondern was wir darunter verstehen wollen – gesucht ist also keine feststellende, sondern eine festsetzende Definition.

Was viele Definitionsversuche gemeinsam haben, ist dass sie den Einsatz informatischer – insbesondere quantitativer – Methoden und Werkzeuge und grosse Datenmengen erwähnen. Aber die Verwendung bestimmter Werkzeuge und die dadurch mögliche Bearbeitung grösserer Datenmengen in kürzerer Zeit begründet noch kein Forschungsgebiet oder gar eine neue Disziplin (1). Disziplinen sind vielmehr charakterisiert durch eine bestimmte, einzigartige Kombination von:

  1. einem Forschungsgegenstand und
  2. einer Forschungsfrage.

Forschungsmethoden stellen einen weiteren, aber nur sekundären Aspekt dar, denn sie sind offensichtlich vom Forschungsgegenstand und der Forschungsfrage abhängig, ebenso wie vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der einerseits eine ständige Anpassung der Methoden erfordert und gleichzeitig ihre Weiterentwicklung ermöglicht. Darüber hinaus benutzen alle wissenschaftlichen Disziplinen je nach Bedarf verschiedene Methoden: zwar sind qualitative Methoden zweifellos «typisch» für die Geisteswissenschaften – nicht zuletzt, da ihre Forschungsfragen qualitativ sind –, haben auch quantitative Methoden eine lange Tradition (2).

Modelle ermöglichen informatische Methoden

Wie können wir nun die Digital Humanities sinnvoll definieren? Die Digital Humanities sind selbstverständlich nicht die erste Begegnung der Informatik mit anderen Disziplinen (3). Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass das Entscheidende dabei nicht der Einsatz von Rechnern als solches ist, sondern die Konstruktion von formalen Modellen in den jeweiligen Disziplinen, die die Nutzung informatischer Methoden überhaupt erst ermöglichen. Der Einsatz von Rechnern ist wiederum kein Selbstzweck, sondern ist motiviert durch die Möglichkeiten der rechnergestützten Modellierung – schliesslich wurden Computer historisch gesehen um der Modellierung willen geschaffen. Zum anderen bedarf die Erstellung von Modellen – ganz allgemein – geeignete «Baumaterialien», ob das nun Stokys-Elemente oder Algorithmen sind.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Definitionen von Digital Humanities:

  • Die Erforschung und Entwicklung der Mittel und Methoden, die für die Erstellung von formalen Modellen in den Geisteswissenschaften nötig sind (theoretische Digital Humanities).
  • Die Anwendung dieser Mittel und Methoden, um konkrete formale Modelle in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu erstellen (angewandte Digital Humanities).

Der Begriff angewandte Digital Humanities bezeichnet also die Forschungsfelder, die, wie beispielsweise die Digitale Geschichtswissenschaft oder die Digitale Literaturwissenschaft, Fragestellungen ihrer Mutterdisziplin unter Verwendung formaler Modelle untersuchen, und die damit zusammenhängende Methodologie. Der Unterschied zwischen «traditioneller» und «digitaler» Geschichts- oder Literaturwissenschaft besteht im Prinzip lediglich in der Art der erstellten Modelle: bei Letzteren sind es formale Modelle, die auf Rechnern implementiert und mit informatischen Methoden manipuliert werden können. Ansonsten teilen sie den Forschungsgegenstand und die Forschungsfrage ihrer jeweiligen Mutterdisziplin. Insbesondere gelten für die «digitale» Forschung selbstverständlich die gleichen Relevanz- und Qualitätskriterien.

Die theoretischen Digital Humanities hingegen untersuchen auf einer höheren Abstraktionsebene die allgemeinen Eigenschaften solcher Modelle. Mit anderen Worten, die theoretischen digitalen Geisteswissenschaften erstellen und untersuchen Metamodelle, deren konkrete Anwendung auf geisteswissenschaftliche Disziplinen Gegenstand der angewandten Digital Humanities ist, sowie die Methodik zum Aufbau dieser Metamodelle. Die theoretischen Digital Humanities beschäftigen sich somit, um eine Analogie von Gladkij und Mel’čuk (1973) aufzugreifen, mit der allgemeinen Theorie des Bauwesens, seiner Materialien und Werkzeugen, während sich die angewandten Digital Humanities mit der Errichtung konkreter Gebäude beschäftigen. Erstere stellen daher eine Metawissenschaft für letztere dar. Als solche können sie im Prinzip als eine Unterdisziplin der Informatik betrachtet werden, die ihre Anwendung auf ein bestimmtes Gebiet – das der Geisteswissenschaften – untersucht.

Fazit

Meunier (2014) warnt, dass das «Buzzword» Digital Humanities für die Etablierung und «Vermarktung» des Felds zwar sehr erfolgreich war, es sich aber ohne eine gute theoretische Basis auch sehr schnell totlaufen kann. Wenn es darum geht, konkrete Forschungsprogramme, Studiengänge und die dafür nötigen Stellen und institutionellen Strukturen zu entwickeln, braucht es eine präzise Definition. Die Verwendung bestimmter Methoden oder Werkzeuge reicht dafür nicht als Kriterium aus. Der Kern der Digital Humanities ist vielmehr – wie letztlich bei allen Anwendungen der Informatik – in der Erstellung formaler Modelle zu finden, die mit Hilfe von Computern untersucht werden können.

Ein wesentlicher Fortschritt besteht darin, dass die Modelle, die bisher in den Geisteswissenschaften oft nur vage in natürlicher Sprache beschrieben wurden, nun explizit gemacht, auf grossen Datenmengen automatisch getestet und iterativ verfeinert werden können. Dies wiederum kann möglicherweise die Forschung beschleunigen, vor allem aber fördert es den Erkenntnisgewinn: die geisteswissenschaftliche Forschung wird transparenter, Theorien intersubjektiv überprüfbar.

Die theoretischen Digital Humanities – die bisher allerdings noch kaum etabliert sind – liefern dafür die Voraussetzungen und leisten gleichzeitig einen Beitrag zur Forschung in der Informatik, da sie sich mit der Formalisierung bisher kaum oder gar nicht untersuchter Phänomene beschäftigen, wie etwa historischer Unsicherheit.


Fussnoten

  1. Die Frage, ob es sich bei den Digital Humanities um eine eigene Disziplin handelt, steht hier nicht im Zentrum, hängt aber eng mit ihrer Definition zusammen: solange man sich nicht festlegt, was man darunter versteht, ist es offensichtlich auch kaum möglich, zu sagen, ob es sich um eine eigene Disziplin handelt oder nicht. Umgekehrt erlaubt eine präzise Definition zumindest eine erste Einordnung.
  2. Tatsächlich war die Motivation für Pioniere wie Roberto Busa oder David Packard die Automatisierung traditioneller quantitativer philologischer Methoden.
  3. Im geisteswissenschaftlichen Kontext ist hier insbesondere die Computerlinguistik zu nennen.

Referenzen

  1. Gladkij, Aleksej Vsevolodovič, und Igor Aleksandrovič Mel’čuk. 1973. Elemente der mathematischen Linguistik. München/Salzburg: Wilhelm Fink.
  2. Loescher, Jens. 2017. «Garagenbastler der Geisteswissenschaften». Tagesspiegel 73 (23 098): 19+.
  3. Meunier, Jean-Guy. 2014. «Humanités numériques ou computationnelles: Enjeux herméneutiques». Sens public, Dezember.
  4. Sahle, Patrick. 2015. «Digital Humanities? Gibt’s doch gar nicht!» In Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 1), herausgegeben von Constanze Baum und Thomas Stäcker. Wolfenbüttel: Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel.
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