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Das Theater im digitalen Wandel

Das Theater ist das älteste Medium der darstellenden Kunst und war bis zur Erfindung des Films auch das einzige. Die Themen des Theaters sind grundsätzlich deckungsgleich mit den Themen der Gesellschaft, in denen es spielt. Wie es in die digitale Zukunft gehen kann, schreibt der deutsche Dramaturg Carl Hegemann.

Das Setting des Theaters aber ist einzigartig und exklusiv, auch wenn sich in vielen Bereichen unserer Kultur und sogar schon bei den Tieren theatrale Elemente finden lassen. Mit der Entwicklung der technischen Bilder im Film und in den digital generierten Welten des Computers gibt es jetzt konkurrierende Formen darstellender Kunst, die die Möglichkeiten des alten Theaters, das nur mit körperlich anwesenden Menschen auf der Bühne und im Publikum funktionieren kann, in vieler Hinsicht überschreiten.

Neue Erzählformen

Das digitale Theater bietet völlig neue Formen der Darstellung, und es emanzipiert sich von der physischen Begrenztheit der menschlichen Akteure und von der raumzeitlichen Einmaligkeit der Aufführungen und setzt an ihre Stelle unendliche Entfaltungsmöglichkeiten im virtuellen Raum, die nur noch durch die Phantasie begrenzt sind, aber nicht mehr durch physische oder psychische Dispositionen. Durch die Möglichkeiten digitaler Techniken lassen sich auch komplexeste Fiktionen und traumhafte Situationen intersubjektiv wahrnehmbar machen, unabhängig von Raum, Zeit und «leiblicher Kopräsenz» der Akteure.

Durch die neue Technologie erwachsen der darstellenden Kunst also ungeheure Möglichkeiten, von denen das traditionelle Theater nur träumen konnte. Dadurch wird aber das alte Theater, wie es seit 2500 Jahren ohne strukturelle Veränderungen existiert hat, nicht überflüssig. Denn die neue Entwicklung tendiert zur Körperlosigkeit.

Setting ändert sich grundlegend

Waren schon im Kino nur die Zuschauer körperlich kopräsent, während die Akteure nur auf der Leinwand, also unkörperlich, in Erscheinung traten, und ihr physischer Körper ganz woanders war, z.B. am Pool in Hollywood, so ist es in der digitalen Welt auch mit der leiblichen Kopräsenz der Zuschauer vorbei, die alle einzeln vor ihrem Computer sitzen. Bei diesen neuen Formen der darstellenden Kunst wird also eine entscheidende Voraussetzung des Theaters ausser Kraft gesetzt: die körperliche Anwesenheit der beteiligten Spieler und Zuschauer in einem Raum. Theater als Akt der Begegnung von Menschen aus Fleisch und Blut ist mit den neuen Medien nicht zu haben. Dieses Alleinstellungsmerkmal des alten Theaters macht dieses auch im Zeitalter neuer Medien unersetzlich. Und, wie man im Gegenwartstheater sehen kann, kann es auf der Bühne neben seinen traditionellen Requisiten auch die neuen medialen Apparate Kameras, Screens, Bildschirme etc. auf die Bühne bringen und in seinen über das traditionelle Theater hinausgehenden Möglichkeiten nutzen. Dadurch fällt es nicht hinter die technische Entwicklung zurück und kann trotzdem sein Alleinstellungsmerkmal behalten.
Ein modernes gegenwärtiges Theater muss auf dem Stand der Produktivkräfte sein, sonst verwandelt es sich in ein Museum. Und diese Herausforderung nimmt das Theater nach anfänglichem Zögern mittlerweile an, wie man z. B. an so unterschiedlichen Regisseuren wie Kay Voges und Frank Castorf beobachten kann. Das führt im Theater zu einer noch vor 100 Jahren kaum vorstellbaren Situation, dass im Medium Theater technische Medien auftauchen, die ebenfalls Darstellungen ermöglichen, dass wir also im Theater und als Theater eine Auseinandersetzung mit qualitativ verschiedenen Formen darstellender Kunst verfolgen können, die elektronisch ist und mit virtuellen Darstellungen arbeitet.

Von Liveerlebnis zu Streaming

Mit dieser Entwicklung der Öffnung des Theaters gegenüber seiner elektronischen und digitalen Konkurrenz bekommt aber auch ein anderer Gedanke neues Gewicht, der seit der Erfindung der filmischen und elektronischen Aufzeichnungsmöglichkeiten die Theater beschäftigt: Wie kann man die flüchtigen Ereignisse, die live und unwiederholbar auf der Bühne stattfinden, konservieren und für andere, die bei der Aufführung nicht dabei waren, zugänglich machen? Und die Antwort wird schon seit Jahren praktiziert: Indem man sie aufzeichnet. Mit den neuen Medien ist tatsächlich die Möglichkeit entstanden, das Uraltmedium Theater über den Zeitpunkt der Aufführungen hinaus zu erhalten und zugänglich zu machen. Zwar ist klar, dass diese Aufzeichnungen die wirklichen Aufführungen niemals ersetzen können, da ihnen der Live-Charakter und die leibliche Kopräsenz fehlen, aber als Dokumente der Entwicklung des Theaters im Zeitalter der neuen Medien können sie Theatermachern und Zuschauern, aber auch den Wissenschaften unersetzliche Einblicke und Erinnerungen liefern, Material, das in seiner Aussagekraft und Unabhängigkeit weit über die archivierte Theater-Berichterstattung (mit analogen Fotos, Texten, Kritiken und Dokumenten) hinausgeht und sie entscheidend ergänzt.

In den letzten Jahrzehnten wurden meist für interne Zwecke an den Stadttheatern und von den freien Gruppen im deutschsprachigen Raum fast alle Inszenierungen aufgezeichnet, sicher in unterschiedlicher Qualität, aber immer zumindest für bestimmte Interessengruppen höchst aussagekräftig. Und diese Aufzeichnungen sind immer auch ein Dokument für die Leistungsfähigkeit und Vielfalt der deutschsprachigen Theaterlandschaft, die nicht nur in den Metropolen, sondern auch in vielen kleinen Städten stattfindet, und die zurecht dem ideellen Weltkulturerbe zugerechnet werden sollen.

Archivieren und Zugang ermöglichen

Dieses Material zu sammeln und durch die neuen Techniken auf einfache Art allen, die es interessiert, umfassend zugänglich zu machen, ist folgerichtig und dank der digitalen Entwicklung ohne übertriebenen Aufwand möglich, wenn die Theater bereit sind, ihre Archive dafür zu öffnen und (mit differenzierter Zugangsberechtigung) zur Verfügung zu stellen.

Nun gibt es mit Spectyou eine Initiative, die sich zur Aufgabe gemacht hat, eine digitale Plattform zu schaffen, die diese umfassende Archivierung und Vernetzung leisten soll. Ohne kommerzielle Interessen aber mit viel Know How werden hier die Bedingungen geschaffen, die Digitalität für das analoge Medium Theater zu nutzen. Das geht natürlich nicht ohne Kooperation mit möglichst vielen Theatern und freien Gruppen, denn von deren Material lebt es. Der Reiz, die Ergebnisse der eigenen Theaterarbeit zu erhalten und auch in Zukunft zugänglich zu machen, dürfte für viele ein starkes Motiv sein, diese Initiative zu unterstützen. Der Theatergeschichtsschreibung und der Entwicklung der darstellenden Kunst im digitalen Zeitalter käme es mit Sicherheit zugute.

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Die Zukunft des Lesens

Wie verändert sich unser Leseverhalten im digitalen Zeitalter? Haben Bücher eine Zukunft? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die Leseforschung. Über den aktuellen Stand schreibt der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer von der Universität Basel. 

«Das Internet ist dem Buch sein Tod» – davon sind viele überzeugt, und sie sind es noch mehr, wenn es um das Lesen von Literatur geht. Facebook und Twitter brauchen nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit, das Skimming von Informationen, aber keine vertiefte Lektüretechniken mehr. So unterschiedliche Köpfe wie der Wissenschaftsjournalist Nicholas Carr oder die Leseforscherin Maryanne Wolf kommen zu demselben Ergebnis, dass sich die jahrhundertelange kultivierte Technik des Lesens im digitalen Zeitalter auflösen werde (1).  Das ‚deep reading‘, das gründliche und nachdenkliche Lesen gerade auch von guter Literatur verliere sich und die Folgen für die Gesellschaft seien dramatisch. Solche und ähnliche Thesen bestimmen Talkshows und Feuilletons und Besteller wie die Bücher etwa von Manfred Spitzer wiederholen die Thesen vom Ende des Lesens mit den immergleichen Argumenten. Das ist der Konsens einer Selbstverständigung, mit der sich unsere Gesellschaft längst in die Routinen der Kulturkritik eingerichtet hat, gerade wenn es um Lesen und Bücher geht.

Tatsächlich ist fast alles knapp, aber doch neben der Wahrheit über das Lesen im digitalen Zeitalter. Das aber bemerkt man nur, wenn man das Methodenset der Leseforschung um einige entscheidende Methoden erweitert. Leseforschung ist in der Schweiz und in den deutschsprachigen Ländern anders als in Skandinavien oder in Grossbritannien eher ein Stiefkind, von dem unklar ist, welcher Disziplin es zugehört, der Psychologie oder der Literaturwissenschaft, der Soziologie oder der Pädagogik. Die unklare disziplinäre Zuordnung hat Folgen und das umso mehr, als Lesen gegenwärtig andere Formen annimmt und sich damit erst recht den disziplinären Ordnungen des 20. Jahrhunderts entzieht.

Der Nachwuchs liest unverändert Bücher

Da sind zunächst einmal Daten sehr unterschiedlicher Art. Die einen kommen von der Gesellschaft für Konsumgüterforschung. Sie hat sich im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Konsumentenverhalten in Sachen Bücher näher angeschaut. Ihre auf Leitfadeninterviews basierende Daten zeigen einmal, dass Bücher immer noch gekauft werden und der Umsatz immer noch stimmt. Allerdings nimmt die Zahl der Buchkäufer ab, noch genauer vor allem die Zahl der jungen BuchkäuferInnen nimmt ab. In der Pressemeldung zur Frankfurter Buchmesse 2018 wurde aus der sinkenden Zahl der jungen BuchkäuferInnen auf schwindende LeserInnen geschlossen. Das Medieninteresse war entsprechend gross: Die Jungen lesen nicht mehr, hiess es. Ursache sei die Medienkonkurrenz, besonders die Konkurrenz zu Internet und Computer. Die anderen Zahlen kommen von den MIKE- und JAMES bzw. KIM- und JIM-Studien, mit der verschiedene Forschungseinrichtung durch Telefoninterviews versuchen zu ermitteln, welche Medien Kinder und Jugendliche nutzen und vor allem ob sie noch lesen. Schaut man sich dort die Antworten näher an, ob Jugendliche täglich oder mehrmals pro Woche ein Buch lesen, dann sieht man, dass sich die Zahlen von 2008 bis 2018 kaum verändert haben. Praktisch unverändert lesen etwa 40 Prozent der Jugendlichen täglich oder mehrmals pro Woche.

Beide Befunde passen nicht recht zusammen, hier die schwindende Leserschaften gerade unter den jüngeren Menschen, dort die vergleichsweise konstanten Zahlen unverändert lesender junger Menschen. Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert können hier lernen, genauer hinzusehen, wenn sie ein paar sachliche und methodische Dinge anders machen als Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Das fängt damit an, dass natürlich Verkaufszahlen von Büchern nicht mit Leserzahlen gleichzusetzen sind. Auch wenn jüngere Menschen weniger Bücher kaufen, also auch weniger E-Books, die tatsächlich ja eher von älteren, intensiven Lesern gekauft werden, dann bedeutet das noch nicht, dass weniger gelesen wird, sondern durchaus und in grosser Zahl auch intensiv gelesen wird und nicht nur kurze Texte.

Lesen in virtuellen Netzwerken

Um eine bessere Leseforschung betreiben zu können und die Zusammenhänge präziser zu erfassen, müssen Geisteswissenschaften zunächst ihr Gegenstandsfeld erweitern. Nicht nur Bücher und ihre Verwandten wie E-Books sind in den Blick zu nehmen, sondern die sozialen Internet-Plattformen für Lesen und Schreiben. Das sind Wattpad,  Goodreads oder Lovelybooks, um nur die bekanntesten und auch grössten zu nennen. Auf Wattpad sind ungefähr 40 Millionen zumeist junge Menschen unterwegs. Der Betreiber behauptet, dass eine von drei jungen Frauen in den Industrienationen dieser Welt einen Wattpad-Account habe. Auch wenn das eine Übertreibung in eigener Geschäftssache sein dürfte, so deutet es die Dimension eines Lesens jenseits von GfK-Zahlen, Börsenverein und Feuilleton an. Etwa 100.000 Geschichten werden auf Wattpad jeden Tag geteilt. Sie werden von jungen, zwischen 15 und 25 Jahren alten Frauen und seltener von jungen Männern geschrieben, auf dem Smartphone gelesen und kommentiert. Ein neues Kapitel einer erfolgreichen Autorin zieht durchaus 100.000 Kommentare auf sich. Wenn Anna Todd eines ihrer Bücher beendet, dann fragen viele Leser und noch mehr Leserinnen, welchen Sinn ihr Leben noch haben kann, wenn dieses Buch zu Ende ausgelesen ist. Das haben sich schon die Leser von Rousseaus «Novelle Héloïse» und von Goethes «Werther» gefragt. Das waren damals wenige, heute sind es viele, sehr viele.

Leseforschung muss Methoden erweitern

Um diese sehr vielen digitalen Leserinnen und Leser in den Blick nehmen zu können, braucht es einer erheblichen Erweiterung der geisteswissenschaftlichen Methoden. Das ist die zweite Änderung für die Geisteswissenschaften nach der Veränderung ihres Gegenstandsfeldes. Zunächst lassen sich Daten nicht einfach erheben. Daten-Scrabing etwa mit Scripting Languages wie Python steht bislang nur auf dem Lehrprogramm der Informatik, nicht auf dem der Literaturwissenschaft oder Pädagogik. Dazu notwendig sind ausserdem Kenntnisse über das Speichern von sehr grossen Datenmengen und dem Umgang mit virtuellem Webspace. Nicht nur andere Gegenstände rücken also in den Blick geisteswissenschaftlicher Fächer, sondern auch ihre Methoden ändern sich. Um in diesen grossen Datenmengen überhaupt etwas finden zu können, sind Kenntnisse des Data Mining, Machine Learning und überhaupt statistischer Auswertungsverfahren sehr nützlich. Auch sie müssen wir in den Geisteswissenschaften erst erwerben. Man spricht dann gerne mit dem Stanforder Komparatisten Franco Moretti auch von ‚Distant Reading‘ und meint damit, dass nicht mehr nur die wenigen, kanonische Werke ausgedeutet werden, sondern die grosse Menge des Gelesenen und geteilten Lesestoffs Gegenstand etwa der Literaturwissenschaft sind. Es verändern sich also Gegenstand und Methoden. Das ist etwas anderes als nur ein anderer ‚Turn‘, was in Fächern wie der Literaturwissenschaft nur ein gehobenes Wort für Mode ist. Hier aber geht es nicht um Moden, sondern über eine Transformation des Fachs, die bleiben wird, ja an deren Anfang wir erst stehen.

Das Potential von Machine Learning

Vielfach wird daraus fälschlich gefolgert, dass damit traditionelle geisteswissenschaftliche Kenntnisse und Methoden obsolet würden. Gerade etablierte Fachvertreter vermuten das und lehnen daher grundsätzlich neue und gerade computergestützte Methoden ab. Das ist aber ein Fehlschluss. Gerade ein so avanciertes Verfahren wie Machine Learning braucht sehr gute historische, soziale und kulturelle Kenntnisse im jeweiligen Gegenstandsfeld, denn gutes Machine Learning hängt vom Trainingsset ab, also von den Daten, anhand derer eine Maschine Muster zu erkennen lernt und diese Muster dann auf andere Daten, das Testset, überträgt (2). In unserer Forschung zum Lesen im digitalen Zeitalter nutzen wir daher ebenso qualitative Forschungsansätze wie quantitative. Wir gehen ins Feld, sprechen mit den jungen Lesern und Leserinnen, nutzen Fragebögen und Leitfaden-Interviews genauso wie wir Machine Learning nutzen. Beides gehört zusammen. Methodenstreits zwischen eher qualitativen und quantitativen Ansätzen wirken unvermeidlich antiquiert, wenn es um Digital Humanities geht. Das alles ist herausfordernd und oft auch irritierend.

Was es für eine geisteswissenschaftliche Forschung im 21. Jahrhundert daher braucht, ist ein Team unterschiedlicher Kompetenzen, denn nur selten kommen alle Fähigkeiten in einer Person zusammen. Es braucht die differenziertesten geisteswissenschaftlichen Kenntnisse, aber auch gute Kenntnisse in Skriptsprachen und Programmieren, viel Erfahrung im Umgang mit grossen Datenmengen oder Datenbanken, eine lange ausgebildete Expertise in der computergestützten Textanalyse, in Leitfaden-Interviews oder auch Ideen zur Visualisierung von Daten, die nicht mehr herkömmlich gelesen werden können. Und schliesslich sind nicht mehr nur das gepflegte Buch oder der Fachartikel die beiden möglichen Publikationsformate. Es gibt mehr. Angefangen von Blogs, weiter über Living Handbooks, aber auch Gitlab und Github, ArXiv.org und andere Adressen, bei denen Artikel, Forschungsprimärdaten und Software abgelegt werden und im glücklichen Fall auch zur Nachnutzung bereitstehen. Kein Zufall, dass es gerade Digital Humanists sind, die solche Formate nutzen und die Ideen von Open Science vorantreiben.

Mit der Digitalisierung ändern sich also Gegenstandsfeld, Methoden und Umwelten von Geisteswissenschaften, mindestens dort wo andere Fragen gestellt werden, als sie üblicherweise in Fächern wie der Literaturwissenschaft gestellt werden. Es ändert sich auch die Forschungspolitik. Dann erst wird sichtbar, was es heisst, im digitalen Zeitalter zu lesen. Die Leserinnen und Leser verschwinden nicht. Sie lesen direkt unter unserer Nase. Es kommt darauf an, Geisteswissenschaften des 21. Jahrhundert zu entwickeln, die solchen lesehungrigen Menschen über die Schulter schauen können.


Referenzen

  1. Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert (engl.: The Shallows: Mind, Memory and Media in the Age of Instant Information). Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind. München. Blessing Verlag. 2010. – Neuauflage unter dem Titel: Surfen im Seichten. Was das Internet mit unserem Hirn anstellt. München. Pantheon Verlag. 2013; Maryanne Wolf: Reader Come Home. The Reading Brain in a Digital World. New York 2018.
  2. Ted Underwood: Why an Age of Machine Learning Needs the Humanities. In: Public Books (12.5.2018).
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Digital Humanities – zwischen Metawissenschaft und neuer Disziplin

Die Digital Humanities, also die «digitalen Geisteswissenschaften» sind zurzeit in aller Munde – sei es weil sie die Geisteswissenschaften retten und in eine goldene Zukunft führen werden, sei es weil sie drohen, sie endgültig zu zerstören. Eine Einordnung unseres Autors, dem Linguistik-Informatiker Michael Piotrowski von der Universität Lausanne

Derartige Heilserwartungen bzw. Untergangsszenarien sind offensichtlich überrissen, aber obwohl es inzwischen etliche Konferenzen, Zeitschriften und Professuren (einige davon auch in der Schweiz) gibt, gilt nach wie vor: «Die Digital Humanities sind ein Fach, dessen Inhalte und Qualitätsstandards seit geraumer Zeit der Klärung harren» (Loescher 2017), obwohl sie in der Forschungsgemeinde ausführlich diskutiert wurden: es gibt ganze Bücher zu diesem Thema (Terras, Nyhan, und Vanhoutte 2013); die Seite What Is Digital Humanities? liefert bei jedem Aufruf eine zufällige Definition aus einer Sammlung von über 800. Die Frage ist dabei keineswegs so «akademisch» wie es zunächst scheinen mag, denn Inhalte und Qualitätsstandards haben direkte Auswirkungen auf die Finanzierung von Projekten und die Karrieren von Wissenschaftern, aber auch auf die Mobilität und Berufsaussichten von Studierenden in den entsprechenden Studiengängen. Sahle (2015) mahnt zu Recht: «Um die Digital Humanities nicht der Beliebigkeit anheim fallen zu lassen, kommen wir nicht umhin, auf einen klar und fest definierten Begriff zu pochen.»

Suche nach einer Definition

Zunächst ist festzuhalten, dass die Frage nicht ist, was die Digital Humanities im ontologischen Sinne sind, sondern was wir darunter verstehen wollen – gesucht ist also keine feststellende, sondern eine festsetzende Definition.

Was viele Definitionsversuche gemeinsam haben, ist dass sie den Einsatz informatischer – insbesondere quantitativer – Methoden und Werkzeuge und grosse Datenmengen erwähnen. Aber die Verwendung bestimmter Werkzeuge und die dadurch mögliche Bearbeitung grösserer Datenmengen in kürzerer Zeit begründet noch kein Forschungsgebiet oder gar eine neue Disziplin (1). Disziplinen sind vielmehr charakterisiert durch eine bestimmte, einzigartige Kombination von:

  1. einem Forschungsgegenstand und
  2. einer Forschungsfrage.

Forschungsmethoden stellen einen weiteren, aber nur sekundären Aspekt dar, denn sie sind offensichtlich vom Forschungsgegenstand und der Forschungsfrage abhängig, ebenso wie vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der einerseits eine ständige Anpassung der Methoden erfordert und gleichzeitig ihre Weiterentwicklung ermöglicht. Darüber hinaus benutzen alle wissenschaftlichen Disziplinen je nach Bedarf verschiedene Methoden: zwar sind qualitative Methoden zweifellos «typisch» für die Geisteswissenschaften – nicht zuletzt, da ihre Forschungsfragen qualitativ sind –, haben auch quantitative Methoden eine lange Tradition (2).

Modelle ermöglichen informatische Methoden

Wie können wir nun die Digital Humanities sinnvoll definieren? Die Digital Humanities sind selbstverständlich nicht die erste Begegnung der Informatik mit anderen Disziplinen (3). Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass das Entscheidende dabei nicht der Einsatz von Rechnern als solches ist, sondern die Konstruktion von formalen Modellen in den jeweiligen Disziplinen, die die Nutzung informatischer Methoden überhaupt erst ermöglichen. Der Einsatz von Rechnern ist wiederum kein Selbstzweck, sondern ist motiviert durch die Möglichkeiten der rechnergestützten Modellierung – schliesslich wurden Computer historisch gesehen um der Modellierung willen geschaffen. Zum anderen bedarf die Erstellung von Modellen – ganz allgemein – geeignete «Baumaterialien», ob das nun Stokys-Elemente oder Algorithmen sind.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Definitionen von Digital Humanities:

  • Die Erforschung und Entwicklung der Mittel und Methoden, die für die Erstellung von formalen Modellen in den Geisteswissenschaften nötig sind (theoretische Digital Humanities).
  • Die Anwendung dieser Mittel und Methoden, um konkrete formale Modelle in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu erstellen (angewandte Digital Humanities).

Der Begriff angewandte Digital Humanities bezeichnet also die Forschungsfelder, die, wie beispielsweise die Digitale Geschichtswissenschaft oder die Digitale Literaturwissenschaft, Fragestellungen ihrer Mutterdisziplin unter Verwendung formaler Modelle untersuchen, und die damit zusammenhängende Methodologie. Der Unterschied zwischen «traditioneller» und «digitaler» Geschichts- oder Literaturwissenschaft besteht im Prinzip lediglich in der Art der erstellten Modelle: bei Letzteren sind es formale Modelle, die auf Rechnern implementiert und mit informatischen Methoden manipuliert werden können. Ansonsten teilen sie den Forschungsgegenstand und die Forschungsfrage ihrer jeweiligen Mutterdisziplin. Insbesondere gelten für die «digitale» Forschung selbstverständlich die gleichen Relevanz- und Qualitätskriterien.

Die theoretischen Digital Humanities hingegen untersuchen auf einer höheren Abstraktionsebene die allgemeinen Eigenschaften solcher Modelle. Mit anderen Worten, die theoretischen digitalen Geisteswissenschaften erstellen und untersuchen Metamodelle, deren konkrete Anwendung auf geisteswissenschaftliche Disziplinen Gegenstand der angewandten Digital Humanities ist, sowie die Methodik zum Aufbau dieser Metamodelle. Die theoretischen Digital Humanities beschäftigen sich somit, um eine Analogie von Gladkij und Mel’čuk (1973) aufzugreifen, mit der allgemeinen Theorie des Bauwesens, seiner Materialien und Werkzeugen, während sich die angewandten Digital Humanities mit der Errichtung konkreter Gebäude beschäftigen. Erstere stellen daher eine Metawissenschaft für letztere dar. Als solche können sie im Prinzip als eine Unterdisziplin der Informatik betrachtet werden, die ihre Anwendung auf ein bestimmtes Gebiet – das der Geisteswissenschaften – untersucht.

Fazit

Meunier (2014) warnt, dass das «Buzzword» Digital Humanities für die Etablierung und «Vermarktung» des Felds zwar sehr erfolgreich war, es sich aber ohne eine gute theoretische Basis auch sehr schnell totlaufen kann. Wenn es darum geht, konkrete Forschungsprogramme, Studiengänge und die dafür nötigen Stellen und institutionellen Strukturen zu entwickeln, braucht es eine präzise Definition. Die Verwendung bestimmter Methoden oder Werkzeuge reicht dafür nicht als Kriterium aus. Der Kern der Digital Humanities ist vielmehr – wie letztlich bei allen Anwendungen der Informatik – in der Erstellung formaler Modelle zu finden, die mit Hilfe von Computern untersucht werden können.

Ein wesentlicher Fortschritt besteht darin, dass die Modelle, die bisher in den Geisteswissenschaften oft nur vage in natürlicher Sprache beschrieben wurden, nun explizit gemacht, auf grossen Datenmengen automatisch getestet und iterativ verfeinert werden können. Dies wiederum kann möglicherweise die Forschung beschleunigen, vor allem aber fördert es den Erkenntnisgewinn: die geisteswissenschaftliche Forschung wird transparenter, Theorien intersubjektiv überprüfbar.

Die theoretischen Digital Humanities – die bisher allerdings noch kaum etabliert sind – liefern dafür die Voraussetzungen und leisten gleichzeitig einen Beitrag zur Forschung in der Informatik, da sie sich mit der Formalisierung bisher kaum oder gar nicht untersuchter Phänomene beschäftigen, wie etwa historischer Unsicherheit.


Fussnoten

  1. Die Frage, ob es sich bei den Digital Humanities um eine eigene Disziplin handelt, steht hier nicht im Zentrum, hängt aber eng mit ihrer Definition zusammen: solange man sich nicht festlegt, was man darunter versteht, ist es offensichtlich auch kaum möglich, zu sagen, ob es sich um eine eigene Disziplin handelt oder nicht. Umgekehrt erlaubt eine präzise Definition zumindest eine erste Einordnung.
  2. Tatsächlich war die Motivation für Pioniere wie Roberto Busa oder David Packard die Automatisierung traditioneller quantitativer philologischer Methoden.
  3. Im geisteswissenschaftlichen Kontext ist hier insbesondere die Computerlinguistik zu nennen.

Referenzen

  1. Gladkij, Aleksej Vsevolodovič, und Igor Aleksandrovič Mel’čuk. 1973. Elemente der mathematischen Linguistik. München/Salzburg: Wilhelm Fink.
  2. Loescher, Jens. 2017. «Garagenbastler der Geisteswissenschaften». Tagesspiegel 73 (23 098): 19+.
  3. Meunier, Jean-Guy. 2014. «Humanités numériques ou computationnelles: Enjeux herméneutiques». Sens public, Dezember.
  4. Sahle, Patrick. 2015. «Digital Humanities? Gibt’s doch gar nicht!» In Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 1), herausgegeben von Constanze Baum und Thomas Stäcker. Wolfenbüttel: Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel.
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