Die digitalen Sünden – Teil 1: Der Blick auf Nebensächlichkeiten

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IMD berichtet laufenden von tollen Erfolgen der Schweiz in der Digitalisierung, nur die Wirklichkeit fühlt sich ganz anders. Und die Abstimmung über die eID bestätigte die Zweifel an den wissenschaftlich gemessenen Erfolgen. Was ist es, das die Wissenschaft nicht sieht?

Ja! Ja! Ja! Und: Nein!

Ja, Digitalisierung ist kein Allheilmittel, oft sogar ein neues Problem. Ja, sie wird von vielen blockiert, weil sie die Arbeitsabläufe verändert. Ja, sie wird von den Chefetagen wenig unterstützt, weil diese genügend andere Probleme haben. Sie wird von den Verwaltungsräten kaum gesteuert, weil es dafür keine Rezepte gibt. Und sie scheitert ganz grundsätzlich daran, dass kritisches Denken nicht zu den Unterrichtszielen der heutigen Bildung zählt.

Aber nein, das alles erklärt gar nichts – und noch weniger liefert es grössere Lösungsansätze.

Ja, es stimmt, wir als Gesellschaft lieben «fancy» Gadgets, kostenlose Dienste und die Selbstbespiegelung in den sozialen Medien, lehnen es aber ab, uns als Menschen digital weiterzuentwickeln.

Ja, es stimmt, dass die Regulierung der Digitalisierung ein Problem ist. Einer bald KI-gestützten Regulierungsproduktionsmaschinerie steht eine hochprofessionelle Schar von Regulierungsstörkommandos gegenüber. Das Ergebnis im Fall der Datenschutzgrundverordnung: 99 Paragraphen und jede Menge innere Widersprüche.

Und es stimmt auch, dass die Digitalisierung die Probleme in der Legislative verschärft: Einst waren es noch ehrliche Shitstorms, heute sind es kommerzielle Dienstleistungen zur Manipulation oder/und Desavouierung demokratischer Abläufe. Neuerdings sind selbst bei demokratiefreundlichen politischen Akteuren Taktiken zu beobachten, welche aus der Phishing-Szene stammen.

Ja, es stimmt, dass die Wissenschaft sich von ihrem einstigen Gestaltungswillen verabschiedet hat. Die Aufbruchstimmung der 70er Jahre – man erinnere sich nur an Leo Reisingers Lehrbuch «Rechtsinformatik» – wirkt heute antik, der prototypische Entwurf kühner Blaupausen für Zukunftslösungen mit Methoden der Design Science gilt als unwissenschaftlich, und die theoretischen Modelle sind für fast nichts gut.

Ja, es stimmt, der Journalismus schafft es weder die digitale Transformation noch die Digitalregulierung adäquat zu vermitteln. Mit den Feuilletons verschwinden nicht nur Theater- und Musik-Kritik, sondern auch distanziert kritische Reflexionen der digitalen Transformation.

Aber nein, das alles erklärt gar nichts – und noch weniger liefert es grössere Lösungsansätze. Beispiel «Lösungsansatz Handyverbot»: Im Schulunterricht bei jüngeren Kindern geht immer mehr Zeit dafür drauf, dass soziale Probleme gelöst und auf einzelne Problemfälle eingegangen werden muss. Unsere Forschung zu den Einsatzmöglichkeiten sozialer Roboter hat uns als Nebenprodukt intensive Eindrücke dieser Herausforderungen vermittelt. Ein Handyverbot an Schulen hilft zwar, weil es ein Problem weniger gibt, aber es verändert die Situation kaum zum Besseren. Dass die Kolumnist*innen von Qualitätszeitungen sich trotzdem darüber streiten, ob ein Handyverbot Sinn macht, aber ansonsten die Probleme heutiger Schulen ignorieren, ist nur Ausdruck von Arbeitsverweigerung: Sie können, wollen oder dürfen sich nicht mit den grossen digitalen Veränderungen auseinandersetzen. Also streiten sie sich über die kleinen Banalitäten des digitalen Alltags.

Warum Extreme im Vorteil sind und Nichtstun Stabilität verheisst

Obiges Beispiel illustriert nur ein, zwei Aspekte – beschreibt aber nicht das Grosse Ganze. Bevor wir uns diesem vorsichtig annähern, sollten wir zuallererst die Schwere der Lage anerkennen. Unsere Gesellschaft bricht auseinander. Und was bei diesem Auseinanderbrechen passiert – oder in manchen Ländern auch nicht passiert – bleibt verborgen. Denn die Lage ist verworren. Trotz hoher Polarisierungsdichte im politischen Streit lassen sich keine klaren gesellschaftlichen Gräben identifizieren (70% stehen politisch ähnlichdenkend in der «Mitte» der Gesellschaft). Und fast immer gilt: Niemand weiss Genaues nicht. Man hat halt Meinungen und keine Zeit, seine eigenen Ideen zu Ende zu denken.

Beispiel «Hoffnungsträger digitaler Humanismus»: Obwohl humanistische Bildung gerade im grossen Stil in die Tonne getreten wird, soll er die Schattenseiten der Digitalisierung beseitigen. Falls sie diese Beobachtung überrascht, geschätzte Leserinnen und Leser, dann schauen sie sich die Leseliste aus Gymnasien vor 50 Jahren an und fragen sie Chat-GPT, wie diese Werke heute von den Geisteswissenschaften beurteilt werden. Selbst Künstler, welche Pop und Hochkultur gleichermassen verkörpern, wie beispielsweise Mozart, werden heute bei Super-Hochkultur-Festivals gedisst. Beispielsweise, wenn in einer Inszenierung der Zauberflöte die Weisheit zu massenhaft herumliegenden Toten führt und der Jubel des Publikums keine Grenzen zu kennen scheint. Mit humanistischer Bildung lässt sich das nur durch grosse Verrenkungen vereinbaren.

Natürlich gilt hier das liberale Prinzip «Warum nicht!» Es soll jede/r ihre/seine Überzeugungen leben dürfen – und zwar unabhängig davon, ob der Staat dies finanziert oder es (wie im konkret beschriebenen Fall) weitgehend selbsttragend ist und obendrein grosse zusätzliche Steuereinnahmen produziert. Aber was soll ein digitaler Humanismus helfen, wenn das kunstaffine Publikum das Dissen von «Weisheit als Wert» bejubelt und auch sonst niemand daran Anstoss nimmt?

Wir sollten uns bewusstwerden, dass der Kontext der digitalen Transformation eine neue Form von «Anything Goes» ist: Jeder inhärente Widerspruch lässt sich aus irgendeiner Perspektive logisch begründen. Alles lässt sich als Ideal verkaufen, ebenso wie sein Gegenteil. Die Konsequenz ist, dass alles, was wir zur digitalen Transformation sagen können, von einer grösseren Gruppe der Gesellschaft als Fake News wahrgenommen wird, weil sie anderswo das Gegenteil gehört haben.

Mir war als Mathematiker das Problem schon früh klar: Es gibt viele mathematische Aussagen, welche ich in einen Kontext als richtig bezeichnen würde und in einem anderen als falsch, weil sie im Wesentlichen richtig im Besonderen aber falsch sind. Kürzlich habe ich bei einer politischen Veranstaltung zu Cybersecurity ein schönes Beispiel dafür erlebt: Es fiel der Satz «Das stärkste Glied in der Kette ist der Mensch.». Die Annahme dabei war, dass alle im Raum wüssten, dass der Mensch vor allem das schwächste Glied ist und die Aussage so speziell verstehen würden, wie sie gemeint war. Was aber passiert, wenn jemand vom Top-Experten gehört hat, dass der Mensch das stärkste Glied ist und jetzt von der eigenen Chefin hört, der Mensch sei das schwächste Glied: Wie soll sie oder er das einordnen? Zu akzeptieren, dass sich beide nicht widersprechen, verlangt entweder eine substanzielle kognitive Leistung oder aber die Einstellung, dass «Anything Goes» gilt und logische Widersprüche in der eigenen Haltung voll ok sind.

In dieser Lage – in der alles irgendwie richtig und alles irgendwie falsch ist – ist es nur natürlich, dass die digitale Transformation nur dort vorankommt, wo extreme Interessen dahinterstehen: beim hybriden Krieg, in grossen Notlagen, in ideologischen reinen Communities, im Milliardengeschäft, im Darknet – und bei diversen Crossovers, beispielsweise zwischen Krieg und Kriminalität. In der «normalen» Wirtschaft, vor allem aber in den staatlichen Institutionen, steht dagegen der neuen grossen Unsicherheit darüber, was richtig ist und was falsch, die alte vordigitale Welt gegenüber, in der es noch einen gewissen Wertekonsens gab und deren Praktiken, DOs und DON’Ts man gut kennt. Wenn sich Menschen in dieser Situation für die vordigitale Welt entscheiden und schlau die Digitalisierung hintertreiben, ist das ein Stück weit einfach nur vernünftig. Sie garantieren damit nicht zuletzt Stabilität.

Der Weg in die Zukunft

Die Schwere der Lage anzuerkennen, heisst nicht, die Zukunft schwarz zu sehen. Die Weltgeschichte ist voll von viel schwierigeren Situation, welche einzelne Staaten erfolgreich bewältigt haben. Nur sollten wir uns der Wirklichkeit stellen und nach Lösungen suchen. Dabei wäre es zu einfach, «nur» über systemische Problemlösungen nachzudenken. Es gibt Sektoren, in denen seit Jahren darüber diskutiert wird, warum die richtigen Lösungen nicht umgesetzt werden, obwohl die Richtigkeit dieser Lösung allen klar ist. Es wäre auch zu einfach, sich auf Quick Wins zu konzentrieren, wie das Change-Manager*innen gern tun. Wir Menschen sind oft zu hartherzig, um unsere Sichtweise aufgrund konkreter Erfahrungen zu ändern. Quick Wins verpuffen öfter als man glaubt wirkungslos.

Was wir benötigen, ist die Implementation von nachhaltig weitreichenden, konkreten Lösungen UND zusätzlich Kulturarbeit. Denn digitale Transformation ist ein kultureller Prozess, der weder durchgeplant noch von selbst funktioniert. Der Mensch ist – wie in der Cybersecurity (siehe oben) – gleichermassen das schwache und das starke Glied.

In der Informatik ist seit je die effektivste Problemlösung die Problemaushebelung. Statt durchgehende vorausschauende Disziplin in Projektteams einzuführen, hat man sehr spezifisch diszipliniertes agiles Projektmanagement erfunden. Statt die Kommunikation zwischen Teams zu verbessern hat man DevOps-Teams eingeführt. Und – weniger nett: Statt die Mitarbeitenden von IT-Abteilungen weiterzuentwickeln ersetzen neue CIOs in aller Regel alle jene, welche den beabsichtigten Professionalisierungsschritt nicht mitgehen können oder wollen.

Ein eleganter Weg, die Verweigerung der digitalen Weiterentwicklung auszuhebeln, ist eine Diskussion über die Zielperspektiven. Diese unterbleibt aktuell weitgehend. Wie aber soll man Menschen zur Veränderung motivieren, wenn das Ergebnis völlig unklar ist?

Das Zauberwort für die Zukunftsdiskussion heisst präzise Unschärfe: Es ist wichtig, das «Big Picture» zu vermitteln, dieses aber nicht zu normieren. Wer aller dazu beitragen will, sollte willkommen sein. Gleichzeitig sollte das Vortäuschen von Mitmachen zum Zwecke der Blockade konsequent unterbunden werden. Es braucht ein präzise unscharfes Bild der digitalen Zukunft, welches von seiner Natur aus sozialaltruistisch ist und zum Mitmachen einlädt. Das ändert den Blick auf die Digitalisierung und damit ändert sich auch das Verhalten.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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