Barrierefrei dank Technologie? Was die Gesellschaft sagt

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Was bedeutet Inklusion für unsere Gesellschaft – und welche Rolle spielt Technologie dabei? Diesen Fragen ging ein Forschungsteam der Berner Fachhochschule an der Swiss Abilities Messe 2024 in Luzern nach. In Interviews mit Menschen mit und ohne Behinderung untersuchten die Forschenden, wie Inklusion erlebt wird und welchen Beitrag technologische Hilfsmittel dabei leisten können.

Inklusion in der Schweiz – Anspruch und Realität

„Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen“ – so einfach und gleichzeitig herausfordernd formulierte es Aktion Mensch (2023). An der Swiss Abilities Messe 2024 bildete ein interaktiver Stand das Zentrum eines Forschungsprojektes der Berner Fachhochschule: Besucher*innen konnten dort Assistenztechnologien wie einen Robotergreifarm oder ein Liegerad testen – beides entwickelt für Menschen mit Tetraplegie oder stark eingeschränkter Armfunktion. Anschliessend teilten sie ihre Sicht auf Inklusion. So entstand ein vielfältiges Bild davon, wie Inklusion in der Bevölkerung wahrgenommen wird.

Im Rahmen dieses Forschungsprojekts wurden während der zweitägigen Messe insgesamt 41 semistrukturierte Interviews mit Menschen mit und ohne Behinderung geführt. Das Ziel: herausfinden, wie die Gesellschaft Inklusion durch Technologie erlebt. Geführt wurden die Gespräche von drei Physiotherapeutinnen aus dem Forschungsteam und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin, die selbst im Rollstuhl sitzt– ein bewusst gewähltes Setting, das Vertrauen schuf und authentische Einblicke ermöglichte.

Die Ergebnisse zeichnen ein vielschichtiges Bild: Die Erwartungen an Technik sind hoch; ihre Wirksamkeit für echte Inklusion bleibt begrenzt, wenn gesellschaftliche und strukturelle Rahmenbedingungen nicht mitziehen.

Technologie als Türöffner – aber nicht als Lösung

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Assistenztechnologien können Mobilität verbessern, Barrieren abbauen und Selbstständigkeit stärken. Für viele Teilnehmende war klar: Technik eröffnet neue Möglichkeiten, etwa durch digitale Tools, Kommunikationshilfen oder Mobilitätssysteme. Besonders eindrücklich für viele Besuchende war die Möglichkeit, mit dem Roboterarm alltägliche Gegenstände wie ein Handy oder eine Trinkflasche vom Boden aufzuheben. Grosse Begeisterung löste auch das Liegerad aus, das trotz hoher Lähmung ein aktives Fortbewegen ermöglicht. Doch ebenso deutlich wurde: Technologie allein reicht nicht aus.

Was aus ingenieurtechnischer Sicht als „barrierefrei“ gilt, erweist sich im Alltag oft als unpraktisch oder halbgar umgesetzt. Nicht-ebenerdige oder zu enge Zugänge, fehlende automatische Türen machen viele Einrichtungen trotz technischer Anpassungen weiterhin unzugänglich – so bleibt trotz technischer Hilfsmittel weiterhin Unterstützung durch eine Hilfsperson nötig.

„Nur allein, zum Beispiel eben im Restaurant. Es hat vielleicht breiten Eingang, es steht vorne rollstuhlgerecht, aber die Türen sind eigentlich, (…) gar nicht breit genug sind, viel zu schwer. (Rollstuhlnutzer, 43 Jahre)

Der Frust über das „fast barrierefrei“

Technologien können Teilhabe ermöglichen – wenn sie konsequent gedacht, geplant und begleitet werden. Viele Gesprächspartner*innen erzählten von Alltagssituationen, in denen technische Lösungen zwar vorhanden, aber nicht zugänglich oder zuverlässig waren.

„Wenn ich eine Minute zu spät bin, dann gibt’s keine Hilfe mehr von der SBB.“ (Rollstuhlnutzerin, Alter nicht genannt)

Ein weiteres Beispiel: wenn die automatische Rampe defekt ist oder der Fahrer sie nicht bedient, dann bringt sie wenig. Spontane Reisen, schnelle Entscheidungen, ein normaler Alltag – das bleibt für viele Betroffene eine Herausforderung.

Technologie braucht gesellschaftliche Sensibilität

Die Interviews zeigten auch: Technik entfaltet ihr Potenzial nur im Zusammenspiel mit sozialem Verständnis und echter Teilhabe. Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit und echte Einbeziehung von Menschen mit Behinderung sind entscheidend – nicht nur als Nutzende, sondern als Expertinnen und Experten für gelungene Inklusion.

„Gestern wurde mit bei der Weihnachtsfeier im Büro auch einfach ein Glas in die Hand gedrückt obwohl ich gar nichts wollte und dann war ich auf dem Rollstuhl blockiert, weil ich mit der Hand den Stuhl nicht mehr bedienen konnte.“ (Rollstuhlfahrerin, Alter nicht genannt)

Solche Erlebnisse zeigen: Es fehlt oft nicht an technischer Ausstattung – sondern an Verständnis und Empathie.

Was echte Teilhabe ermöglicht

Trotz vieler Hürden berichteten viele auch von positiven Beispielen: Schulen mit eigens gebauten Rampen, Firmen mit Treppenlift.

„Wo wir neu dazugekommen sind, ist eigentlich extra eine Rampe gemacht worden für den Eingang, dass er selber rein kann und selber die Tür aufmachen kann, weil das andere ist so nicht möglich. Und er kann ganz normal dabei sein.“ (Mutter eines Kindes mit Mobilitätseinschränkung)

Auch aus dem Sportbereich kamen ermutigende Stimmen:

„Ich hatte einige Situationen mit Trainern, die sich sehr engagiert haben, wo es eben super möglich war. Ich hatte so ein Kind mit einer Halbseitenlähmung, das im – zwei sogar – die im normalen Uni-Hockey-Club mitspielen.“ (Physiotherapeut, 51 Jahre)

Inklusion braucht Bildung und Dialog

Ein zentrales Ergebnis der Interviews war: Selbst auf einer spezialisierten Messe war vielen der Begriff „Inklusion“ unklar oder nur vage präsent.

Menschen ohne Behinderung verbanden damit eher gesellschaftliche Gleichstellung, während Menschen mit Behinderung konkrete Barrieren und Lebensrealitäten thematisierten.

„Man denkt dann immer an Menschen mit Beeinträchtigung. Aber hey, Kinderwagen, Leute, die älter sind. Da denkst du jetzt, betrifft dich ja nicht. Aber irgendwann bin ich vielleicht auch mal froh. (Besucherin, 47 Jahre)

Dieser Befund unterstreicht die Bedeutung von Bildung, Sensibilisierung und Austausch – auch und gerade im digitalen und technischen Kontext. Inklusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess.

Fazit: Technik als Mittel – nicht als Ziel

Die Stimmen von der Swiss Abilities Messe zeigen: Technologie kann Inklusion ermöglichen – aber sie garantiert sie nicht. Sie ist Werkzeug, nicht Wundermittel. Nur wenn Technik konsequent zugänglich, bezahlbar, verständlich und von gesellschaftlicher Offenheit begleitet ist, kann sie ihr Potenzial entfalten.

Inklusion entsteht dort, wo Technik auf Haltung trifft.

Dazu braucht es politische Rahmenbedingungen, mutige Organisationen und das Vertrauen, Menschen mit Behinderung aktiv mitzugestalten zu lassen.


Linkverzeichnis

https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion

Creative Commons Licence

AUTHOR: Barbara Wortmann

Barbara Wortmann ist Physiotherapeutin mit Schwerpunkt auf neurologischen und muskuloskelettalen Erkrankungen in der ambulanten Versorgung bei OMNIA Health Services AG. Sie studiert im Masterprogramm Physiotherapie an der Berner Fachhochschule. In ihrer beruflichen Praxis verfolgt sie einen aktiven, evidenzbasierten Therapieansatz und interessiert sich besonders für die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in alltagsnahe Behandlungssettings sowie für interprofessionelle Versorgungsformen.

AUTHOR: Anja Raab

Dr. Anja Raab leitet die Forschung am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule. Zuvor war sie viele Jahre als Physiotherapeutin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil tätig, wo sie Menschen mit Querschnittlähmung begleitete. Ihre Forschung greift diese Erfahrungen auf und konzentriert sich auf Themen wie Neuro-Rehabilitation, Inklusion, Robotics sowie die Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe.

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