Die unerwarteten Nutzen der BFH-Sulabh-Learning-App

Image002

Im Mai 2024 reiste ein Team der BFH TI nach Südindien, um eine von ihnen entwickelte Software-Applikation vorzustellen, die benachteiligten Kindern in ländlichen Regierungsschulen in Indien helfen soll. Sechs Monate später hat die BFH-Sulabh-App bereits über 3000 Kindern geholfen. Doch der unerwartetste Nutzen war, dass sie Lehrer:innen an ländlichen Schulen stärkt und ihnen Führungsmöglichkeiten bietet, die sie in ihren Regierungsjobs nie hätten erreichen können.

Die Herausforderung

Wie die Autoren in ihrem kürzlich veröffentlichten Artikel auf SocietyByte beschrieben haben, brachte der «IT-Boom» – der in den späten 1990er-Jahren begann – eine massive technologische Entwicklung nach Indien. Dieser Boom machte das Land zum IT-Dienstleister der Welt und half dabei Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Aber leider hatte der IT-Boom auch viele negative Folgen, sowohl für die Umwelt als auch für die Gesellschaft.

Besonders auffällig: rund 20 Jahre nach dem Boom werden die Jobs in der gigantischen indischen IT-Branche vor allem von gut ausgebildeten, Englisch sprechenden und global vernetzten Kindern der ersten Boomer-Generation besetzt. Für die ländliche Bevölkerung, die sich noch entwickelt, ist die Hürde, um mit diesen Top-Talenten zu konkurrieren und ihre Familien aus der Armut zu befreien, fast unüberwindbar geworden.

Die Lösung

Im Laufe eines Jahres entwickelten die BFH-TI-Informatikstudierenden Tobias Erpen, Alayne Hiltmann und Lukas Vogel eine App, die einen hoch innovativen Ansatz bietet, um Englisch und finanzielle Grundkenntnisse in genau den Gemeinden zu vermitteln, die es am dringendsten brauchen. Dabei integrierten sie zahlreiche bemerkenswerte Aspekte in ihre App.

Erstens wurde die App so konzipiert, dass sie generisch ist: Inhalte werden über Links bereitgestellt, sodass sie auf jedes beliebige Fach angepasst werden kann. Zweitens wurde sie speziell für die technischen Herausforderungen im ländlichen Indien entwickelt – sie funktioniert problemlos auf sehr alten Handys und bei schlechter Internetverbindung. Schliesslich ist die App für Menschen nutzbar, die keine Erfahrung mit modernen Apps haben – oder vielleicht noch nie in ihrem Leben eine App benutzt haben.

Die App, die nun den Namen Sulabh trägt (Sulabh bedeutet «einfach» in fast allen indischen Sprachen) unterstützt Administrator:innen, die Kurse erstellen können – sowohl für Selbststudium als auch für Lehrerinnen-geführtes Lernen. Sie unterstützt Lehrkräfte, die mit Schüler:innen arbeiten und ihre Aufgaben verwalten, und sie ist leicht zu bedienen für Lernenden, von denen viele zum ersten Mal eine App verwenden.

Image001

Schüler:innen mit ihren wohlverdienten Zertifikaten zum Abschluss eines Kurses.

Eine wichtige Funktion ist die Belohnung für Schüler:innen, die einen Kurs abschliessen: die App stellt ein hochwertiges Zertifikat zum Herunterladen im PDF-Format bereit. Obwohl die Schüler:innen selten Zugang zu Druckern haben gibt es in den meisten staatlichen Schulen normalerweise mindestens einen. Eine solche kleine Geste – die in der Schweiz kaum Beachtung finden würde – ist ein grosser Motivationsschub für Kinder im ländlichen Raum.

Langsamer Start, dann schnelleres Wachstum

Die ersten Monate zwischen Mai und August waren herausfordernd und nervenaufreibend. Die ursprüngliche Zielgruppe von etwa 60 Schüler:innen aus zwei staatlichen Schulen (Sathanuru und Cheeluru in der Nähe von Bengaluru, der IT-Hauptstadt Indiens) nutzte die App zwar, aber das Wachstum der Nutzerbasis gestaltete sich über mehrere Monate hinweg extrem langsam und schwierig.

Zum Teil lag das an den technologischen Voraussetzungen: Nicht alle Schüler:innen haben Zugang zu Smartphones, und für diejenigen, die eines besitzen, ist die schlechte WLAN-Verbindung in ländlichen Gegenden ein grosses Problem. Ein weiterer zentraler Grund war das Management-of-Change: Die Integration einer neuen App in den Lernprozess bedeutet, dass die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, verändert werden muss. Da es sich um eine freiwillige Initiative handelt, kann dies nicht von der Schulverwaltung staatlicher Schulen erzwungen werden.

Unerwarteter Nutzen: Eine Chance für Führung

Was wir nie erwartet hätten, war das Auftauchen der sogenannten «App-Champions» – eine kleine Gruppe von engagierten Lehrkräfte an ländlichen Schulen, die eine Leidenschaft für die App entwickelt haben. Die erste App-Champion war Frau Shwetha PS von der staatlichen Schule im Dorf Cheeluru. Sie nutzte die App nicht nur selbst und half den Schülerinnen auch nach der Schulzeit, sondern ermutigte auch aktiv andere Lehrkräfte, die App zu verwenden – zunächst in ihrer eigenen Schule und später auch in anderen staatlichen Schulen.

Die App entwickelte sich zu etwas Unerwartetem: Sie wurde zu einem Katalysator für die Führungsqualitäten der lokalen Lehrerinnen. In den letzten sechs Monaten sind sieben neue App-Champions hinzugekommen. Alle hatten die Möglichkeit, mit Lehrkräfte, Mitarbeitenden und Lernenden an anderen staatlichen Schulen zu interagieren – eine Gelegenheit, die sie sonst so leicht nicht gehabt hätten.

Dank der Bemühungen dieser App-Champions haben sie nicht nur die Lernumgebung verändert, sondern auch Möglichkeiten erhalten, Führung zu übernehmen, zusammenzuarbeiten und innerhalb ihrer Gemeinschaften Anerkennung zu gewinnen. Chancen, die sie ohne die App vielleicht nie erlebt hätten.

Der aktuelle Stand nach 6 Monaten

Dank der Leidenschaft und harter Arbeit der aktuell acht App-Champions wird die App mittlerweile an 31 staatlichen Schulen in drei indischen Bundesstaaten genutzt. Es gibt ca. 90 aktive Lehrer:innen und 150 Schüler:innen – und wir schätzen, dass insgesamt etwa 3.500 Schüler:innen von der App profitieren.

Nächste Schritte

Die Sharada Educational Trust hat über 30 Anfragen von anderen NGOs erhalten, die die App ebenfalls nutzen möchten. Bislang wurden diese Anfragen allerdings auf Eis gelegt. Die Organisation denkt gross und möchte die App langfristig in ganz Indien einsetzen. Um den Erfolg sicherzustellen, verfolgen sie jedoch einen Ansatz nach dem Motto «Think Big, Start Small» – sie bevorzugen sehr kleine «Baby-Steps», um eine solide Grundlage für das Wachstum zu schaffen. Die App-Champions spielen dabei eine zentrale Rolle für den Erfolg. Deshalb konzentriert sich das Team jetzt auf zwei wichtige Aufgaben: neue Champions zu gewinnen und die hervorragende Arbeit der bestehenden Champions angemessen zu würdigen.

Auf der Seite der BFH TI geht die Arbeit ebenfalls weiter. Ein neues Team von Studierenden (David Pfister und Marcel Zbinden) hat ein neues App-Entwicklungsprojekt in diesem Bereich gestartet. Statt nur die bestehende App mit neuen Funktionen zu erweitern, planen sie, mehr Risiken einzugehen, innovativer zu sein und durch Experimentieren herauszufinden, was vielleicht zündet und viral gehen könnte.

Danksagung

Die Autoren möchten sich bei der Abteilung BFH TI für die Unterstützung und Finanzierung der Indien-Reise bedanken. Ein besonderer Dank gilt den engagierten «App-Champions», ohne deren Leidenschaft es nicht möglich gewesen wäre, so viele Schülerinnen und Schulen im ländlichen Raum zu erreichen.

Referenzen

Creative Commons Licence

AUTHOR: Arvind Kamath

Arvind Kamath ist ein leitender IT-Executive mit mehr als 30 Jahren Erfahrung. Heute ist er der Direktor des Sharada Educational Trust.

AUTHOR: Kenneth Ritley

Kenneth Ritley ist Professor für Informatik am Institut für Datenanwendungen und Sicherheit (IDAS) der BFH Technik & Informatik. Der gebürtige US-Amerikaner hat schon eine internationale Karriere in IT hinter sich, er hatte diverse Führungspositionen in mehreren Schweizer Unternehmen inne wie Swiss Post Solutions und Sulzer und baute unter anderem Offshore-Teams in Indien und Nearshore-Teams in Bulgarien auf.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

Es wurden leider keine ähnlichen Beiträge gefunden.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert