Sind Bürger:innen-Versammlungen ein Schlüssel für mehr politische Beteiligung?

Die Einwohner:innen aus Basel diskutieren und testen aktuell verschiedene Arten der Bürgerbeteiligung. Zuletzt führten das Demokratie Labor Basel und das Institut Public Sector Transformation der Berner Fachhochschule im Frühjahr 2024 eine Bürger:innen-Versammlung durch, an der gemeinsam politische Vorschläge diskutiert und formuliert  sowie die verschiedenen Beteiligungsformen miteinander verglichen wurden. Ein Bericht über die Erfahrungen und Herausforderungen dieses experimentellen Projekts.

Ein populäres Instrument der Bürgerbeteiligung ist die «Citizen Assembly», im deutschen Sprachraum bekannt als «Bürger:innen-Versammlung». Zu dieser Veranstaltung werden Personen per Losverfahren zur Teilnahme aufgefordert. Die so zusammengestellte Gruppe trifft sich und diskutiert ein klar definiertes Thema. Begleitet von einem Moderationsteam werden gemeinsam konkrete Lösungs- und Handlungsvorschläge zuhanden der Politik erarbeitet. Die Durchführung in Basel stand unter dem Motto «Zukunft der Demokratie».

Andere Länder setzen Bürger:innen-Versammlungen schon seit längerem ein, um Meinungen und Ideen aus der Bevölkerung verstärkt in die Politik einzubringen. Ein bekanntes Beispiel ist Irland, wo durch Bürger:innen-Versammlungen Themen wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Liberalisierung des Abtreibungsrechts vorangetrieben werden konnten, die im Parlament aufgrund einer Pattsituation zwischen den beiden Lagern blockiert waren.

Virtuelle Ideensammlung  – Diskussionen vor Ort

Das Projektteam des «Demokratie Labor Basel», bei dem die BFH für die wissenschaftliche Begleitung verantwortlich ist, hatte bewusst ein schlankes und hybrides Format ausgewählt. Im Vorfeld konnten Bürger:innen über die Online-Plattform «BePart» Ideenvorschläge eingeben. Bereinigt kamen so rund 70 verwertbare Beiträge zusammen. Die Bürger:innen-Versammlung fand kurz darauf als physische Versammlung an zwei Sitzungstagen statt. Dabei wurden aktuelle Probleme und Verbesserungspotenziale der Schweizer Demokratie diskutiert, gemeinsam mögliche Vorschläge erarbeitet und priorisiert. Das Moderationsteam führte die 27 Teilnehmer:innen jeweils sechs Stunden durch ein dichtes Programm mit Informationsblöcken, Austausch in Gruppen und Diskussionen im Plenum. Dazwischen gab es Pausen mit Verpflegung und für Unterhaltung sorgte der aktuelle Gesprächsstoff sowie die Begegnungen unter den Leuten.

Am ersten Tag brachten zwei Politologen Inputs aus der Wissenschaft ein. Der Beitrag von Marc Bühlmann (Universität Bern) «Wer soll entscheiden? Demokratie und Inklusion» befasste sich mit der Frage, wie die politischen Rechte in der Schweiz ausgeweitet werden könnten. Sean Müller (Universität Lausanne) stellte unter dem Titel «Anders abstimmen, besser abstimmen, mehr abstimmen?» alternative Ansätze für eine differenzierte Form der Stimmabgabe vor. Am zweiten Tag kamen Experten der BFH zum Zuge: Daniel Schwarz sprach über die Messbarkeit und Bewertung von Demokratien, während Jan Fivaz weitere Formen der direkten politischen Partizipation vorstellte.

Gemeinsam deliberieren, wenn unterschiedliche Meinungen aufeinander treffen

Die 27 Bürger:innen starteten beim ersten Treffen mit 70 Vorschlägen, die in acht Themenblöcken gruppiert waren. In einem mehrstufigen Prozess wurden die Vorschläge mit weiteren Ideen ergänzt und priorisiert. Die sechs am Themenblöcke mit der höchsten Priorität wurden anschliessend in Gruppen diskutiert und die vorgebrachten Fragen und Argumente in schriftlich festgehalten, sodass alle Teilnehmenden über die Diskussionspunkte aller Gruppen informiert waren. Zwischen den beiden Anlässen konnten die Teilnehmenden mittels Online-Voting darüber bestimmen, welche konkreten Vorschläge am zweiten Tag prioritär debattiert werden sollten. Im Rahmen dieses Prozesses konnten sich auf diese Weise sukzessive die konsensfähigen Themen und Vorschläge herauskristallisieren. Am zweiten Tag wurden diese ausgiebig deliberiert – also vertieft reflektiert, gemeinsam diskutiert, in Gruppen beratschlagt und zu konkreten Vorschlägen ausformuliert sowie abschliessend im Plenum debattiert und verabschiedet.

Neben den inhaltlichen Zielen hatte die Projektdurchführung auch das wissenschaftliches Ziel,  herauszufinden, wie die Basler Bürger:innen ein solches Panel im Vergleich zu den üblichen parlamentarischen und direktdemokratischen Prozessen bewerten, wer an einer solchen partizipativen Veranstaltung teilnimmt.

Die Ergebnisse dazu sind gemischt. Im verkürzten Verfahren konnte zwar eine Priorisierung einer Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge erreicht werden, die vertiefte Erarbeitung konkreter Vorschläge nahm jedoch deutlich mehr Zeit in Anspruch als erwartet. Dies lag nicht zuletzt an der regen Beteiligung der Teilnehmenden. Die Debatten waren engagiert, manchmal auch emotional, aber stets zivilisiert, auch wenn die Meinungen innerhalb der Gruppen teilweise deutlich auseinander gingen. Die hohe Motivation der Teilnehmenden sorgte für eine gute Stimmung im Raum. Als nicht ideal wurde hingegen die Tatsache bewertet, dass nicht alle gesellschaftlichen Gruppen repräsentativ vertreten waren. Insgesamt wurde die durchgeführte Bürger:innen-Versammlung von den Teilnehmenden als sehr gut beurteilt. So gut, dass sie sie dem Kanton Basel-Stadt zur probeweisen Einführung empfehlen.

Jung und alt politisch motivieren

Die Rückmeldung zur Repräsentativität ist durchaus berechtigt. Ein besseres Abbild der Bevölkerung wäre allerdings nur mit grossem Aufwand zu erreichen gewesen. Auf die schriftliche Einladung unter den Teilnehmenden am «Demokratie Labor Basel» haben sich bloss 1.3 % gemeldet, deren Teilnahme ohne ein zusätzliches repräsentatives Auswahlverfahren bestätigt wurde. Hätten sich deutlich mehr als die erforderliche Anzahl Personen auf den Aufruf gemeldet, hätte daraus eine repräsentative Gruppe in Bezug auf Geschlecht, Alter, Bildung und politische Einstellungen zusammengestellt werden können.  Bei der Einteilung in die Gruppen zwecks Diskussion der einzelnen Themen wurde allerdings darauf geachtet, dass jede Gruppe eine Durchmischung nach Alter, Geschlecht und politischer Ausrichtung aufweisen konnte.

In diesem Zusammenhang sind auch der Zeitpunkt und der zeitliche Aufwand für die Teilnahme am Projekt zu berücksichtigen. Personen, die z.B. an Samstagen berufstätig sind oder Betreuungsaufgaben übernehmen, können nur begrenzt Zeit für die Teilnahme an einem solchen Projekt aufbringen. Dementsprechend waren Personen im Ruhestand übervertreten und jüngere Altersgruppen untervertreten. Das kompakte Programm an zwei Tagen am Wochenende konnte die Jüngeren weniger zur Teilnahme überzeugen. Die Planung erfordert eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Umfang und der Komplexität der Inhalte und der dafür vorgesehenen Zeit. Je mehr Zeit eingeplant wird, desto mehr Leute springen ab, weil ihnen der Aufwand zu gross ist. Letztendlich findet eine Art «Selbstselektion» statt, da jede Person, die ausgelost und kontaktiert wurde, darüber entscheidet, ob sie die Zeit und Energie für die Teilnahme aufbringen möchte.

Was sagen Basler Politiker:innen?

An der öffentlichen Abendveranstaltung «Open Mic Politik» einige Wochen nach den Versammlungen wurden die Vorschläge einer direkten Bewährungsprobe ausgesetzt: Sechs Basler Politiker:innen stellten sich an diesem Anlass den Fragen der Moderation und des rund 60-köpfigen Publikums. Sie äusserten sich zu den vier vielversprechendsten Vorschlägen aus den Bürger:innen-Versammlungen. Es fand ein reger Austausch mit vielen Wortmeldungen und unterschiedlichen Standpunkten statt. Ob und wie die Vorschläge tatsächlich von der Politik aufgenommen und allenfalls umgesetzt werden, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Die Bürger:innen-Versammlung hat jedenfalls den Teilnehmenden die Möglichkeit geboten, ihre Anliegen an die Demokratie in Basel vorzubringen und in einem offenen Austausch mit Vertreter:innen der Politik zu diskutieren. Im Rahmen des «Demokratie Labor Basel» ist geplant, dass auf diesen Punkt mit einem weiteren Teilprojekt – der sogenannten «Smart Ask»-Plattform vor den kantonalen Wahlen im Herbst 2024 – vertieft eingegangen wird.

Was ist eine Bürger:innen-Versammlung? 

 In der formalen Ausgestaltung gibt es eine Vielzahl von Varianten und Kombinationen:

  • Zeit: eintägige Versammlung oder über mehreren Tage (z.B. bis zu 6 Tage in Irland)
  • Raum: Versammlung vor Ort, digitale Durchführung, hybrides oder kombiniertes Format
  • Anzahl Teilnehmende: von einem Dutzend bis zu hundert Personen
  • Zulassung: Staatsbürger:innen oder auch ausländische Einwohner:innen; nur Erwachsene oder auch Jugendliche
  • Anreize/Entschädigung: mit Belohnung (bspw. Taggeld) oder nur Verpflegung und Verdankung

Schliesslich ist für die Wirksamkeit wichtig, welche Kompetenzen Bürger:innen-Versammlungen haben und wie verbindlich ihre Beschlüsse sind: Ist eine tatsächliche Umsetzung der Vorschläge vorgesehen? In welcher Form müssen Politiker:innen dazu Stellung nehmen?

Mehr Informationen

Das «Demokratie Labor Basel» ist ein Projekt des gleichnamigen Vereins (www.demokratielabor.ch), das in rund zehn Teilprojekten demokratische Reformansätze zusammen mit der Basler Bevölkerung testet. Für die wissenschaftliche Durchführung der Projekte ist das Institut Public Sector Innovation (IPST) der Berner Fachhochschule BFH verantwortlich.

Finanziert werden die Projekte von der Stiftung Mercator Schweiz, der Raiffeisen Jubliäumsstiftung sowie im speziellen Fall der Bürger:innen-Versammlung zudem von der Christoph Merian Stiftung. 

  1. Projektergebnisse Citizen Assembly
  2. Projektseite BFH zu Projekten mit dem Demokratie Labor Basel
  3. Online-Plattform für die Ideensammlung BePart
Creative Commons Licence

AUTHOR: Annique Lombard

Annique Lombard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachgruppe Public Sector Innovation am Institut Public Sector Transformation und arbeitet in Projekten über Bürgerbeteiligung und Suffizienz. Sie betreut zudem das Partnerprogramm.

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1 Antwort
  1. Julienne Dahms
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