Ressourcenparadoxa der digitalen Transformation (2) – der digitale Konsenstod
Digitale Technologien befähigen alle zur politischen Mitgestaltung. Mit genügend Engagement können gesellschaftliche Aussenseiter Politik massgeblich beeinflussen. Das fördert die «Demokratisierung der Demokratie» und macht gleichzeitig die Politik langsam und unbeweglich.
Altbundesrat Moritz Leuenberger sprach vor einiger Zeit im Interview mit Societybyte über seine Befürchtungen, dass das Digitale dem Wesen des Menschen nicht entspreche und das Boole’sche Denken (in Nullen und Einsen) die Kompromissfindung in der Politik erschwere. Damit bezog er sich auf die parlamentarische Arbeit, den repräsentativen Teil der halbdirekten Demokratie in der Schweiz. Droht also, dass die Entscheidungsfindung im Parlament durch die Digitalisierung massiv gehemmt wird? Geht die politische Ressource «Problemlösung im Rahmen der repräsentativen Demokratie» durch die Digitalisierung (teilweise) verloren zu gehen?
Die Phänomene
Rein phänomenologisch betrachtet wird die Digitalisierung der Legislative durch sieben sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe geprägt:
- Das konventionellen Kerngeschäft der Legislative wurde erfolgreich digital transformiert
- Die Transformation der inhaltlichen Arbeit an Gesetzen ist weitgehend gescheitert – obwohl es hier durchaus Teilerfolge gab und berechtigte Zukunftshoffnungen gibt, fehlen die einst erdachten digitalen Werkzeuge noch immer
- Die Erfolge bei der Förderung partizipativer und deliberativer Ansätze sind eher marginal – trotz vieler Digitalprojekte zu E-Participacon, Co-Creation, Living Labs und diversen Smart City Konzepten (Makrofabriken, Citizen Sensing, etc.) ist mit Ausnahmen der Open Government Data Plattformen wenig Nachhaltiges entstanden und die bemerkenswerten Ausnahmen passen nicht in die wissenschaftliche Theorie
- Die visionären Konzepte für eine zukünftige Demokratie haben sich fast vollständig verflüchtigt – Liquid Democracy, Fuzzy Voting, Parlament der Themen etc. spielen im politischen Diskurs keine Rolle
- Die Wirkungsmacht von Aussenseitern und radikalen Gruppen in der Politik ist durch verschiedenste Internet-Plattformen stark angestiegen – infolge des Bedeutungsverlusts der Gatekeeper, der Möglichkeiten von KI und eine sich stark verändernde Informationskonsumkultur haben krass selektive Weltwahrnehmung neu globales Mobilisierungspotential
- Das bislang sehr stabile Schweizer Modell der halbdirekten Demokratie wird durch den kulturellen Wandel (Initiativenflut, Weiterkämpfen nach Niederlagen in Volksabstimmungen) bedroht und ansonsten von der Wissenschaft weitgehend ignoriert – in Diskursen über die Unhaltbarkeit der Demokratie taucht es praktisch nicht auf
- Im internationalen Bereich herrschen Jux und Tollerei – fast alle Aspekte von Demokratie werden hinterfragt oder angegriffen, sowohl öffentlich als auch hinter verschlossenen Türen
Alle dieser Entwicklungen – selbst die Punkte 6 und 7 – haben auf die eine oder andere Weise mit der Digitalisierung zu tun. Um sie zu beobachten, braucht es aber einen nicht-alltäglichen Informationszugang. Auffallend ist, welche Hypes es zwischenzeitlich in der Wissenschaft gibt, welch seltsame Wut bisweilen harmlose Diskussionsbeiträge in wissenschaftlichen Communities hervorrufen und wie selektiv Forschung und Journalismus in der Diskussion dieser Entwicklungen sind.
Theorie und Praxis klaffen oft stark auseinander. Ähnlich wie der Hof Ludwig XIV. für einen naiven Beobachter unverständlich gewirkt hätte, lässt sich heute aus der staatswissenschaftlichen Literatur nicht ableiten, wie Demokratie konkret funktioniert. Und das ist nicht neu. Geheimrat Goethe hat sicher vieles vor Augen gehabt als er den Satz schrieb «Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum.»
Die Einbettung in soziale Trends
Ob die Digitalisierung mit ihrer Boole’schen Logik auch das wachsende Freund-Feind-Denken fördert, ist unklar. Offensichtlich erlebt Carl Schmitt, dessen Prinzip «Ordnung braucht Ortung» durch die Digitalisierung in Frage gestellt wurde, im politischen Alltag des Westens ein Comeback, das bis in die Wissenschaftstheorie ausstrahlt. Neu gilt es als natürlich, dass Wissenschaft gegen etwas ist, während gleichzeitig die Vorstellungen von Wahrheit in der Mathematik (zum Glück keine Wissenschaft!) und in den Naturwissenschaften (inklusive Poppers Weltsicht zu diesen!) als lächerlich naiv gelten.
Angesichts dieser neuen Spaltung der Forschungswelt mit ihren starken Emotionen von beiden Seiten (hier die wissenschaftstheoretisch gestützten Wissenschaften, dort die naiven Disziplinen wie Mathematik und Physik, beide beim (sehr seltenen) Aufeinandertreffen ziemlich sauer auf die andere Seite) liegt es nahe, das Comeback von Carl Schmitts Philosophie als sozialen Trend anzusehen, der nichts mit digitalem Denken zu tun hat. Aber natürlich profitiert auch dieser soziale Trend von der Digitalisierung. Der über das Internet wesentlich beschleunigte globale Austausch hilft der Propagierung von Ideen (und Aktionen!) Die Beschleunigung von so vielem – beispielsweise dem wissenschaftlichen Publizieren, das im Fall von Publikationen zu ChatGPT geradezu irrwitzige Formen angenommen hat – nimmt viel «Vernunft» aus dem System, denn Checks und Balances können nicht beliebig hohe Effizienz erreichen.
Wir haben es also mit einer Situation zu tun, die einerseits nicht ausschliesslich durch die Digitalisierung initiiert wird, anderseits aber auf verschiedensten Ebenen von der Digitalisierung beeinflusst wird. Sie verstärkt von ihr unabhängige Trends, schafft eigene Trends, und wirkt sich auf Defensivmechanismen der Demokratie aus, sowohl stärkend als auch schwächend, aktuell mit einem Übergewicht der schwächenden Wirkung.
Direkte und indirekte Wirkung
Wie oben skizziert kommt die digitale Konkurrenz zu den parlamentarischen Prozesse nicht aus der Technologieforschung, sondern von verschiedenen direkten «Enabling»-Funktionen der digitalen Technologien, sowie deren zuerst wirtschaftlicher and politischer Valorisierung. Konkret spielen vier Mechanismen eine besonders wichtige Rolle
- Die Individualisierung der Informationsbeschaffung vorbei an Kurator*innen und Gatekeeper*innen, welche als Personen greifbar/fassbar sind
- Das Aushebeln der parlamentarischen Entscheidungen durch Online-Kommunikationskampagnen, denen jede Transparenz fehlt, wer wie aktiv ist
- Das Fördern gesellschaftlicher Konflikte auf digitalen Plattformen durch den (ökonomisch motivierten) Einsatz von Algorithmen, welche Menschen gezielt emotionalisieren und ihre kognitiv-moralischen Kontrollmechanismen ausschalten
- Das dank KI mittlerweile sehr effizient mögliche Produzieren, Personalisieren und Verbreiten von einseitigen Informationen und expliziten Falschinformationen
Die Aufzählung ist nicht vollzählig, illustriert aber, dass es in vielfacher Hinsicht NICHT NUR um das Überwinden von bisherigen Partizipationshindernissen geht – Informationsverteilung online ist viel kostengünstiger als jene per Flugblatt – sondern dass diese neue Befähigung zur Partizipation vor allem genutzt werden kann, um Mechanismen der Moderation und Konsensfindung auszuschalten. Das Ergebnis ist, dass das Ausverhandeln von breit akzeptierten Lösungen erschwert wird.
Gleichzeitig stehen die Parlamente vor neuen Herausforderungen, für die sie an sich schlecht aufgestellt sind:
- Die Lösung von Problemen, welche eine globale Zusammenarbeit voraussetzen – insbesondere der durch den CO2 Ausstoss verursachten Erderwärmung (welche ungebremst die Zahl der Menschen, die auf der Erde leben können, drastisch reduzieren wird) und der Wunsch vieler Menschen, von ärmeren in reichere Gegenden zu migrieren (wofür viele das Asylwesen zu nutzen versuchen)
- Die Schaffung einer geopolitischen Ordnung, welche die aktuellen fundamentalen Konflikte einhegt, insbesondere die Konflikte Pro-und-Contra-Menschenrechte (zwischen West und Ost), Pro-und-Contra-Gleichberechtigung von Frau und Mann (national auch Pro-und-Contra-Gleichberechtigung von Binären und Nicht-Binären) und Pro-und-Contra-Demokratie (Demokratien müssen zu einem friedlichen Miteinander mit Autokratien finden)
- Der Anspruch, die legislativen Prozesse in der Sache und vor allem in der Wirkung zu beschleunigen – von kurzfristigen Ermöglichung von Experiment über die schnellen Realisierung digitaler Infrastrukturen bis zur mittelfristigen fundamentalen Umgestaltung der Rectsprinzipien
Auch diese Aufzählung ist nicht vollzählig, illustriert aber das Problem. Zusammenfassend muss man feststellen: Die Digitalisierung hat die Parlamente und damit die repräsentative Demokratie an sich geschwächt durch die direkten Enabling-Funktionen. Gleichzeitig hat sie am Entstehen neuer, schwieriger Aufgaben/Herausforderungen einen wesentlichen Anteil. Sie trägt zu deren Lösung zwar teilweise bei, aber viel weniger, als dass sie diese durch ihr indirektes Wirken weiter vergrössert. (Zur geopolitischen Ordnung gehört beispielsweise auch eine Ordnung der digitalen Wirtschaft und eine für den Umgang mit Cybercrime und Cyberwar.)
Das Paradoxon
Während das erste Ressourcenparadoxon der digitalen Transformation darin besteht, dass die digitale Effizienzsteigerung Unternehmen ineffizient macht, geht es beim zweiten Ressourcenparadoxon der digitalen Transformation darum, dass gleichzeitig neue, ungeheuer hohe Ansprüche an die Politik gestellt werden und – das ist das eigentlich Paradoxe – die Fähigkeit zur effizienten demokratischen Entscheidungen geschwächt wird dadurch, dass die Menschen zu einfacherer Teilhabe befähigt werden. Je weiter diese Befähigung der Teilhabe, umso hoffnungsloser zeigt sich die Zukunft der repräsentativen Demokratie. Es braucht nur ein wenig Phantasie, um sich vorzustellen, was uns noch alles um die Ohren fliegen wird, weil einzelne Abenteurer*innen, gut organisierte Minderheiten, Zeitgeistmoden und Angriffe von autoritären Staaten legislative Veränderungen verlangen – selbstverständlich jetzt und sofort, wenn nicht, wie im Fall von Deepfake-Cyberangriffen auf Wahlen, schon gestern. Vieles, wirklich sehr Vieles in der Arbeit von Parlamenten und Regierungen wird sehr, sehr viel schwieriger werden.
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