«Bundesrat nimmt die Gefahr der Überidentifikation ernst»

Nachdem die Schweizer Bevölkerung im März 2021 das Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste mit 64% Nein-Stimmen abgelehnt hat, hat der Bundesrat nun im November 2023 die Botschaft zum neuen Bundesgesetz über den elektronischen Identitätsnachweis und andere elektronische Nachweise (E ID-Gesetz, BGEID) verabschiedet. Über den neuen Vorschlag und welche Anpassungen es gibt, sprechen wir mit Michael Schöll, dem Direktor des Bundesamtes für Justiz.

Porträtfoto Michael Schöll

Er ist Direktor des Bundesamtes für Justiz: Michael Schöll.

Societybyte: Was ist jetzt anders und bestenfalls erfolgsversprechender als noch vor 3 Jahren?

Michael Schöll: Die E-ID bleibt auch in der neuen Auflage freiwillig – sonst ist fast alles anders: Die E-ID soll neu vom Bund – und nicht von Privaten ausgestellt werden. Die Architektur ist so ausgestaltet, dass die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer so gut wie möglich geschützt wird – also keine breiten und langen Datenspuren mehr. Die damit verbundene Vertrauensinfrastruktur wird nicht nur für die E-ID genutzt, sondern steht auch Behörden und Privaten zur Ausstellung anderer elektronischer Nachweise zur Verfügung. Nicht zuletzt ist unsere Arbeitsweise anders: Wir kommunizieren so transparent wie möglich, bieten Möglichkeiten der Partizipation und lernen anhand von Pilotprojekten ständig weiter.

Der Bundesrat schlägt vor, dass die für den Betrieb der E-ID erforderliche Infrastruktur auch von kantonalen und kommunalen Behörden sowie von Privaten für die Ausstellung von elektronischen Nachweisen genutzt werden kann. Soll die E-ID demnach eine eierlegende Wollmilchsau werden? Besteht hier nicht die Gefahr, dass man ein zu grosses Paket schnürt, dass an der Urne in seine Einzelteile zerschellt – also wegen einzelner Aspekte abgelehnt wird?

Es stimmt, wir wollen mit dem Vorhaben mehr erreichen als «nur» die Ausstellung der E-ID. Da wir dem Schutz der Privatsphäre viel Gewicht beimessen, ist dafür eine komplexe und kostspielige Infrastruktur erforderlich. Es wäre ineffizient, diese nur für die E-ID zu nutzen, zumal der Bedarf an medienbruchfreien Prozessen in vielen anderen Lebensbereichen ebenfalls besteht. Das Parlament ist inmitten der Beratungen – bis jetzt ist die Vorlage sehr gut aufgenommen worden.

Die Nutzerinnen und Nutzer der künftigen staatlich anerkannten E-ID sollen die grösstmögliche Kontrolle über ihre Daten haben (Self-Sovereign Identity). In welchem Bereich sehen Sie hier die grössten Herausforderungen?

Selber Kontrolle ausüben bedeutet auch eigene Verantwortung übernehmen. Dem Bund muss es gelingen, eine Lösung zu entwickeln, welche die Nutzerinnen und Nutzer dazu befähigt. Einerseits muss die E-ID also möglichst intuitiv anwendbar sein – gleichzeitig sollte in der Bevölkerung ein Bewusstsein entstehen, was mit ihren Daten wirklich passiert. Dazu kommen einige technische Nüsse, die wir im Hintergrund noch knacken müssen – der Teufel liegt bekanntlich im Detail.

Dem Bund muss es gelingen, eine Lösung zu entwickeln, welche die Nutzerinnen und Nutzer dazu befähigt. Einerseits muss die E-ID also möglichst intuitiv anwendbar sein – gleichzeitig sollte in der Bevölkerung ein Bewusstsein entstehen, was mit ihren Daten wirklich passiert.

Die Self-Sovereign-Identity soll unter anderem durch das Prinzip der Datensparsamkeit sichergestellt werden. Gleichzeitig sollen aber auch zahlreiche Dokumente wie Wohnsitzbestätigungen, Betriebsregisterauszüge, Diplome, Tickets oder Mitgliederausweise Teil der E-ID sein. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Die E-ID soll mehr oder weniger die gleichen Daten enthalten wie auch die physische Identitätskarte. Im Gegensatz zur Identitätskarte können Sie aber mit der E-ID auch nur einzelne Angaben machen – zum Beispiel, wie alt Sie sind – das ist datensparsam. Die anderen Nachweise, die Sie erwähnt haben, sind nicht mit der E-ID verknüpft. Ein Nutzer oder eine Nutzerin weist diese nur vor, wenn dafür Bedarf besteht. Das ermöglicht medienbruchfreie Prozesse. Das ist nicht nur datensparsam, sondern auch nachhaltig und wird zu neuen Innovationen führen.

Eine verbreitete Befürchtung ist diejenige der Überidentifikation – dass man sich mit der E-ID vermehrt auch an Stellen im Internet ausweisen muss, wo das bisher nicht nötig war. Welche Massnahmen sind vorgesehen, um die Nutzerinnen und Nutzer der E-ID vor Überidentifikation zu schützen?

Der Bundesrat will mit der E-ID nicht gläserne Bürgerinnen und Bürger und nimmt die Gefahr der Überidentifikation ernst. Es sind Sanktionen vorgesehen, die es erlauben, die Nutzerinnen und Nutzer vor potentiellen «Datenstaubsaugern» zu warnen. Aber beides ist nicht zu haben: Eigenverantwortung und Schutz durch Vater Staat. Am Schluss entscheidet jede und jeder, wem sie oder er welche Daten vorweisen will.

Eine gespaltene Gesellschaft: Fördert die E-ID die digitale Inklusion oder hemmt sie sie, gerade in Bezug auf benachteiligte oder ältere Bevölkerungsgruppen?

Die E-ID wird sich an den höchsten Ansprüchen der Barrierefreiheit messen. Ich bin überzeugt, dass sie insofern einen Beitrag zur Inklusion zu leisten vermag. Aber es ist klar: es wird immer Personen geben, welche die E-ID nicht nutzen können oder wollen. Für diese werden die Behörden weiterhin via traditionelle Kanäle zur Verfügung stehen. Insgesamt bin ich aber überzeugt, dass die E-ID eine Strahlkraft ausüben wird, die über die reine Anwendung geht und ein Symbol der Schweiz des 21. Jahrhunderts wird.


Zur Person

Michael Schöll ist Rechtsanwalt. Er war seit Januar 2009 als Chef des Fachbereichs Internationales Privatrecht beim Bundesamt für Justiz, ab Januar 2012 war er stellvertretender Leiter des Direktionsbereichs Privatrecht, per Mai 2015 wurde er zum Leiter des Direktionsbereichs ernannt. Seit dem 1. September 2021 leitet Michael Schöll das Bundesamt für Justiz. Er wird eine Keynote an der diesjährigen TRANSFORM-Konferenz halten.


Über die TRANSFORM-Konferenz

Die TRANSFORM ist eine jährliche Konferenz zum digitalen Wandel des öffentlichen Sektors. Mit rund 200 Personen aus Verwaltung, Wirtschaft und Forschung wird dieses Jahr am 8. Mai im Berner Rathaus «Der digitale Service Public und die Rolle des Staates im digitalen Zeitalter» thematisiert.

Information zum Programm und das Anmeldeformular finden Sie hier.

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AUTHOR: Helen Alt

Helen Alt ist Mitarbeiterin Kommunikation am Institut Public Sector Transformation.

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