Ressourcenparadoxa der digitalen Transformation (1) – der digitale Produktivitätstod

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Unsere heutige Welt wird geprägt durch eine überbordende Vielfalt – die Zahl der menschlichen Aufgaben wächst und die Zahl der Lösungsinstrumente wächst. Ein wesentlicher Treiber dafür ist die Nutzung digitaler Technologien. Sie erweitert bei allen den möglichen Handlungsraum und räumt die Handlungshindernisse aus dem Weg. Dass uns das manchmal ganz anders vorkommt – beispielsweise weil wir neu ganz viele Dinge tun müssen, die uns keinen Nutzen bringen, aber viel Zeit stehlen – widerlegt die obige Beobachtung nicht, sondern demonstriert ihre Richtigkeit! Die Produktivitätsexplosion und die Produktivitätsblockade sind zwei Seiten derselben Medaille.

Dass dilettantisch ausgeführte Digitalisierung zum Erliegen der Produktivität führen kann, ist eine banale Erkenntnis. Ebenso, dass manche Aufgaben digital grundsätzlich länger dauern als nichtdigital. Das gilt auch ohne Digitalisierung. Wer mit dem Auto schneller vom Bahnhof Zürich zum Bahnhof Bern kommen will als mit dem Zug, wird sich schwertun. Und wer sich dafür ein besonders schnelles Auto mietet und damit in den Graben fährt, wird vielleicht gar nie ankommen. Mit den falschen oder falsch angewandten digitalen Werkzeugen ist es ähnlich.

Paradoxon 1: Wirksame Digitalisierung kann die Produktivität verringern.

Interessant ist etwas ganz anderes: Eine sinnvolle Digitalisierung, welche professionell ausgeführt wird, kann ebenfalls die Produktivität verringern. Das ist ein grundlegendes Ressourcenparadox, das doppelt wirkt, faktisch und psychologisch. Faktisch reduziert es den Output, psychologisch aber blockiert es eine weitergehende Digitalisierung, weil es negative Digitalisierungserfahrungen bei allen Beteiligten schafft.

  • Beispiel: Wenn ein Amt der Bundesverwaltung seine Effizienz durch Digitalisierung signifikant steigert, kann es entweder Personal abbauen und sich neue Aufgaben suchen. In der Praxis ist die häufigste Folge: Es widmet Aufgaben, die es bisher sehr speditiv erledigte, jetzt sehr viel mehr Zeit, etwa dadurch, dass es die Tätigkeiten eines anderen Amts (oder Staatssekretariats) sehr viel genauer kontrolliert als bisher – natürlich zum Nutzen für die Gesellschaft. Wenn auch diese bisher eher vernachlässigte Aufgaben dank der Digitalisierung sehr viel einfacher werden, dann kann das zu einem Ausmass an zusätzlichem gesellschaftlichem Nutzen führen, dass die Fundamente des Systems in Frage gestellt werden, beispielsweise die internen Vernehmlassungen.

Dass die digitale Transformation sogar zum Erliegen jedweder produktiven Tätigkeit führen kann, eben weil sie Effizienz, Effektivität und Qualität des Handelns krass verbessert, ist kein Widerspruch in sich, sondern die extreme Ausprägung des 1. Ressourcenparadoxons der digitalen Transformation.

«Ruiniere deinen Gegner, indem du ihn mit Ressourcen überhäufst», lautet auch eine klassische Intrigenstrategie im IT-Management.

In Bulgarien habe ich dazu eine illustrative Geschichte gehört, die im Digitalisierungskontext spielt, aber auch in einer vordigitalen Welt Sinn machen würde: Die Geschichte wurde uns abhörsicher in vordigitale Tradition direkt neben einem Springbrunnen erzählt. Sie geht so: Ein Berater eines hochrangigen Regierungsmitglieds schlug ein Innovationsprojekt vor, dass die Verwaltung ablehnte. Es wurde trotzdem beschlossen und als er zum Kickoff kam, fand er über Hundert Beamte vor, die darauf warteten, das er ihnen Aufgaben geben würde. Nach dem ersten Schock schickte er alle nach Hause und ging zu seiner Auftraggeberin zurück, um für das Projekt 4 Leute seiner Wahl einzufordern. Denn er hatte begriffen, dass er nur deshalb so viel Ressourcen bekommen sollte, um den Erfolg des Projekts zu verhindern (und ihn gleichzeitig mit dem Gefühl persönlicher Wichtigkeit ruhigzustellen).

«Ruiniere deinen Gegner, indem du ihn mit Ressourcen überhäufst», lautet auch eine klassische Intrigenstrategie im IT-Management. Denn (fast) alle haben schon erlebt, wie Projekte durch zusätzliche Ressourcen verlangsamt wurden. Das bulgarische Beispiel macht aber besonders deutlich, was die Ursache für dieses paradoxe Phänomen ist. Die Koordinationsaufgaben wachsen ins Unbewältigbare, wenn zu viele Ressourcen vorhanden sind. Für die digitale Transformation bedeutet dies: die Effizienzsteigerung durch Digitalisierung führt dazu, dass zu viel Ressourcen für die jeweiligen Aufgaben vorhanden sind und deren Koordination zum Problem wird.

Das berühmteste Phänomen, welche an mehreren Orten auftritt, ist «Thrashing»: Die Ressourcenverwaltung in einem Computersystem gerät bei Überlastung in die Selbstbeschäftigungsfalle, aus der nur Stoppen von Tätigkeiten herausführt.

Man mag dagegen einwenden, dass es hier um Psychologie, Soziales und Kultur gehe – und dass man solche Probleme durch kulturelle Interventionen, beispielsweise Achtsamkeit, überwinden kann. Doch es gibt auch illustrative Beispiele aus dem Bereich der Informatik, wo definitiv keine psychologischen oder sozialen Mechanismen ihre Finger im Spiel haben. Das berühmteste Phänomen, welche an mehreren Orten auftritt, ist «Thrashing»: Die Ressourcenverwaltung in einem Computersystem gerät bei Überlastung in die Selbstbeschäftigungsfalle, aus der nur Stoppen von Tätigkeiten herausführt. «Kill or get stuck forever!» lautet dann die Devise. Besonders charakeristisch dabei ist die Kontingenz: Thrashing lässt sich oft nicht reproduzieren, weil sein Auftreten zufällig ist. Typischerweise gibt es eine kritische Masszahl – quasi eine Art «Temperatur» – und zwei Schwellwerte. Unter dem unteren Temperaturschwellwert läuft alles gut, über dem oberen Temperaturschwellwert läuft nichts mehr, was dazwischen passiert, lässt sich nicht prognostizieren.

In der analogen Echtwelt ist die Situation nicht so klar wie in Computersystemen, aber eine Art «Thrashing» gibt es auch hier. Die zu grosse Effizienzsteigerung kann in vielen Systemen zu Steuerungsproblemen führen. Diese sind real, werden in der Realität aber weiter vergrössert durch psychologische und organisatorische Mechanismen. Denn es ist die Psychologie, welche im obigen Beispiel verhindert, dass effizienter werdende Ämter kein Personal abbauen und es ist die Organisationlogik, welche eine sinnvolle Neuverteilung des freiwerdenden Personals verhindert.

Was wir daraus lernen können, ist simpel: Ich muss erstens ein Modell des Systems nach der Effizienzsteuerung entwickeln und das Verhalten dieses Modells analysieren, respektive simulieren. Ich muss zweitens die digitale Transformation durch eine regelmässige Messung der Effizienzsteigerungen begleiten. Und ich muss drittens eine vernünftige Adaptierung des Systems fördern. Es darf nicht sein, dass eine Amtschefin mittelfristig nicht nur Bedeutung, sondern auch Einkommen verliert, weil sie dank seiner erfolgreichen digitalen Transformation zwei Drittel seiner Mitarbeitenden einspart. Oder?

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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