Vernetzung und Konsistenzverlust (3) – die fehlenden Technologien

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Beschleunigt sich der Fortschritt wirklich? Ist die KI die Zukunftstechnologie, die alle anderen ersetzen wird? Werden wir Menschen langfristig auf die Zuschauerränge verbannt werden? Auf alle diese Fragen muss man derzeit die gleiche Antwort geben: Schon möglich, aber derzeit schaut es NICHT so aus. Die Technologieentwicklung stockt. 

Das Internet macht fast alles (oder zumindest sehr vieles) zugreifbar. Das allein schafft aber noch keine Informations- und Wissenskomplexität, sondern zuerst einmal einen grossen Bedarf nach Kuratierung von Inhalten, das heisst das situative Zusammenstellen von Inhalten. Suchmaschinen wie Google leisten dies, ebenso Empfehlungssysteme wie auf Amazon und neuerdings auch KI-basierte Co-Piloten. Versionen davon gab und gibt es auch massgeschneidert für Fachdisziplinen oder institutionelle Settings. Je spezieller der Informationsbedarf ist, desto besser funktionieren die Systeme in einem intern optimierten Intranet und desto schlechter informationssystemübergreifend. Letzteres wäre aber wichtig für eine weite Wissensvernetzung.

Technologische Kuratierung fehlt

Tatsächlich stellen die funktionalen Grenzen der digitalen Kuratierungsdienste harte Grenzen für die möglichen Komplexität unserer Gesellschaft dar. Man hat zwar in den vergangenen Jahren Vieles probiert, um bessere Kuratierungsdienste zu entwickeln – vor allem in der akademischen Forschung – aber kaum etwas davon hat den Weg in die praktische Nutzung gefunden. Deshalb sind der technologiebasierten Kuratierung noch immer enge Grenzen gesetzt und diese grenzen ihrerseits die Wissensvernetzung ein.

Das klingt sehr theoretisch, aber es ist so praxisrelevant wie ein Totschläger in der Hand eines Wächters vor einer Tür, durch die Sie gehen wollen. Insbesondere die transdisziplinäre Forschung wird heute dadurch eingeschränkt, dass es keine wirklich guten Kuratierungstechnologien für transdisziplinäre Forschende gibt. Diese besitzen typischerweise die Fähigkeit, sich von aussen einer Disziplin schnell zu nähern – zumindest auf der Ebene des in aller Regel ausreichenden «85%-Verständnisses» – solange sie mit passenden Informationen passend versorgt werden. Nur diese Informationen ausfindig zu machen, gelingt derzeit nur über Menschen. Die Suchmaschinen, Empfehlungssysteme und Co-Piloten taugen dafür nicht. Hauptgrund ist, dass es keine Daten gibt, von denen die Maschinen lernen könnten, denn transdisziplinäre Forschung ist sowohl selten als auch höchst individuell.

Derzeit ist es freilich populär zu behaupten, dass Menschen in Zukunft nicht mehr fähig sein werden, KI zu verstehen. Aber das stellt die Welt auf den Kopf. KI ist unfähig die Menschen zu verstehen und schafft es insbesondere nicht, ihnen in komplexen Gemengelagen nützliche Informationen zusammenzusuchen.

Tatsächliche sind beide sich derzeit bekämpfenden KI-Gruppen – diejenigen die zu «Explainable AI» forschen und diejenigen, die behaupten, dass es dies in Zukunft nicht geben werde können – gar nicht interessiert sich der Herausforderung zu stellen. Ihr Ziel ist es, die KI aufs Podest zu heben, und dabei scheuen sie dadistischen Tricks nicht zurück.

Man muss aber nicht auf die marginale, hochelitäre, transdisziplinäre Forschung zurückgreifen, um die Technologiedefizite zu belegen. Das Hindernis zeigt sich auch eine Nummer kleiner: Die Schaffung einer partizipativen Demokratie scheitert daran, dass es keine Kuratierungs- und Vermittlungstechnologien für das partizipative Engagement gibt. Es gibt diese Technologien nicht einmal für die professionelle Rechtsetzung durch die Parlamente! Jene verfügen beispielsweise meist über wenig Informationen, was andere Parlamente tun, konkret etwa wenn es um die Umsetzung von EU-Verordnungen durch andere Staaten geht. Der Aufwand, sich diese Informationen zu beschaffen, ist schlicht zu hoch.

Man kann natürlich die partizipative Demokratie für ein falsches Ziel halten und sich deshalb darüber freuen, dass die benötigten Technologien fehlen, Fakt ist jedenfalls dass die EU dies anstrebt, es unter anderem im Vertrag von Lissabon konkretisiert hat und auch einiges Steuergeld in die Forschung dazu investiert hat. Doch bislang waren die Erfolge marginal und trugen meist den Namen «Smart City». Letzteres ist nicht zynisch gemeint: Als Forscher habe ich keine normative Vorstellung von Partizipation. Mich interessiert ihr Erscheinungsbild in Amsterdam genauso wie jenes in Medina – und wenn es bei den männlichen Einheimischen in Medina populärer ist als in Amsterdam, so ist das dann halt so. Smart Cities sind jedenfalls das Beste, was bislang in Sachen Partizipation gelang.

Fazit: Entgegen allen Klischees, gibt es Bedarf nach Technologien, die noch nicht entwickelt wurden. Dieser Bedarf kann mittelfristig nicht durch KI gedeckt werden.

Dank wissenschaftlicher und philosophischer Nebelpetarden gelingt es aber, bislang dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Wachsende Komplexität 

Vielleicht ist es gut, dass die KI nicht an menschliche Fähigkeiten heranreicht? Vielleichten sollten wir froh sein über das Fehlen technischer Lösungen? Ja, vielleicht! Es wirft nur Fragen auf, zu den Inhalten der aktuellen Forschung. Die KI-Forschung und -Entwicklung  orientiert sich derzeit an Zielen, welche aus demokratischer Sicht fragwürdig sind: Microtargetting und Manipulation (Schöndeutsch: personalisierte Kommunikation und Nudging), Hassmaximierung (Schöndeutsch: Aktivierung der Teilnehmenden auf Social Media Plattformen), Überwachung und Disziplinierung (Schöndeutsch: Förderung des Wohlverhaltens zum Nutzen eines guten Miteinanders), Bevormundung (Schöndeutsch: KI die sich selbst erklärt), et cetera. Zur Stärkung der Demokratie trägt sie dagegen wenig bei.

Aber halt! Ich führte zu Anfang aus, dass die Komplexität der Welt durch fehlende Technologie beschränkt wird. Ist das nicht ein wünschenswertes Phänomen? Ja, vielleicht! Aber es gibt wirklich viel Evidenz, dass Komplexitätswachstum etwas Wünschenswertes ist, solange es nicht aus dem Ruder läuft. Die Entwicklung des Lebens verlief, die Entwicklung der Menschheit verlief so und die Entwicklung der Wirtschaft verlief so – ganz zu schweigen von der Wissenschaft. Eine absichtliche Begrenzung führt in Dystopien – siehe «Die Physiker» von Dürrenmatt. Eine durch Technologiedefizite bedingte Beschränkung mag politisch harmlos sein, blockiert aber vielleicht kreative Problemlösen. Die Frage lautet nur: Sind die Nebenwirkungen des Komplexitätswachstums negativer als die resultierenden Problemlösungsoptionen? Diese frage sollten wir im Auge behalten, ohne aber das Fehlen der benötigten Technologie einfach hinzunehmen.


Diese Kolumne ist der 3. Teil einer Miniserie. Die vorherigen Teil 1 und Teil 2 finden Sie hier.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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