Das Bundesgericht, Microsoft und eine Weihnachtsüberraschung  

Justitia Ret

Einige Sätze zur freihändigen Vergabe von IT-Leistungen und über den Moment, wenn ein Fluchwort etwas Positives bedeutet. Haben Sie schon mal aus freudiger Überraschung ein Schimpfwort verwendet? Ein prägendes Ereignis meiner Kandidatur als Bezirksgerichtspräsident Aarau im Jahr 2004 war ein absolut ungeschminkter Leserbrief. Der Brief stellte in der Aargauer Zeitung die Ausgangslage vor der Wahl in einer Klarheit dar, von der ich ausging, dass niemand den Mut haben würde, dies so zu Papier zu bringen.

Meine Reaktion im Café Brändli in Aarau sitzend war dementsprechend ein von positiver Überraschung getragener lauter Fluch, der dazu geführt hat, dass sich sämtliche Gäste des Restaurants zu uns umdrehten – was der späteren Mutter meines Sohnes nachvollziehbarerweise ausgesprochen peinlich war.

Dieselbe Reaktion hat vor zwei Wochen auch der zur amtlichen Publikation vorgesehene Bundesgerichtsentscheid 2C_50/2022 vom 6. November 2023[1] ausgelöst. Im Entscheid ging es um die freihändige Vergabe, beziehungsweise die IT-Bedürfnisse des Strassenverkehrsamts des Kantons Waadt. Im Folgenden soll ein kurzes Appetithäppchen formuliert werden, um zu begründen, warum hier ein enthusiastisches Schimpfwort am Platze ist.

Ewige Kundenbeziehungen und deren Vereinbarkeit mit dem Wettbewerbsziel des Vergaberechts

Dass die im Vergleich etwa zu Bauvergaben deutlich häufigere freihändige Vergabe von IT-Dienstleistungen und -Lieferungen ein beschaffungsrechtlich relevantes Thema ist, ist offensichtlich. Und dass IT-Software ständig weiterentwickelt wird und darum vielleicht im Unterschied zu einem Auto fast ewig leben und ohne Abriss eines Gebäudes um weitere Funktionalitäten ergänzt werden kann, führt unweigerlich zur Frage, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen «ewige» Kundenbeziehungen mit der Wettbewerbszielsetzung des Vergaberechts vereinbar sind.

Zum Zeitpunkt der berühmt gewordenen Microsoftvergabe (BGE 137 II 313; BVGE 2012/13 und BVGE 2009/19) wurde zum Beispiel SharePoint als neue Funktionalität integriert. Derselbe Aspekt wird auch im Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Waadt vom 14. Dezember 2021 (Sachverhalt Buchstabe B) eindrücklich beschrieben, um dann gleich anzuschliessen, dass offenbar dann doch ein «end of life» («la fin de son cycle opérationnel») der bisherigen IT-Applikation erreicht wurde, weshalb eine Neuvergabe für den Bedarf des Strassenverkehrsamts des Kantons Waadt notwendig geworden sei.

Der Fall Microsoft

Wir erinnern uns an den Fall Microsoft, der durch die Gerichte nicht materiell beurteilt wurde mit der Begründung, den Beschwerdeführenden fehle es an der Legitimation zur Anfechtung der freihändigen Vergabe betreffend die Verlängerung der Lizenzen, Wartung und Support für den standardisierten Arbeitsplatz Bund und darauf aufbauende Anwendungen (BVGE 2012/13). In der NZZ vom 7. Juli 2010 war dazu unter dem Titel «Streit um Bundesauftrag an Microsoft in der Schwebe» zu lesen, dass der Referent – also der Verfasser der vorliegenden Zeilen – in öffentlicher Beratung überstimmt worden war. Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde an das Bundesgericht blieb erfolglos (BGE 137 II 313).

Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere festgehalten, dass die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen einer freihändigen Vergabe im Rahmen der Legitimationsprüfung bei der Beschwerdeführerin liege (BVGE 137 II 313 E. 3.5.2). Dies, obwohl die Beweislast im Rahmen der materiellen Prüfung der Freihandvergabe (jedenfalls nach vorher geltender Auffassung) bei der Vergabestelle liegen müsste (Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B-3402/2009 vom 2. Juli 2009 E. 4.2).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich von der «Microsoft-Rechtsprechung» des Bundesgerichts in Bezug auf die Verteilung der Beweislast distanziert (so zuletzt das Urteil B-3580/2021 vom 9. Mai 2022 E. 1.6.1 i.V.m. E. 2.1 mit Hinweisen). Nachdem die bundesgerichtliche Rechtsauffassung auch in der Lehre und der kantonalen Rechtsprechung kritisiert worden war, wurde natürlich mit Spannung der Fall erwartet, der dem Bundesgericht Gelegenheit geben würde, sich noch einmal mit einem vergleichbaren Sachverhalt zu befassen.

Der Fall «IT für das Strassenverkehrsamt des Kantons Waadt»

Und jetzt ist er da: In Form der IT-Applikation für das Strassenverkehrsamt des Kantons Waadt. Die Auftraggeberin hat für eine neue Version der bereits verwendeten Applikation der bisherigen Anbieterin am 28. April 2021 im freihändigen Verfahren den Zuschlag erteilt (Verlängerung der Zusammenarbeit für die Jahre 2022-2034; Auftragswert 46 Millionen), ohne zunächst einen Grund für eine freihändige Vergabe anzugeben. Nach Intervention einer Konkurrentin wurden dieser gegenüber die Gründe für die freihändige Vergabe beschrieben. Die Konkurrentin hat dann den Zuschlag vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Waadt angefochten.

Ganz wichtig: Lesen Sie nun nicht nur den Entscheid des Bundesgerichts vom 6. November 2023, sondern auch den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Waadt MPU.2021.0017 vom 14. Dezember 2021. Das informierte Publikum stellt natürlich sofort mit Vergnügen fest, dass an diesem Entscheid mit Etienne Poltier ein wissenschaftlich ausgewiesener Vergaberechtler mitgewirkt hat. Und als ob das noch nicht genug wäre, wurde die Beschwerdeführerin von Benoît Merkt vertreten, der in der Szene ebenfalls als wissenschaftlich ausgewiesener Spezialist bekannt ist. Das verspricht schon an sich ein Festmahl mit fünf Gängen.

Der Entscheid des Verwaltungsgerichts

Das Verwaltungsgericht stellt zunächst zur Frage der Legitimation fest, dass die Anbieterin hinreichend glaubhaft gemacht habe («a rendu suffisamment vraisemblable»), dass sie im Stande sei, eine dem Produkt der Zuschlagsempfängerin vergleichbare Alternativlösung anzubieten (Erwägung 2b mit Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts B-1570/2015 vom 7. Oktober 2015, Erwägungen 1.5.4 ff.).

Das zitierte bundesverwaltungsgerichtliche Urteil ist darum interessant, weil es materiellrechtlich klar festhält, dass die Beweislast für die Voraussetzungen der freihändigen Vergabe bei der Auftraggeberseite liegt, wobei transparent gemacht wird, dass das Bundesgericht dies im «Entscheid Microsoft» möglicherweise anders sehe (vgl. zum Ganzen Martin Beyeler, Freihänder: BVGer schwenkt Warnlampe!, in: Baurecht 2016, S. 25 ff., mit zustimmenden Anmerkungen).

Im gleichen Sinne äussert sich nun das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt (Erwägung 4a f.), unter anderem mit ausdrücklichem Hinweis auf den zitierten Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts (Erwägung 2.5). Da das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt zum Schluss kommt, dass das freihändige Verfahren weder mit dem Argument, dass nur eine Anbieterin in Frage kommt, noch gestützt auf die Bestimmung betreffend Folgebeschaffungen begründet werden kann,[2] hebt es den Zuschlag auf.

In der Begründung wird dem Bundesgericht also schon das ganze Menü auf dem Silbertablett serviert. Aber es braucht auch noch jemanden, der dieses Tablett innerhalb der Stadt Lausanne transportiert.[3] Während die Vergabestelle den Entscheid nicht angefochten hat, hat die Zuschlagsempfängerin sowohl Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als auch subsidiäre Verfassungsbeschwerde erhoben.

Das Bundesgerichtsurteil

Und nun endlich zum Filetstück, dem Bundesgerichtsurteil selbst. Zunächst muss geprüft werden, ob eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen ist. Das ist zu bejahen, weil im vorliegenden Fall deutliche Kritik der Lehre an der (amtlich publizierten) bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts und bewusst abweichende vorinstanzliche Entscheide festzustellen sind (Urteil 2C_50/2022, Erwägung 1.3.5).

Dann wird die Kognition bestimmt. Während kantonales Recht normalerweise nicht frei geprüft wird (BGE 138 I 143 E. 2), prüft das Bundesgericht frei, wenn es der Sache nach um die völkerrechtlichen Vorgaben des WTO Government Procurement Agreement geht. Das ist beim Katalog der Gründe für die freihändige Vergabe der Fall (Urteil 2C_50/2022, Erwägung 3.3).

Schliesslich wird festgestellt, dass grundsätzlich kein Anlass gegeben war, der Konkurrentin, die ebenfalls mit IT-Applikationen für die Verwaltung und insbesondere für Strassenverkehrsämter auf dem Markt ist, im kantonalen Rechtsmittelverfahren die Legitimation abzusprechen (Erwägung 5.4).

Und jetzt kommt der entscheidende Akt.

Die relevanten Argumente zur Frage, ob die «Microsoft-Rechtsprechung» bestätigt werden soll oder nicht

Die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht macht geltend, die Vorinstanz habe sich im Rahmen der Legitimationsprüfung in Bezug auf die Beweislast fälschlicherweise nicht an der «Microsoft-Rechtsprechung» orientiert. Nach dieser Rechtsprechung hätte das kantonale Verwaltungsgericht verlangen müssen, dass die Beschwerde führende Konkurrentin beweisen muss, dass es eine gleichwertige Alternative gibt (und nicht etwa die Vergabestelle das Gegenteil). Dazu stellt das Bundesgericht zunächst fest, dass bereits das Bundesverwaltungsgericht (mit dem erwähnten Urteil B-1570/2015 vom 7. Oktober 2015) und die Genfer Cour de justice (mit Urteil ATA/761/2020 vom 18. August 2020) von der «Microsoft-Rechtsprechung» abgewichen sind (Erwägung 5.7.2).

Ausserdem sei die Kritik der Lehre an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung berechtigt (Erwägung 5.9). Es sei insbesondere die Wettbewerbszielsetzung des Beschaffungsrechts zu berücksichtigen sowie auch der Umstand, dass die Konkurrentinnen der Zuschlagsempfängerin regelmässig nicht genaue Kenntnis darüber haben, was genau Gegenstand des Bedarfs der öffentlichen Hand ist (Erwägung 5.9.1; vgl. zu Letzterem betreffend die Akteneinsicht die Zwischenverfügung des BVGer B-562/2015 vom 23. Juni 2016 E. 4.4.1).

Das Bundesgericht stellt weiter fest, dass den Gesetzesmaterialien zur Vergaberechtsreform in Bezug auf die Beweislast nichts zu entnehmen ist. Das bedeutet insbesondere, dass die hier strittige Frage nicht im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kodifiziert worden ist und dass diese auch nicht zustimmend erwähnt wird (Erwägung 5.9.2).

Die «Microsoft-Rechtsprechung» stehe auch in einem gewissen Widerspruch zur materiellrechtlichen Dogmatik, wonach von der freihändigen Vergabe im Sinne einer Ausnahme zur Herstellung von Wettbewerb nur restriktiv Gebrauch gemacht werden soll (Erwägung 5.9.3 insbesondere mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH).

Die «Microsoft-Rechtsprechung» wird teilweise aufgegeben

Das Ergebnis: Die «Microsoft-Rechtsprechung» ist teilweise aufzugeben und im vorliegenden Fall ist der Vergabestelle die Beweislast aufzuerlegen in Bezug auf die Frage, ob es valable Alternativen zum Produkt der Zuschlagsempfängerin gibt.

Das gilt nicht nur für die materielle Prüfung der freihändigen Vergabe, sondern auch für die Prüfung der Legitimation. In diesem Zusammenhang genügt es, wenn die Konkurrentin (vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Waadt) glaubhaft macht («prétend de manière crédible et vraisemblable»), dass sie eine potenzielle Anbieterin der in Frage stehenden Leistung ist (Erwägung 5.10).

Inhaltlich kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt sachverhaltlich (für das Bundesgericht bindend) festgestellt hat, dass die Vergabestelle keine hinreichende Analyse in Bezug auf das Vorhandensein anderer geeigneter Informatiklösungen vorgelegt hat (Erwägung 6.3). Der Entscheid vom 6. November ist überdies zur amtlichen Publikation bestimmt.

Damit ist das vorweihnachtliche Festessen magistral zelebriert. Doch um hier nun doch kein zwar enthusiastisches, aber gleichwohl unflätiges Schimpfwort zu nutzen, formuliere ich lieber mit den Worten von Alt-Bundesrat Ogi: Freude herrscht!


Das Wichtigste in Kürze

Mit Urteil vom 14. Dezember 2021 hat das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt eine freihändige Vergabe betreffend IT-Applikation für das Strassenverkehrsamt des Kantons Waadt, in Gutheissung der Beschwerde einer Konkurrentin, aufgehoben. Die Zuschlagsempfängerin wiederum hat diesen Entscheid vor Bundesgericht angefochten und die Rüge erhoben, dass das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt die «Microsoft-Rechtsprechung» des Bundesgerichts nicht richtig umgesetzt habe. Dies nimmt das Bundesgericht zum Anlass, die «Microsoft-Rechtsprechung» mit Urteil 2C-50/2022 vom 6. November 2023 teilweise aufzugeben. Stichwort: Beweislast.


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AUTHOR: Marc Steiner

Marc Steiner ist seit 2007 Richter am schweizerischen Bundesverwaltungsgericht, wo er den Aufbau des Fachbereichs öffentliches Beschaffungswesen mitverantwortet hat. Seit 2021 arbeitet er im Rahmen einer Nebenbeschäftigung als Dozent am Institut Public Sector Transformation.

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