Vernetzung und Konsistenzverlust – Teil 1: Im Chaos explodierender Transparenz

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Die digitale Transformation bietet uns regelmässig verschiedene Arten von erschütternden Erlebnissen: erstens skurrile Fehler in der Umsetzung, in der nicht selten das Gegenteil vom den getan wird, was man tun sollte; zweitens eigenartige Vorstellungen darüber, was gerade passiert, welche das Ergebnis eines Zusammenzimmerns von fragwürdigen Fakten sind; drittens neue Wortschöpfungen, welche den Diskurs vernebeln oder urplötzlich in eine andere Richtung lenken; vierten, fünftens und so weiter.  

Mindestens was den dritten Punkt betrifft – die neuen Sprachkonstrukte – kann man sich entspannen. Einerseits war es immer schon so, das Worte manipulierten und anderseits sind viele Phänomene, die jetzt neue Namen tragen, seit langem bekannt. Werden «Deepfakes» heute mit KI identifiziert, erscheinen sie harmlos. Werden sie dagegen mit Fake News gleichgesetzt, erscheinen sie gefährlich. Beide Assoziationen sind bestenfalls ein Teil der Wahrheit, aber sie prägen jeweils die Haltung zum Thema und konstruieren damit eine soziale Wirklichkeit. Der Begriff «alternative Fakten» wiederum umschreibt einen Konflikt mit Fakteninterpretationen. In der Regel wird er verwendet, wenn eine Gruppe von Akteuren mit schlauen Tricks den Diskurs manipuliert und andere sich dagegen wehren – nach dem Prinzip Auge um Auge, Unredlichkeit um Unredlichkeit. In ganz vielen Hochschuldiskursen ist dieses Prinzip immer schon beobachtbar gewesen. Die früher an manchen Eliteinstitutionen endlos dauernden Sitzungen, die sich im Kreis drehten, waren beispielsweise nicht selten die Folge davon, dass zuerst die einen mit einem Trick sich durchsetzten und danach die anderen dies begriffen und zwei Stunden später auf das Thema zurückkamen, um mit einem eigenen Trick zu reüssieren.  Selbstverständlichkeit mit viel mehr Raffinesse und Eleganz als im heutigen Alternative-Fakten-Diskurs, aber mit ziemlich genau jener Attitude, welche heute von vielen Querdenker*innen dem Establishment vorgeworfen wird. Der Aufstieg von Donald Trump ist aus dieser Perspektive auch die Geschichte vom Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht: Der aufgeklärte Teil der Menschheit hat es mit seinen elaborierten argumentativen Tricks übertrieben.

«Das Gesagte ist erfunden. Falsch, wirklich richtig falsch.» (Samuel Beckett)

Auch der erste Punkt – die Umsetzungsfehler – ist leicht zu verstehen, obwohl hier Gelassenheit schwerer fällt. Wir sind in einem Zeitalter der Innovation und Teilhabe. Das bedeutet weder, dass viel Neues erfunden wird, noch dass Innovationen in besonders hohem Mass die Bedürfnisse der Menschen adressieren, weil diese am Innovationsprozess beteiligt werden. Es bedeutet vielmehr, dass jeder irgendetwas Eigenes erfindet und dabei meist etwas ziemlich Ähnliches wie Zigtausende andere. Digitale Transformation fast überall bottom-up betrieben, mit der Folge, dass die Kreativität marginal ist und vieles grundfalsch angepackt wird – ganz abgesehen von Schlimmerem: In Wissenschaft und Kunst sind zum Thema Digitalisierung ernstgemeinte Scherze zu beobachten, die man als Wiedergeburt der romantischen deutschen Literatur ohne Selbstironie beschreiben möchte.

Schwieriger ist der zweite Punkt: die eigenartigen Weltvorstellungen. Wo kommt der ganze partielle Wahnsinn der Vernünftigen her? Wie kommen intelligente Menschen auf die Idee, dass die Entwicklung der Menschheit fix determiniert sei – und warum merken diejenigen, die diese Idee im Kontext der KI verbreiten, meist gar nicht, dass sie diese Idee verbreiten? Warum relativieren Menschen Urteile auch dort, wo es nichts zu relativieren gibt – und wie kann es sein, dass gerade neugierige, weltoffene Menschen dies besonders häufig tun? Wieso empören sich ansonsten sehr ernsthafte Menschen über fundierte historische Analysen mit der Behauptung, dass diese Analysen unanständige Begriffe verwenden, beispielsweise das Wort «Barbaren»? Kurz: Woher kommen die krasse Inkonsistenz und die expliziten Denkverbote in den Köpfen der Menschen von heute?

Der Einfluss von Filterbubbles

Die Antwort ist nicht einfach und sollte nicht vorschnell gegeben werden. Die Sozialforschung hat beispielsweise gezeigt, dass Filter-Bubbles – welche zu den üblichen Verdächtigen moderner Missstände zählen – in den sozialen Medien etwas anders funktionieren als angenommen. Einerseits schafft die Zugreifbarkeit und das Auffinden von speziellen Minderheitsmeinungen tatsächlich die Basis dafür, dass Menschen sich ein eigenes Weltbild zusammenbauen können, das mit der Meinung der breiten Öffentlichkeit und/oder dem Stand der Wissenschaft nichts gemein hat. Anderseits wird Wut vor allem durch die Konfrontation mit Andersdenkenden oder Berichten über diese verursacht, welche in den sozialen Medien viel häufiger ist als im physischen Alltag.

Das erklärt freilich nicht, warum wir dauernd damit konfrontiert werden, dass unsere Freund*innen vermeintlich oder tatsächlich bizarre Vorstellungen von der Welt haben. Derartige Erlebnisse sind mittlerweile so häufig, dass viele ihr Verhalten daran angepasst haben. Wenn mir heute jemand aus meiner Fachcommunity oder aus meinem persönlichen Umfeld erklärt, wie segensreich die organisierte Kriminalität ist, werde ich mir (an guten Tagen) gelassen den Kontext erklären lassen, um herauszufinden, was sie oder er meint. Oder mindestens werde ich versuchen, nach der ersten Emotion des Unverständnisses diesen Kontext zu verstehen versuchen. Und das ganz einfach deshalb, weil ich mit mehreren Menschen, mit denen ich gut zusammenarbeite, grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten habe und weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass man diese auch so stehen lassen kann. Seltsamkeiten sind normal geworden. Trotzdem irritiert mich die zunehmende Vielfalt von Sonderperspektiven. Ginge es nur um eine Version der Impffrage, könnte man das Phänomen inhaltlich erklären. Aber es geht um unterschiedlichste Dinge und vor allem auch um solche, die uns recht fern sind.

Komplex und interdisziplinär

Ein wesentlicher Grund ist das Anwachsen unseres Wissens. Die interdisziplinäre Vernetzung von Wissensgebieten boomt. Es gibt genuine Get-togethers von Disziplinen wie die Planetengeologie. Es gibt weitgefächerte interdisziplinäre Diskursprojekte aus denen Disziplinen wie die Raumsoziologie resultieren. Und es gibt die Transparenzexplosion, welche alte Gewissheiten zerstört und neue Perspektiven aufzeigt. Zu letzteren zählt etwa Cesar Hidalgos Versuch, Evolution als Komplexitätswachstumsprozess darzustellen – der von der Physik über die Biologie bis zur Wirtschaft den gleichen Prinzipien folgt.

Noch spektakulärer als die Ergebnisse der Wissensvernetzung sind die neu dazukommenden Erkenntnisse in einzelnen Disziplinen. Seit wir anfangen zu verstehen, wie das menschliche Immunsystem funktioniert, erscheint eben dieses Funktionieren immer unglaublicher. Seit wir anfangen, uns in der Frühgeschichte besser auszukennen, wissen wir nicht nur, dass es die ersten Städte waren, welche den Sklavenhandel erstmals zum grossen Geschäft machten, sondern ahnen auch, dass die Mathematik ihr Entstehen eben diesem Handel verdankt. Seit die Wissenschaft einen Unterschied nach dem anderen zwischen Mensch und Tier als Märchen entlarvt, sehen wir uns immer mehr dazu gezwungen zu akzeptieren, dass eben diese Fähigkeit zur Mathematik einer von nur zwei verbleibenden Unterschieden zwischen Mensch und Tier ist – der andere ist die kooperative Empathie. So stellt sich die Menschheitsgeschichte als geradezu irrer, kontingenter Weg dar, der jedwede deterministische KI-Prognose grenzdebil erscheinen lässt. Aber vielleicht ist es gerade die Zumutung dieser fehlenden Logik in der Geschichte, welche ex contrario die linearen Zukunftsprognosen im Diskurs rund um die digitale Transformation hervorruft.

Ein Blick ins All

Ganz eigenartig wird es, wenn wir ins All blicken. Seit wir nach schwarzen Löchern suchen, erscheint das Universum gepflastert mit diesen. Und während mittlerweile klar scheint, dass irgendwann jedes Leben im Universum aussterben wird, egal wie viel es davon jemals gegeben haben wird, sind die Fragen nach der Existenz der Zeit und der Grösse der Unendlichkeit noch immer Gegenstand des Wissenschaftsstreits – eines Streits, bei dem vermutlich mancher Superstar der Naturwissenschaften sich blamiert haben wird, wenn zukünftige Historiker ihn analysieren werden.

Angesichts dieser überbordenden Komplexität voll tiefer und spektakulärer Erkenntnisse an allen Ecken und Enden, die wir dank moderner digitaler Technologien einfach vernetzen können, ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen widersprüchlichste Ansichten in sich vereinigen ohne die geringste Bereitschaft, Konsistenz in ihre Überzeugungen zu bringen. Es fehlt nicht nur an Zeit, es ist vor allem emotional zu anstrengend, seine eigenen Überzeugungen im Umgang mit der Wissensflut anzuwenden. Uns fehlt nicht die Orientierung, sondern sie ist uns zu mühsam geworden. Das Wissenschaos ist eines der definierenden Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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