Digitalisierung – förderliche Entwicklung oder gesellschaftlicher Ausschluss?

Welche Chancen und Risiken bringt die Digitalisierung für psychisch erkrankte und armutsbetroffene Personen mit sich? Welche Rolle nimmt die Soziale Arbeit bei diesem Prozess ein?

Die Digitalisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen bringen Auswirkungen auf viele Bereiche des Alltagslebens mit sich. Die Vor- und Nachteile dieser Veränderung wirken sich auf individueller Ebene unterschiedlich aus. Es gibt eine wachsende Kluft zwischen denjenigen, die von der Digitalisierung profitieren, und vulnerablen Gruppen, die durch die Digitalisierung benachteiligt werden.

Deshalb wurde in der Kooperationsstudie «ProDigitAll» des Departements Soziale Arbeit und Gesundheit der Berner Fachhochschule untersucht, welche Chancen und Hürden die Digitalisierung für psychisch erkrankte oder armutsbetroffene Personen mit sich bringt. Mit einer systematischen Literaturrecherche wurden Barrieren für die Nutzung und dem Finden von Informationen bei den genannten Gruppen identifiziert und der Forschungsstand systematisch aufgearbeitet. In einem weiteren Schritt wurden die genannten Ergebnisse in einem partizipativen Workshop mit Betroffenen sowie Fachpersonen der Soziale Arbeit und der psychiatrischen Pflege validiert und ergänzt. Anhand der Ergebnisse wurden weiterführende Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene skizziert (Hegedüs et. al., 2023).

Einzelne positive Aspekte der Digitalisierung

Positive Aspekte zeigen sich darin, dass digitale Medien ortsunabhängig genutzt werden können, was beispielsweise bei eingeschränktem Budget für Mobilität von Vorteil ist. Daneben gibt es insbesondere im angloamerikanischen Kontext zahlreiche Apps mit dem Ziel, das Selbstmanagement von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu fördern. Deren Evaluationen zeigen eine motivierende Wirkung auf das Engagement für die eigene Gesundheit der betroffenen Personen.

Vielschichte Herausforderungen

Neben den positiven Aspekten zeigen sich vielschichtige Herausforderungen, die anhand des Modells zur digitalen Gesundheitskompetenz auf den Ebenen System, Interaktion und Individuum verortet werden können (Hegedüs et. al. 2023; Norgaard, et. al., 2015). Eine Grundvoraussetzung zur Nutzung des Internets ist, dass geeignete technische Geräte vorhanden sind und diese gewartet werden (Kategorie System). Gerade armutsbetroffenen Personen ist es oft aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen nicht möglich, die Wartung der Geräte sicher zu stellen, wie aus der Literatur und den Stimmen Betroffener hervorgeht.

Die Kategorie der Interaktion weist auf verschiedene Bereiche hin, welche das Nutzungsverhalten der betroffenen Personen beeinflussen. Personengruppen mit einem niedrigen Bildungsstand nutzen das Internet deutlich seltener und zeitlich begrenzter als Personen mit einem höheren Bildungsabschluss. Es ist ihnen somit nur bedingt möglich, Kompetenzen auszubauen, zu trainieren oder auch mit den rasanten digitalen Entwicklungen mitzuhalten (Iske & Kutscher, 2020). Der Einfluss des niedrigen Einkommens auf die Medienkompetenzen wird von den betroffenen Personen bestätigt. Der Besuch eines Computerkurses ist mit hohen Kosten verbunden, was sich nicht alle leisten können.

Motivation als entscheidender Faktor

Auf der individuellen Ebene zeigt sich, dass die persönliche psychische Verfassung sowie die Motivation entscheidende Einflussfaktoren bei der Nutzung digitaler Medien darstellen. Es hängt von der psychischen Verfassung (z.B. Konzentrationsstörung) ab, ob beispielsweise zur Verfügung stehende Apps genutzt werden. Die schnelle digitale Entwicklung bedingt ein hohes Aufnahmevermögen und rasche Lernprozesse, was betroffene Personen herausfordert. Diese bestätigen, digitale Medien im Alltag beispielsweise aufgrund eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit nur in geringem Masse zu verwenden. Die Motivation digitale Medien zu nutzen, ist abhängig der beiden vorab beschriebenen Herausforderungskategorien des Systems und der Interaktion. Damit die Motivation aufrechterhalten bleibt, muss die Nutzung der digitalen Medien einen Mehrwert für die betroffenen Personen bringen. Auch die Unterstützung bei technischen Schwierigkeiten ist ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Motivation, wobei oftmals auf das soziale Umfeld zurückgegriffen wird. Ist dies nicht vorhanden, kumulieren sich die genannten Herausforderungen und Ausschlussprozesse. Ausgehend von der Literatur (Saeed & Masters, 2021) und den Stimmen der betroffenen Personen, werden soziale Austauschmöglichkeiten sowohl offline wie auch online gewünscht: «Ich ziehe es vor an den Schalter zu gehen, beispielsweise bei der Bank oder der SBB. Der direkte Kontakt ist mir wichtig».

Rolle der Sozialen Arbeit – Peer Ansatz

Damit die Potentiale der Digitalisierung genutzt werden können, muss der Zugang dazu aktiv begleitet und inklusiv gestaltet werden. Die Befunde zeigen, dass Fachpersonen aus dem Sozialwesen dabei eine zentrale Rolle zukommt. Sie können den Zugang zu digitalen Medien im direkten Kontakt mit den Betroffenen ermöglichen und Hemmschwellen abbauen. Im Rahmen der Sozialen Arbeit zeichnen sich verschiedenen Herausforderungen ab, welche auf individueller aber auch sozialpolitischer Ebene liegen. Nebst der notwendigen Schulung der Sozialarbeitenden stellt der zeitliche Faktor und die hohe Fallbelastung ein Hindernis dar, betroffene Personen zu begleiten. Es gilt entsprechende Ressourcen und Grundkenntnisse zu schaffen, was unter anderem eine Veränderung auf sozialpolitischer Ebene bedingt. Eine weitere und zielführende Möglichkeit zur Unterstützung betroffener Personen stellt der Peer-Ansatz dar. Dieser ermöglicht es, den digitalen Zugang von armutsbetroffenen Menschen durch Personen mit gleichen Erfahrungshintergründen zu fördern. Dies hat den Vorteil, dass die Unterstützung sehr niederschwellig geschehen könnte und bei den betroffenen Personen besonders akzeptiert wäre. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Ausschluss genannter Personengruppen stattfindet und weiterführende Unterstützung bei der Nutzung digitaler Medien notwendig ist.


Dieser Artikel ist zuerst im Magazin Sozial Aktuell von Avenir Social hier erschienen.


Literatur

  1. Hegedüs, A., Domonell, K., Willener, D. & Chiapparini, E. (2023). Digitalisierung. Hürden und Chancen für vulnerable Personengruppen (ProDigitAll). Berner Fachhochschule.
  2. Iske, Stefan; Kutscher, Nadia (2020): Digitale Ungleichheit im Kontext Sozialer Arbeit. In: Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann und Isabel Zorn (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Unter Mitarbeit von Stefan Iske und Nadia Kutscher. Weinheim: Beltz; Beltz Juventa, S. 115–128.
  3. Norgaard, Ole; Furstrand, Dorthe; Klokker, Louise; Karnoe, Astrid; Batterham, Roy; Kayser, Lars; Osborne, Richard (2015): The e-health literacy framework: A conceptual framework for characterizing e-health users and their interaction with e-health systems. In: Knowledge Management & E-Learning: An International Journal, S. 522–540. DOI: 10.34105/j.kmel.2015.07.035.
  4. Saeed, S. A. & Masters, R. M. (2021). Disparities in Health Care and the Digital Divide. Current psychiatry reports, 23(9), 61.
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AUTHOR: Emanuela Chiapparini

Prof. Dr. Emanuela Chiapparini leitet das Institut Kindheit, Jugend und Familie am Departement Soziale Arbeit. Ihre Forschungsthemen sind Soziale Arbeit im Kontext Schule, Elternbildung, Kinder- und Jugendhilfe sowie Armutsbekämpfung.

AUTHOR: Daniela Willener

Daniela Willener ist Wissenschaftliche Assistentin am Departement Soziale Arbeit an der BFH. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kindes- und Erwachsenenschutz, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie Selbstbestimmung im Erwachsenenschutz.

AUTHOR: Kristina Domonell

Kristina Domonell ist Wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Pflege am Departement Gesundheit der BFH.

AUTHOR: Anna Hegedüs

Anna Hegedüs ist Dozentin Stiftung Lindenhof Tenure Track Ambulante Psychiatrische Pflege am Departement Gesundheit der BFH.

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