Sensorik im Gesundheitswesen –Sensordaten und Algorithmen (Teil 2)

Ältere Menschen bewegen sich oft unsicher und können leicht stürzen und sich verletzen. Damit dies verhindert werden kann, könnten Sensoren Bewegungsmuster aufzeichnen, analysieren und vor Risiken warnen. Dies untersuchen Forscher*innen im Innovationsfeld Digitale Gesundheit der Berner Fachhochschule. Im 1. Teil ging es um Chancen und Herausforderungen der Technologie, in diesem 2. Teil liefert das Forscherteam einen Blick in den praktischen Einsatz.

Die Forscher*innen der angewandten Forschung & Entwicklung Pflege BFH untersuchen, wie Technologien auf die Pflege wirken und welcher Nutzen für Patient*innen und Gesundheitsfachpersonen daraus resultiert. Die Forscher*innengruppe ist Projektpartner im Innosuisse Projekt RAMOS. Sie untersuchen wie die Betroffenen /Beteiligten die Technologie annehmen in punkto:

  1. sensorbasierte Lösung für ein Patient*innen-Monitoring
  2. auf Sensordaten basierende Algorithmen zur Mobilitätsanalyse.

In einem interdisziplinären Projektsetup entwickeln die Forscher*innen diese Technologie mit und auch das bestehende Produkt weiter.

Enorme Datenmengen und die Möglichkeit sie zu nutzen

Über die letzten Jahre ist die Entwicklung von datenproduzierenden Systemen rasant vorangeschritten. Dadurch stehen uns heute unzählige Datenquellen zur Verfügung, z.B. Sensoren in Smartphones, Wearables wie Fitness-Tracker, Überwachungskameras, Umweltsensoren, Produktionsmaschinen und vieles mehr. Es ergeben sich neue Möglichkeiten, wie beispielsweise Sensorsysteme, die ursprünglich in fachfremden Industrien wie der Automobilbranche entwickelt wurden und nun auch im Gesundheitssektor Anwendung finden. Eine solche Anwendung in der Medizin und der Pflege ist beispielsweise die kontinuierliche Erfassung von Vitalparametern (Rebsamen, 2021) oder von Bewegungsmustern (Alanazi et al., 2022).

Parallel zur Verfügbarkeit grosser Datenmengen, hat auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit ebendieser zugenommen. Hier kommt nun die Nutzung von Data Science und Machine Learning ins Spiel. Diese wurde durch die schnelle und hohe Verfügbarkeit hoch performanter Rechner katalysiert. Cloud-Angebote vereinfachen nicht nur den Zugang zu performanter Hardware, sondern abstrahieren und automatisieren ganze Teile des Data Science Lifecycles (Haertel et al., 2022), wie beispielsweise in der Azure Cloud und bei anderen grossen Cloud-Anbietern. Unter dem Stichwort MLOps werden Daten automatisiert aufbereitet, Machine Learning Modelle trainiert, in Laufzeitumgebungen integriert und überwacht (John et al., 2021). Neben dem Lifecycle können aber auch von diversen Plattformen, wie z.B. Hugging Face, bereits vortrainierte Modelle bezogen und entsprechend der jeweiligen Lizenzierung verwendet werden (Han et al., 2021; Bommasani et Al., 2021). Durch die Kombination aus den verfügbaren Datenmengen und der Möglichkeit, diese auch effektiv zu nutzen, ergeben sich sowohl in der Forschung wie auch in der Praxis zahlreiche Anwendungsfelder. Ein solches ist das Produkt «QUMEA Care», welches im Rahmen des Innosuisse Projekts RAMOS weiterentwickelt wird.

QUMEA Care – das intelligente Patient*innen-Monitoring

Der Industriepartner des Projektes QUMEA ist ein Startup aus Solothurn, welches die radarbasierte Lösung «QUMEA Care» für Patient*innen-Monitoring entwickelt hat und stetig perfektioniert. Das System besteht aus hochauflösenden Radarsensoren, die an der Patientenzimmerdecke montiert werden und somit ein gutes Sichtfeld auf den zu überwachenden Bereich haben. Durch die innovative Radartechnologie ist die Privatsphäre der Patient*innen sowie der Pflegefachpersonen optimal geschützt, während die Sicherheit der Patient*innen bzw. Bewohner*innen gefördert wird. Der Radarsensor generiert keinerlei Bilder oder Tonaufnahmen, sondern lediglich Bewegungsdaten. Diese werden auf dem Sensor in sogenannte Point Clouds – eine Menge an Punkten im dreidimensionalen Raum – umgerechnet und an eine Cloud-Applikation gesendet, von der sie in Echtzeit ausgewertet werden. Die Auswertung besteht aus einer mehrschichtigen Struktur, der verschiedene etablierte Machine Learning Algorithmen und Modelle zugrunde liegen. Detektieren die Algorithmen ein spezifisches Ereignis, wie z.B. einen Sturz oder den Aufstehversuch eines Patienten, so wird das Pflegefachpersonal via Smartphone App benachrichtigt und eine Pflegefachperson kann sich umgehend um die Patient*in kümmern.

Projekt RAMOS – Radarbasierte Mobilitätsanalyse

Das Projekt RAMOS wurde in Teil 1 dieser Artikelreihe vorgestellt. Wichtig an dieser Stelle zu erwähnen ist, dass ein interdisziplinäres Projektteam zusammenarbeitet. Während die biomedizinischen Ingenieur*innen das Maximum an Information aus den Sensordaten extrahieren und Algorithmen entwickeln, um komplexere Alltagsbewegungen und -aktivitäten (sog. Activities of Daily Living, ADL) erkennen zu können, konzentrieren sich die Pflege- und Software-Expert*innen auf die Technologieakzeptanz bei den Anwender*innen, die Mitentwicklung der Algorithmen und Integration in die bestehende Lösung «QUMEA Care».

Die Arbeit mit echten Daten aus dem Feld

Im Rahmen des Projekts RAMOS besteht die Möglichkeit, die Sensoren bei Praxispartnern zu installieren. Die Praxispartner sind reale Institutionen im Akut- und Langzeit-Pflege-Setting. Nachdem die Sensoren durch QUMEA installiert und in Betrieb genommen wurden, werden die Bewegungsdaten in den entsprechenden Zimmern aufgezeichnet. Anders als in kontrollierten Laborbedingungen ermöglicht diese realitätsbasierte Datenerfassung nicht nur die Analyse von simplen Bewegungsabläufen und Körperhaltungen wie z.B. Gehen, Sitzen oder Liegen, sondern auch komplexe ADL bis hin zur Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, beispielsweise bei der Durchführung einer pflegerischen Massnahme.

Mit dem Ziel des Projekts RAMOS insbesondere im Langzeit-Setting Patient*innen über einen längeren Zeitraum zu beobachten und deren Mobilitätsverhalten zu analysieren, sind neben den Sensordaten weitere wichtige Informationsquellen das Patientendossier sowie qualitativ erhobene Daten. Durch die Kombination dieser Daten sollen bspw. Einflüsse durch Medikamente, Behandlungen oder Pflegemassnahmen auf das Mobilitätsverhalten analysiert werden. Die durch Interviews und Fokusgruppen erhobenen qualitativen Daten werden für die Technologieakzeptanz von QUMEA Care verwendet (vgl. Teil 1).

Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis

Im Bereich der Verarbeitung von Sensordaten existieren zahlreiche aktuelle Studien, die bemerkenswerte Ergebnisse darlegen, wie beispielsweise sehr hohe Genauigkeiten in der Erkennung von Personen und deren Bewegungsmustern unter Berücksichtigung der effektiven Rechenzeit (siehe beispielsweise Lee et al., 2022 oder Zhao et al., 2019). Allerdings sind diese Ergebnisse oft unter spezifischen Testbedingungen erzielt worden. Unter diesen kontrollierten Testbedingungen sind zum einen die Testgrössen häufig überschaubar und andererseits sind gewisse Rahmenbedingungen bekannt, beispielsweise Bewegungsmuster von einer bekannten Anzahl Personen. Eine der grossen Herausforderungen im Umgang mit Daten aus realen Gegebenheiten besteht folglich darin, diese mit der notwendigen Zusatzinformation zu versehen, die insbesondere für überwachtes maschinelles Lernen (supervised Machine Learning) notwendig ist. Man spricht hier auch von Labeling bzw. von «gelabelten» Daten. Beispielsweise sollte im Datensatz optimalerweise die Information enthalten sein, zu welchem Zeitpunkt welche Pflegemassnahme durchgeführt wurde und wie viele Personen sich zu einem Zeitpunkt effektiv im aufgezeichneten Raum befanden. Das Labeling ist mit erheblichem Aufwand verbunden – insbesondere mit den Daten aus einer realen, also nicht kontrollierten Umgebung – da die jeweilige Situation verstanden, beurteilt werden und anschliessend dokumentiert werden muss. Idealerweise würde dies durch die Pflegefachpersonen erfolgen, denn sie kennen die effektive Situation vor Ort. In der Praxis ist das jedoch nur schwierig umsetzbar, da das Pflegefachpersonal für die Versorgung der Patient*innen zuständig ist und keine Kapazität für diesen Zusatzaufwand hat. Es müssen also Wege gefunden werden, wie effizient festgehalten werden kann, wann und wo sich gewisse Situationen bzw. Ereignisse (z.B. Mobilisierung im Zimmer, Stomawechsel, Blasentraining, Unterstützung bei Nahrungsaufnahme oder Medikationsverabreichung) ereigneten, damit die rohen Sensordaten um diese Zusatzinformation angereichert werden und somit als optimalen Input für maschinelles Lernen fungieren können.

Überführung von Algorithmen in ein anwendbares Produkt

Das Entwickeln und Integrieren von Algorithmen in das bestehende Produkt «QUMEA Care» erfolgt im Rahmen des Innosuisse Projekts RAMOS grundsätzlich auf zwei Weisen:

  • Zum einen gibt es Algorithmen, die – wie vorher beschrieben – ­auf den im Rahmen dieser Studie aufgezeichneten Sensordaten basieren – insbesondere hinsichtlich der Erkennung von ADL und der langfristigen Mobilitätsanalyse von Patient*innen und Bewohner*innen. Diese können jedoch erst entwickelt und ins Produkt integriert werden können, sobald die Phase der Datenaufzeichnung beendet ist und die Daten gelabelt und aufbereitet, analysiert und geeignete supervised Machine Learning Modelle trainiert worden sind.
  • Zum anderen gibt es auch einen generischen Teil der Algorithmik, der hinsichtlich der Projektziele optimiert wird. Die hiervon betroffenen Algorithmen basieren nicht auf supervised Machine Learning Modellen und bedürfen folglich auch nicht den aufgezeichneten Sensordaten und zugehörigen Labels. Die Konzepte, die hier angewendet werden, stammen aus dem Bereich des unsupervised Learning. So werden die vorher erwähnten Point Clouds beispielsweise sehr früh in der Verarbeitung der Sensordaten in der Cloud-Applikation mit situativ angepassten Clustering-Algorithmen (Xu et al., 2015) zu zusammengehörenden Objekten gruppiert, welche als Input für weitere Algorithmen dienen. Solche adressieren dann beispielsweise das Bereinigen irrelevanten Bewegungspunkten (sog. Noise-Filtering, wie in Mafukidze et al., 2022) und Tracking von mehreren Personen im Raum (sog. Multi-Person Tracking, wie in Zhao et al., 2019).

Durch die Natur eines Innosuisse Projektes ist auch das Projekt RAMOS darauf ausgerichtet, die Ergebnisse in ein Produkt zu integrieren, in diesem Fall «QUMEA Care». Dies beinhaltet die entwickelten Algorithmen sowie die Erkenntnisgenerierung hinsichtlich der Technologieakzeptanz der Pflegefachpersonen sowie der Patient*innen.

Bei den Algorithmen muss vor der Integration sichergestellt werden, dass auch Daten von erheblich mehr Sensoren, als nur von denen in der Studie verwendeten, in akzeptabler Zeit verarbeitet werden können. Wir sprechen von Performanz hinsichtlich der Rechenzeit und von Skalierbarkeit hinsichtlich der Anzahl Sensoren, welche Daten liefern. Denn ein effizientes Laufzeitverhalten ist unumgänglich, um auf den Algorithmen kommerzielle Produkterweiterungen anbieten zu können.

Die Erkenntnisse zur Technologieakzeptanz erlauben u.a. Änderungen am Produkt selbst, um z.B. die User Experience und somit die Akzeptanz zu steigern. Wichtig sind aber auch Erkenntnisse hinsichtlich Implementierungsprozesse von «QUMEA Care».


Dieser Artikel ist Teil 2 einer mehrteiligen Serie. Im nächsten Teil erfahren Sie mehr über den weiteren Verlauf des Projekts RAMOS.


Literatur

  1. Han et al., 2021, Pre-trained models: past, present and future https://arxiv.org/abs/2106.07139
  2. Bommasani et al., 2021, On the Opportunities and Risks of Foundation Models https://arxiv.org/abs/2108.07258
  3. Xu et al., 2015, A Comprehensive Survey of Clustering Algorithms
    https://link.springer.com/article/10.1007/s40745-015-0040-1
  4. Haertel et al., 2022, Toward a Lifecycle for Data Science: A Literature Review of Data Science Process Models
    https://www.researchgate.net/publication/365223374_Toward_a_Lifecycle_for_Data_Science_A_Literature_Review_of_Data_Science_Process_Models_Completed_Research_Paper
  5. John et al., 2021, Towards MLOps: A Framework and Maturity Model
    https://ieeexplore.ieee.org/stamp/stamp.jsp?tp=&arnumber=9582569
  6. Rebsamen, 2021, Automated Heart Rate Monitoring using UWB Radar
    https://bfh.easydocmaker.ch/search/abstract/2814/
  7. Alanazi et al., 2022, Towards a Low-Cost Solution for Gait Analysis Using MillimeterWave Sensor and Machine Learning
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35897975/
  8. Lee et al., 2022, Improving Human Activity Recognition for Sparse Radar Point Clouds: A Graph Neural Network Model with Pre-Trained 3D Human-Joint Coordinates
    https://www.mdpi.com/2076-3417/12/4/2168
  9. Zhao et al., 2019, mID: Tracking and Identifying People with Millimeter Wave Radar
    https://ieeexplore.ieee.org/document/8804831
  10. Mafukidze et al., 2022, Scattering Centers to Point Clouds: A Review of mmWave Radars for Non-Radar-Engineers
    https://ieeexplore.ieee.org/stamp/stamp.jsp?tp=&arnumber=9908570
Creative Commons Licence

AUTHOR: Marco Buri

Marco Buri ist Fachspezialist Informatik an der BFH Gesundheit. er arbeitet als Software Engineer/Architekt im Projekt RAMOS mit und entwickelt u.a. Algorithmen zur Früherkennung von Gesundheitsverschlechterung bei Mobilitätsveränderungen.

AUTHOR: Selina Burch

Selina Burch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Gesundheit der BFH.

AUTHOR: Lena Bruhin

Lena Bruhin ist PHD-Studentin an der Universität Bern und Mitarbeiterin am Projekt RAMOS der BFH.

AUTHOR: Friederike J. S. Thilo

Prof. Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld "Digitale Gesundheit", aF&E Pflege, BFH Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Design Zusammenarbeit Mensch und Maschine; Technologieakzeptanz; need-driven Entwicklung, Testung und Evaluation Technologien im Kontext Gesundheit/Krankheit; datenbasierte Pflege (Künstliche Intelligenz).

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