Warum digitaler und nachhaltiger Wandel gleichzeitig stattfinden muss

Regierungen und akademische Organisationen sind sich sicher, dass eine nachhaltige Entwicklung mit digitaler Technologien erreicht werden kann. Auch die EU argumentiert, dass Technologie eine Schlüsselrolle bei der Erreichung der Klimaneutralität in der EU bis 2050 spielen müssen (Muench et al., 2022). Unserer Autor*innen fordern einen «doppelten Übergang», d. h. die gleichzeitige Bewältigung des digitalen und des grünen Wandels, so dass sie sich gegenseitig verstärken.

Der Bericht «Digital Reset» (Digitalisierung für Nachhaltigkeit, 2022) fordert den Einsatz digitaler Technologien zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen und Ressourcenverschwendung in den Bereichen Landwirtschaft, Mobilität, Industrie und Energie. Die Forscher*innen sehen die Digitalisierung als Mittel zum Zweck für eine nachhaltige Transformation. In ähnlicher Weise stellt der Bericht der Coalition for Digital Environmental Sustainability (CODES, 2022) einen Aktionsplan vor, der wirkungsvolle Initiativen zur «Verwirklichung eines nachhaltigen Planeten im digitalen Zeitalter» umfasst.

Eine «nachhaltige Digitalisierung» anzustreben und die Digitalisierung stärker mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen, bedeutet zweierlei:

  • Erstens müssen die negativen Auswirkungen der Herstellung und des Einsatzes digitaler Technologie minimiert werden, indem die Hardware-Produktion verbessert, der Energieverbrauch gesenkt, der Elektroschrott verringert und der häufige Austausch von Geräten gänzlich vermieden wird.
  • Zweitens müssen die positiven Auswirkungen der digitalen Technologie maximiert werden, indem sie zur Erreichung der Ziele und Vorgaben der Agenda 2030 der Vereinten Nationen eingesetzt werden.

Kurzfristig können diese beiden Ziele mit jeder Art von Technologie erreicht werden, unabhängig von den Rechten des geistigen Eigentums. Es spielt keine Rolle, ob ein Unternehmen ein proprietäres Softwareprodukt anbietet oder der Quellcode der Software unter einer Open-Source-Lizenz verfügbar ist. Es kommt auf das resultierende Softwaretool oder den Nutzen einer Datenanalyse an, nicht auf die Zugänglichkeit der Algorithmen oder die Offenheit der Rohdaten.

Entscheidungsträger und Nachhaltigkeitsexperten und sogar Digitalisierungsexperten vergessen jedoch manchmal fälschlicherweise, dass es auf lange Sicht wichtig ist, Zugang zum ursprünglichen Quellcode eines Algorithmus zu haben und ein Programm wiederverwenden zu können, ohne die entsprechende Softwarelizenz erwerben zu müssen. Entgegen mancher Meinung ist das geistige Eigentum auf lange Sicht von entscheidender Bedeutung. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen entwickelt ein System, das einer Stadt hilft, den Verkehr zu optimieren, um die Treibhausgasemissionen zu verringern. Die Stadt, die die Dienste kauft, profitiert von einem verbesserten Mobilitätsmanagement und einer geringeren Luftverschmutzung. Andere Regierungen können sich jedoch entweder die Lizenzkosten nicht leisten oder wollen nicht von Technologieunternehmen abhängig sein. Aufgrund von Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums sind die positiven Auswirkungen dieser proprietären digitalen Technologie auf den grünen Wandel begrenzt, und wichtige Einrichtungen des öffentlichen Sektors werden daran gehindert, vom digitalen Wandel zu profitieren.

Der Wert von digitalen öffentlichen Gütern

Die Vereinten Nationen haben den Wert offen zugänglicher digitaler Artefakte für die nachhaltige Entwicklung in der 2020 UN Roadmap for Digital Cooperation (UN Secretary General, 2020) anerkannt. In dem Bericht wird darauf hingewiesen, dass <digitale öffentliche Güter> von wesentlicher Bedeutung sind, um das volle Potenzial digitaler Technologien und Daten für die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erschließen. Das Konzept der «digitalen öffentlichen Güter» basiert auf dem wirtschaftlichen Verständnis von öffentlichen Gütern, die nicht ausschließbar (jeder hat Zugang zu ihnen) und nicht rivalisierend (die Nutzung solcher Güter mindert den Wert für andere nicht) sind.

Nach Ansicht der Vereinten Nationen gehören zu den digitalen öffentlichen Gütern auch digitale Artefakte mit offenen Lizenzen, wie Open-Source-Software, offene Daten, offene Modelle der künstlichen Intelligenz (KI), offene Standards und offene Inhalte. Darüber hinaus müssen digitale öffentliche Güter auch weitere Anforderungen erfüllen (Pomerantz und Peek, 2016). Die Digital Public Goods Alliance (Digital Public Goods Alliance, n.d.) hat neun Indikatoren definiert, die bestimmen, ob ein Softwareprogramm, ein Datenrepository, ein KI-Modell oder ein Datenstandard als digitales öffentliches Gut betrachtet werden kann. Nach dem «Digital Public Goods Standard» (DPGS, Digital Public Goods Alliance, o.J.) der Allianz fördert ein digitales öffentliches Gut (1) die SDGs, (2) verwendet eine anerkannte offene Lizenz, (3) hat klare Eigentumsverhältnisse, (4) ist unabhängig von proprietären Komponenten, (5) umfasst eine gute Dokumentation, (6) ermöglicht die Extraktion von Daten, (7) hält sich an Datenschutzgesetze, (8) ist an technischen Standards und bewährten Verfahren ausgerichtet und (9) richtet keinen Schaden durch Design an. Nach dieser Definition haben digitale öffentliche Güter das Potenzial für eine nachhaltige Entwicklung des öffentlichen Sektors.

Mithilfe digitaler öffentlicher Güter können Regierungen ihre eigene digitale öffentliche Infrastruktur aufbauen, z. B. elektronische Identifizierung (E-ID) oder Datenaustauschplattformen, wodurch ihre digitale Souveränität erhöht und die Abhängigkeit von Anbietern verringert wird (Nordhaug und Harris, 2021). Innerhalb der Grenzen der DPGS-Kriterien gibt es keine Einschränkungen, wie öffentliche Einrichtungen oder der private Sektor diese Güter nutzen und weiterentwickeln können. Die DPGS-Kriterien ermöglichen es staatlichen Akteuren, Forschern, Unternehmern, Journalisten und Bürgern, auf die technische Architektur zuzugreifen und bestehende digitale öffentliche Güter für eine nachhaltige Transformation wiederzuverwenden. Das District Health Information System (DHIS2) beispielsweise ist eine Open-Source-Software, die in vielen Entwicklungsländern eingesetzt wird, um die Effizienz und Transparenz im Gesundheits- und Bildungssektor zu erhöhen. Die Software unterstützt mehrere SDGs und ist im Register für digitale öffentliche Güter aufgeführt, da sie alle oben genannten Anforderungen erfüllt. Die Forscher, die diese Plattform an der Universität Oslo entwickeln, haben ausführlich dargelegt, wie diese digitale Technologie eng mit dem Konzept eines digitalen öffentlichen Gutes verbunden ist (Nicholson et al., 2022). Ein Überblick darüber, wie DHIS2 die neun Anforderungen der DGPS erfüllt, ist auf der Website zu finden (Digital Public Goods Alliance, n.d.). So wird beispielsweise eine ausführliche Dokumentation (Indikator 5) auf GitHub in verschiedenen Sprachen und für verschiedene Zielgruppen, darunter medizinisches Personal und Softwareentwickler, bereitgestellt.

Digitale öffentliche Güter und digitale Nachhaltigkeit

Im Zusammenhang mit digitalen öffentlichen Gütern tauchen neue Konzepte und Handlungsaufrufe auf. So hat beispielsweise die Digital Impact Alliance (2022) die Charta für digitale öffentliche Güter ins Leben gerufen. Sie enthält Empfehlungen dazu, wie Organisationen digitale öffentliche Güter auf finanzieller, betrieblicher und kommunikativer Ebene schaffen und erhalten sollten. Interessanterweise greift sie Aspekte digitaler öffentlicher Güter auf, die bereits im Kontext der digitalen Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsforschung entwickelt wurden (Stuermer et al., 2017): Die Finanzierung langfristiger Wartungsarbeiten, die Verbreitung von Wissen, der Aufbau eines vielfältigen Ökosystems und die Implementierung eines Governance-Rahmens, um Risiken zu mindern und den Nutzen zu maximieren.

Das Konzept der «digitalen Nachhaltigkeit» (Stuermer et al., 2017) umfasst drei Ebenen der Interaktion: das digitale Artefakt, das umgebende Ökosystem und die Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Planeten. Es gibt vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein digitales Artefakt als «digital nachhaltig» bezeichnet werden kann: (1) Durchdachtheit (Qualität der Software oder Daten), (2) transparente Strukturen, (3) semantische Daten (Daten sind maschinenlesbar, einschließlich Metadaten) und (4) verteilter Standort. Darüber hinaus müssen die Einzelpersonen und Organisationen, die die digitalen Artefakte produzieren und nutzen, fünf weitere Bedingungen erfüllen: (5) offene Lizenzregelung, (6) gemeinsames implizites Wissen, (7) partizipative Kultur, (8) verantwortungsvolle Verwaltung und (9) diversifizierte Finanzierung. Schließlich muss die Kombination aus dem digitalen Artefakt und seinem Ökosystem (10) zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Dieses Verständnis von digitaler Nachhaltigkeit passt gut zum Konzept der «digitalen öffentlichen Güter»: Beide fördern die SDGs, beide erfordern offene Lizenzen, und beide erwarten hohe Qualität und bewährte Verfahren. Darüber hinaus fügt das DPGS Eigentum, Unabhängigkeit von proprietären Komponenten, gute Dokumentation, die Möglichkeit der Datenextraktion, die Einhaltung von Datenschutzgesetzen und «no harm by design» hinzu; die digitale Nachhaltigkeit fügt Merkmale einer gesunden Gemeinschaft hinzu, wie eine breite, organisationsunabhängige Verteilung von Fähigkeiten und Erfahrungen, Erleichterung der Beteiligung und gute Governance-Mechanismen.

Auf dem Weg zu einem umfassenden Verständnis der digitalen Nachhaltigkeit

Die Forschung, die sich auf ein konsolidiertes Modell der «digitalen Nachhaltigkeit» und der «digitalen öffentlichen Güter» konzentriert, schafft einen kohärenten Rahmen mit den Merkmalen beider Konzepte. Dieser Rahmen erfüllt die Definition offener Technologien im Dienste des Planeten und unterstreicht die Vorteile frei verfügbarer digitaler Artefakte für unsere Gesellschaft. Der Rahmen hilft auch bei der Übertragung von Aktivitäten von einer Art digitaler Artefakte auf eine andere. So hat beispielsweise die Kampagne «Public Money Public Code» der Free Software Foundation Europe (n.d.) viele Befürworter Freier Software dazu inspiriert, die Kampagne in der Politik zu fördern. In ähnlicher Weise verfolgt Wikimedia Deutschland eine Kampagne zur Öffnung der Bildungsinhalte des öffentlichen Rundfunks (Wikimedia, 2022). Diese Aktivitäten unterstützen politische Entscheidungsprozesse (z.B. im Schweizer Parlament) und liefern einen Denkanstoß für die politische Diskussion. Durch die Verbindung der Merkmale der digitalen Nachhaltigkeit und der digitalen öffentlichen Güter kann die Übernahme dieser Merkmale durch die Regierungen beschleunigt werden, wodurch der Nutzen der Digitalisierung für die Gesellschaft und den Planeten erhöht wird.


Dieser Beitrag ist im Begleitbuch der Konferenz «Bits und Bäume 2022″ erschienen, welches hier Open Access zur Verfügung steht.


Referenzen

  1. CODES (2022). Aktionsplan für einen nachhaltigen Planeten im digitalen Zeitalter. Coalition For Digital Environmental Sustainability (CODES). https://doi.org/10.5281/ZENODO.6573509
  2. DHIS2 (n.d.). DHIS2-Dokumentation. Abgerufen am 20. März 2023, von https://docs.dhis2.org
  3. Digital Impact Alliance (2022). Über die Digital Impact Alliance. Abgerufen am 21. März 2023, von https://dial.global/about-the-digital-impact-alliance/who-we-are/
  4. Digital Public Goods Alliance (n.d.). Standard für digitale öffentliche Güter. Abgerufen am 25. Februar 2023, von https://digitalpublicgoods.net/standard/
  5. Free Software Foundation Europe (FSFE). Öffentliches Geld, öffentlicher Code. https://publiccode.eu/en/
  6. Digitalisierung für Nachhaltigkeit (2022). Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation. https://doi.org/10.14279/DEPOSITONCE-16187
  7. Muench, S., Stoermer, E., Jensen, K., Asikainen, T., Salvi, M. & Scapolo, F. (2022). Auf dem Weg in eine grüne und digitale Zukunft. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. https://doi.org/10.2760/977331
  8. Nicholson, B., Nielsen, P., Sæbø, J. I. & Tavares, A. P. (2022). Digitale öffentliche Güter für Entwicklung: A Conspectus and Research Agenda. In Freiheit und soziale Eingliederung in einer vernetzten Welt. 455-470. https://doi.org/10.1007/978-3-031-19429-0_27
  9. Nordhaug, L. M., & Harris, L. (2021). Digitale öffentliche Güter: Enablers of digital sovereignty. OECD, 10. https://doi.org/10.1787/c023cb2e-en
  10. Pomerantz, J. & Peek, R. (2016). Fifty shades of open. First Monday. https://doi.org/10.5210/fm.v21i5.6360
  11. Stuermer, M., Abu-Tayeh, G. & Myrach, T. (2017). Digitale Nachhaltigkeit: Rahmenbedingungen für nachhaltige digitale Artefakte und ihre Ökosysteme. Sustainability Science, 12(2), 247-262. https://doi.org/10.1007/s11625-016-0412-2
  12. UN-Generalsekretär (2020). Roadmap for Digital Cooperation – Report of the Secretary-General (S. 39). https://www.un.org/en/content/digital-cooperation-roadmap/
  13. Wikimedia (2022). Öffentliches Geld – Öffentliches Gut! – Bildungsinhalte frei veröffentlichen. Wikimedia. Abgerufen am 22. August 2022, von https://www.wikimedia.de/oeffentliches-gut
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AUTHOR: Matthias Stürmer

Dr. Matthias Stürmer ist Professor an der BFH Wirtschaft und leitet das Institut Public Sector Transformation. Zudem ist er Dozent an der Universität Bern und Geschäftsleiter der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit (Parldigi), Präsident des Open Source Fördervereins CH Open und Präsident des Vereins Digital Impact Network.

AUTHOR: Markus Tiede

Markus Tiede ist Senior Practitioner für Open Source Software am Institut Public Sector Transformation.

AUTHOR: Jasmin Nussbaumer

Dr. Jasmin Nussbaumer ist Co-Leiterin des Digital Sustainability Lab am Institut Public Sector Transformation.

AUTHOR: Flurina Wäspi

Flurina Wäspi ist wissenschaftliche Assistentin am Institut Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft und Themenverantwortliche Demokratie bei der Stiftung Mercator.

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