Wie Digitale Zwillinge in der Industrie eingesetzt werden

Digital Twins oder digitale Zwillinge ermöglichen in unterschiedlichen Branchen wie Industrie oder Medizin ganz neue Möglichkeiten. Doch was ist so ein digitaler Zwilling überhaupt? Diese Frage, und was bereits möglich ist mit solchen digital Twins im Unternehmens- und Industriebereich haben wir mit unseren Experten Prof. Stefan Jack und Dr. Nikita Aigner in einem Interview besprochen.

Was verbirgt sich hinter dem Begriff «Digital Twin» und wofür ist dieser gut?

Ein Digital Twin (oder digitaler Zwilling) ist nicht viel anderes als ein Modell. Dieses kann dabei alles mögliche abbilden – Städte, Objekte, Maschinen, Prozesse. Es wird also ein reales Objekt oder Phänomen mathematisch beschrieben – als Sir Isaac Newton ein Apfel auf den Kopf fiel, entwickelte er den ersten digitalen Zwilling von Gravitation. Heute werden diese Modelle typsicherweise numerisch derart abgebildet, dass sie auf einem Computer berechnet werden können. Im Kern ist der digitale Zwilling also nicht neu.

Der wesentliche Unterschied zu klassischer Modellierung besteht – wie bei vielen modernen Technologien – in der Tatsache, dass die heute verfügbaren Rechenleistungen es erlauben, Modelle sehr schnell zu berechnen. Digitale Zwillinge erlauben es, die Realität sehr detailliert abzubilden und können auch über Sensoren oder andere Inputs an reale Systeme gekoppelt werden. Dadurch können wir reale Systeme besser verstehen und analysieren.

Wie und in welchen Bereichen können digitale Zwillinge eingesetzt werden?

Stefan Jack ist Professor für Maschinen-, Verfahrens- und Fertigungstechnik am Kompetenzbereich Digitale Fertigung der BFH Technik & Informatik.

Die Liste sinnvoller Einsatzmöglichkeiten und -Gebiete digitaler Zwillinge ist sehr lang.

Im Anlagenbau können wir heute dank detailgetreuer Modellierung von Maschinen – bis auf das Niveau einzelner Antriebe – präzise Aussagen über deren Verhalten in einem realen Umfeld machen. Das erlaubt es uns, ganze Produktionsstrassen effizient zu planen und teilweise virtuell (das heisst vom Schreibtisch aus) in Betrieb zu nehmen. So kann man Zeit, Geld und andere wertvolle Ressourcen bei der physischen Inbetriebnahme sparen.

Während des Betriebes einer Anlage gibt das Feedback durch Sensordaten allein schon durch simple Visualisierungen über den Zustand der Maschinen und laufenden Prozesse. Ähnlich können wir durch Messungen an Gebäuden, die Daten in einem 3D-Modell darstellen. Das gibt uns tiefe Einblicke in das tatsächliche Nutzerverhalten und wir können im Rahmen von Sanierungsmassnahmen Anpassungen vornehmen, oder Massnahmen zeitlich besser einplanen.

Es können aber auch Businessprozesse von digitalen Zwillingen profitieren. ERP (Enterprise Resource Planning) Systeme bilden bereits heute grosse Teile von Unternehmen digital ab. Und die Systeme werden zunehmend leistungsfähiger in Bezug auf die Feingliedrigkeit der Abbildung. Dank dieses Datenschatzes kann die Geschäftsleitung die Komplexität der eigenen Firma besser überblicken, verstehen und die eigenen Prozesse weiterentwickeln.

Interessant sind Digitale Zwillinge, wenn Modelle von verschiedenen Domänen miteinander verknüpft werden, z.B. Produktionsanlagen und ERP. Auf diese Weise sind neue Beziehungen von Daten zueinander und damit neue Erkenntnisse oder genauere Voraussagen möglich. Wenn Zykluszeiten automatisch aus dem Produktionsprozess ausgelesen werden, ist der Firma über die Kostensätze von Mitarbeitern und Maschinen präzise bekannt wie teuer die Herstellung eines Produkts war. Damit kann im nächsten Schritt die Angebotserstellung verbessert werden.

Wie können und werden Digitale Zwillinge mit anderen Technologien kombiniert (werden)?

Da ein digitaler Zwilling im Kern «lediglich» ein Modell ist, lebt dieser von Synergien mit anderen Technologien. Allen voran geht die heute verfügbare Rechenleistung – so profitieren wir einerseits von den massiven Leistungen, die in der Cloud verfügbar sind, aber auch leistungsschwächere Hardware kann uns auf der Edge (am Rand des Datennetzwerks) für das Sammeln und die Vorauswertung von Daten helfen. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der Wert neuer Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie.

Die vorhin erwähnte Kopplung eines Modells an Eingaben aus der realen Welt kann nur dank einer Vielzahl spezialisierter Kommunikationsprotokolle bewerkstelligt werden. Einerseits helfen uns auf hardwareseitig Transportprotokolle die leitungsgebunden (Glasfaser, Ethernet oder Feldbusse für Industrienetzwerke) oder drahtlos (vom energiesparenden LoRa, bis hin zu 5G Hochleistungsnetzwerken) sein können. Andererseits haben softwareseitig Kommunikationsstandards wie OPC UA im Industrieumfeld, SiLA für Labore und eine Vielzahl webbasierter Protokolle (JSON, XML u. ä.) die Implementierung deutlich vereinfacht.

Mit der zunehmenden Komplexität digitaler Zwillinge werden auch die daraus generierten Ergebnisse zunehmend komplex. Bei der Auswertung sind wir dadurch zunehmend auf Methoden aus der Data Science und dem Maschinellen Lernen angewiesen, um Zusammenhänge besser zu verstehen.

Gibt es auch Risiken bei Verwendung von Digital Twins?

Selbstverständlich. Digitale Zwillinge können mitunter sehr komplexe Modelle sein, die obendrauf noch mit der realen Umwelt interagieren können. Sie sind typsicherweise Werkzeuge für Experten, anstatt für Endverbraucher. Wie für jede Modellierung gilt es stets, den richtigen Detaillierungsgrad zu treffen und die richtigen Vereinfachungen zu machen. Bei der Interpretation der Erkenntnisse aus einem Digitalen Zwilling müssen Sie sich ebenfalls stets dessen bewusst sein, was Sie machen. Selbst wenn Sie ein kommerziell erworbenes Modell von beispielsweise einer Anlage benutzen, müssen Sie dennoch die Limite des Systems verstehen. Eine magische Blackbox ist auch der digitale Zwilling nicht.


Über die Personen

Stefan Jack ist Professor für Maschinen-, Verfahrens- und Fertigungstechnik am Kompetenzbereich Digitale Fertigung der BFH Technik & Informatik.

Dr. Nikita Aigner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenzbereich Digitale Fertigung und forscht im Bereich Digitalisierung mit Fokus auf die holzverarbeitende Industrie an der BFH Technik & Informatik.

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AUTHOR: Mascha Kurpicz-Briki

Dr. Mascha Kurpicz-Briki ist Professorin für Data Engineering am Institute for Data Applications and Security IDAS der Berner Fachhochschule, und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Applied Machine Intelligence. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung unter anderem mit dem Thema Fairness und der Digitalisierung von sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen.

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