Künstliche Kreativität (Teil 2) – die prekären Aspekte
Kunstschaffende sind anders als wir sie uns gerne vorstellen. Deshalb nehmen viele die KI gar nicht als Bedrohung wahr, sondern als Chance. Warum ist das so? Betrachten wir zuerst den aktuellen KI-Diskurs am Beispiel der Textproduktion, die ja auch Teil künstlerischen Schaffens ist.
Chat GPT ist in aller Mund. Chat GPT stellt – unter anderem – das traditionelle Hochschulwesen in Frage – mit derzeit völlig unklarem und voraussichtlich pfadabhängigem, kontingentem Ausgang. Das heisst: Derzeit meinen wir zu wissen, dass wir nicht wissen können, welche Folgen die Nutzung von textproduzierender künstlicher Intelligenz (KI) haben wird. Vermutlich zu Recht.
Die möglichen Folgen sind schon viel diskutiert worden. Hier einige nicht gänzlich offensichtliche potentielle Auswirkungen auf die Hochschulen, welche weder klar positiv noch klar negativ sind, und zeigen, wie unklar aber auch potentiell weitreichend die möglichen Folgen sind:
- Das bisher sehr zeitaufwändige Stellen von anspruchsvollen Multiple-Choice Aufgaben wird viel einfacher und deren Qualitätsmängel werden reduziert, was dazu führt, dass in Zukunft mehr Anwendungswissen geprüft wird und in der Folge die Praxiskompetenzen der Absolvent*innen sich signifikant verbessern (Ist das ein Ziel? Für die einen: Ja, für die anderen: Nein)
- Das Anspruchsniveau der Prüfungsaufgaben kann und muss deshalb erhöht werden, was Studierende dazu zwingt ihren Lernaufwand zu erhöhen, wodurch die Zahl der Absolvent*innen reduziert und in der Folge der Fachkräftemangel auf dem nichtakademischen Level gelindert wird (Ist das wünschenswert? Die Meinungen sind geteilt.)
- Die Studierenden erlernen jene kognitiven Fähigkeiten nicht, die beim Verfassen von Texten trainiert werden, was entweder zu einer Verschiebung der Kompetenzen führt (weil dafür anderes gelernt werden kann) oder zu einem De-Skilling (was viele von Stress befreit, aber auch viele voraussichtlich schneller älter werden lässt)
Diese Beispiele zeigen die Komplexität der Folgewirkungen des KI-Fortschritts auf – nur allein schon im tertiären Ausbildungssektor. Und sie illustrieren, wie unterschiedlich die Bewertungen ausfallen könnten, wenn einmal die Folgewirkungen absehbar sein werden. Vorerst scheint klar: KI stört die Kontinuität – und das nehmen viele als sehr bedrohlich war. Häufig ist die Folge emotionale Ablehnung der KI oder, noch häufiger, Verdrängung des Themas KI.
Die grundsätzliche Andersartigkeit der Kunst
In der Kunst ist die Situation anders: In der Kunst bedeutet Kontinuität meist die Fortsetzung prekärer Verhältnisse. Viele Kunstschaffenden leben finanziell sehr schlecht von ihrer Kunst (oder gar nicht) und sind auch emotional höchst herausgefordert: Sie müssen sich dem Urteil anderer aussetzen, weil dies der eigentlich wesentliche Teil ihres Kunstschaffens ist: ihr Inneres zu äussern für andere. Viele haben sich deshalb an die doppelt prekäre Situation gewöhnt. Wir sehen das nur deshalb nicht, weil wir von den Superstars abgelenkt werden. Diese verdienen viel Geld und werden bejubelt. Man kann sich dieser Fokussierung auf Superstars kaum entziehen – auch dann nicht, wenn man die Frustration der Nicht-Superstars genau kennt. Teilweise ist unsere Blindheit gegenüber der Allgegenwart des Prekären sogar gewollte Folge der Inszenierung von Kunst als erhaben über das Alltägliche.
Genau deshalb aber, weil Kunstschaffen im Normalfall prekär ist, sehen viele Kunstschaffende neue Technologien als neue Chancen. Sie passen sich an, indem sie sich die neuen Technologien objektiv und subjektiv aneignen und – in der Sprache der Anthropologie gesprochen – subjektiv und objektiv vergegenständlichen. Das heisst in Alltagssprache formuliert: Sie nutzen die neuen technologischen Möglichkeiten für das Schaffen von Kunst. Dabei dekonstruieren sie teilweise die Technologie-Mythen, viel häufiger aber nutzen sie sie als eine Art doppelte Realität, um die Ambiguität ihrer Kunstwerke weiter zu vergrössern. Oder sie nutzen sie direkt dafür, Kunst zu schaffen, welche ohne neue Technologien unmöglich wäre.
Ein Blick zurück in die Geschichte
Die Geschichte der klassischen Musik gibt ein klangvolles Zeugnis der Aneignung neuer Technologien: Von Haydns Trompetenkonzert über die Kompositionen mit Tonband oder Synthesizer bis zur Nutzung von Software in der aktuellen Kompositions- und Aufführungspraxis. Dazu kommen noch zahlreiche Trends in Bereichen, die nicht eindeutig zugeordnet werden können, beispielsweise dem parallelen Live Hacking für Musik und Videos. Dass dabei auch Algorithmen einfliessen und letztlich das, was der Volksmund als KI betrachtet, ja warum nicht? Es gibt ja immer die Möglichkeit, alte Technologien auszugraben, beispielsweise Mozart mit Originalinstrumenten zu spielen oder Neue Musik, die mittlerweile über 100 Jahre alt ist, mit originalen (= analogen) Synthesizern. Das Neue ergänzt das Alte, es verdrängt es nicht. Und mindestens in der klassischen Musik der Gegenwart tut sich das Neue viel schwerer als das Alte – anders als zu Bachs Zeiten, als das Neue dominierte.
Es gibt wenig Grund, KI anders zu behandeln als andere Technologien. Es gibt auch wenig Grund, uns abzuwenden von den künstlerischen Traditionen, welche Innovationen positiv wahrnehmen. Das Beharren auf dem Alten mag in östlichen Kunsttraditionen verehrt werden, in westlichen Kunsttraditionen war es immer flüchtig und wurde rückwirkend als reaktionär betrachtet. Aktuell ist zu beobachten, dass gefühlt die Kunstkonsument*innen in KI eine grössere Gefahr für die Kunst sehen als die Kunstschaffenden selbst.
Anpassung oder Aneignung, das ist hier die Frage
Die eigentliche Frage ist, ob Künstliche Kreativität in der Kunst eine Anpassung oder eine Aneignung darstellt. Diese Frage ist immer schon entscheidend gewesen – und hat ganz wesentliche eine ethische Dimension. Derzeit spricht vieles gegen das Konzept der Aneignung. Erstens kommt es aus der Anthropologie, welche nach ihrem Höhenflug in den letzten Jahrzehnten (u.a. mit Forschung zur Digitalwirtschaft) gerade dabei ist, ins Elend abzustürzen, weil sie nicht «woke-kompatibel» ist. Zweitens wird das auf Genesis 1, 28 zurückgehende Konzept Dominium terrae zum Hauptangeklagten der befürchteten Klimakatastrophe, des wahrgenommenen Artensterbens und vieler anderer Übel. Dementsprechend hört sich Aneignung für viele wie ein Verbrechen an. Drittens spricht auch die These von der Gentrifizierung der Kultur, die beispielsweise von Guillaume Paoli als Zombifizierung beschrieben wird, gegen jeden Modernitätsglauben. Und viertens heben derzeit gerade Soziologen wie Philipp Staab nicht ganz zu Unrecht das Konzept einer positiv interpretierten Anpassung aus der Taufe. Aber wird sich die Kunst dem neuen Paradigma der Anpassung unterwerfen? Und: Soll sie sich dem unterwerfen?
Weitgehend als gesicherte Erkenntnis kann gelten: Kreativität brauch einen Rahmen. Dieser kann aus dem Verzicht auf Technologie bestehen, aber er kann genauso gut aus der Nutzung von Technologie entstehen. Es kommt auf die Sichtweise an.
Die Schlusssentenz von «Das Neue Leben» im Schauspielhaus Zürich bringt es auf dem Punkt. Sinngemäss frei zitiert: Auch wenn irgendwann im Universum alles Leben aussterben wird, ist heute noch nicht so weit. Ob vor dem Aussterben allen Lebens die Künstliche Intelligenz die Kunst übernehmen wird oder nicht, hat weder eine Konsequenz für das Ende des Universums, noch für das Leben und die Kunst heute. Sehen wir also die Chancen im Jetzt der Künstlichen Kreativität, eignen wir uns die KI an als neue Möglichkeit für den menschlichen Ausdruck!
Dies ist der 2. Teil einer Kolumne über die Künstliche Intelligenz und Kreativität. Den 1. Teil finden Sie hier.
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