Digitale Transformation bei der Schweizerischen Post – wenn digital auf physisch trifft

Mehr als um Technologie geht es bei der erfolgreichen digitalen Transformation um die Veränderung von Prozessen und Strukturen in einer Organisation – also um die Mitarbeiter*innen. Damit Teams schnell und flexibel auf Veränderungen reagieren können, müssen sie ihre Zusammenarbeit neu gestalten. Als Head of Technology, Strategy & Steering und Mitglied der Geschäftsleitung der IT bei der Schweizerische Postist Laetitia Henriot Arsever mit dieser Herausforderung nur allzu vertraut. Im Interview taucht sie mit uns ins Thema embedded IT-Organisationen und erklärt uns, wie die Post versucht, ihr Wertversprechen in der digitalen Welt zu erhalten und zu erneuern.

Laetitia Henriot Arsever ist Leiterin Technology, Strategy & Steering und Mitglied der Geschäftsleitung IT bei der Schweizerischen Post

In Ihrer Karriere haben Sie verschiedene Rollen und Funktionen durchlaufen, von der IT über den Betrieb, den Verkauf und die Finanzen bis hin zur Leitung eines Start-up-Inkubators. Wie verhält sich das im Vergleich zu Ihrer jetzigen Rolle bei der Schweizerischen Post, können Sie auf Ihren früheren Erfahrungen in all diesen Bereichen aufbauen?

Meine jetzige Position ist viel stärker auf die Kern-IT und den strategischen Teil davon ausgerichtet, aber ich habe immer noch das Gefühl, dass ich viele der verschiedenen Kenntnisse, die ich im Laufe der Zeit erworben habe, nutzen kann. Die Ausrichtung des Unternehmens ist nach wie vor sehr wichtig bei der Festlegung der Strategie und des Betriebsmodells. Auf der Innovationsseite ist es sehr nützlich zu verstehen, wie man neue Ideen in einem grösseren Unternehmensumfeld auf den Weg bringt und finanziert. Während meiner verschiedenen beruflichen Stationen habe ich gelernt, die Finanzen als strategisches Instrument zu nutzen, um die Themen voranzutreiben, die mir wichtig sind. Ein weiterer Aspekt ist, wie wichtig es ist, den Menschen vor Ort zuzuhören, den Fahrer*innen der Postautos oder den IT-Entwickler*innen und Tester*innen, um Ideen zu validieren und die Zustimmung des Teams zu erhalten. Dass ich selbst im operativen Bereich gearbeitet habe, hat mir hier wirklich geholfen.

Lassen Sie uns darüber sprechen, was Sie bei Ihrem Stellenantritt vorgefunden haben. Wie läuft die digitale Transformation der Schweizerischen Post, und was sind die grossen Herausforderungen?

Einer der wichtigsten Werte, den die Schweizerische Post sehr hoch hält, ist das Briefgeheimnis. Heute vertrauen Sie der Post, wenn es darum geht, Sie, Ihr Geld und Ihre Informationen zu transportieren, hauptsächlich durch physische Dienstleistungen. Unsere Strategie besteht darin, unser Wertversprechen zu nutzen und es in die digitale Welt zu übertragen. Wir wollen sicherstellen, dass wir auch für die künftige Generation relevante Dienstleistungen erbringen. Und wir sind davon überzeugt, dass es auch in Zukunft einen Bedarf an einem öffentlichen Dienst geben wird, der die Geheimhaltung für die Bevölkerung mit physischer Infrastruktur, aber auch in der digitalen Welt gewährleistet. Es geht darum, vertrauenswürdige IT-Lösungen anzubieten, um die Menschen in der Schweiz zu befähigen und die Wirtschaft zu unterstützen. Wir spielen dabei eine Schlüsselrolle und verstehen uns als Partner*innen im Sinne der digitalen Transformation für die Schweiz als Ganzes.

Wie überträgt die Schweizerische Post diese physischen Aspekte – die Marke, das Wertversprechen, die Geheimhaltung – in die digitale Welt?

Ich denke, das ist die grösste Herausforderung, die die Schweizerische Post meistern muss. Wir müssen beides anbieten – physische und virtuelle Dienstleistungen – und sie müssen nahtlos integriert werden. Wir können nicht einfach vollständig in die digitale Welt übergehen, weil wir diese primären Dienstleistungen für alle erbringen. Der öffentliche Auftrag ist ein Mandat für den Staat. Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir weiterhin Dienstleistungen für Menschen anbieten, die sich mit digitalen Lösungen vielleicht nicht so gut auskennen. Unsere Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie wir diesen beiden Welten gerecht werden und sie miteinander verbinden können. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass Sie den Aufkleber für Ihre Pakete herunterladen und ausdrucken, diese dann aber physisch zum Postamt bringen. Das sind – wie wir es nennen – phygitale Lösungen, an denen wir arbeiten. Die Stimmabgabe ist eine weitere gute Illustration: Wir werden weiterhin physische Stimmzettel transportieren und sicherstellen, dass sie rechtzeitig ankommen und die Privatsphäre gewahrt bleibt, aber wir wollen auch Lösungen für die elektronische Stimmabgabe vorantreiben. Die Herausforderung besteht darin, neue digitale Dienste zu schaffen, die unseren Stärken entsprechen (sichere Informationsübermittlung, vertrauenswürdiger Partner, öffentlicher Auftrag) und gleichzeitig unsere physischen Dienste zu integrieren und zu erhalten.

Aus der IT-Perspektive klingt das ein bisschen wie ein Albtraum. Man muss alles gleichzeitig machen und dafür sorgen, dass alle Akteure aufeinander abgestimmt sind, dass die Daten die gleichen Formate haben und dass alles zusammenpasst. Wie gehen Sie mit dieser Komplexität um, mit der Integration der physischen und der digitalen Welt?

Wir haben in den letzten Jahren die so genannte embedded IT-Organisation vorangetrieben. Bei dieser Komplexität kann man nicht zwischen der IT auf der einen Seite und dem Business auf der anderen Seite trennen. IT ist Business. Es ist notwendig, dass alle Ebenen aufeinander abgestimmt sind. Den Teams sollte so weit wie möglich End-to-End-Verantwortung übertragen werden und sie sollten entlang der Wertschöpfung organisiert werden. Die Idee ist, dass das Business und die IT die Verantwortung teilen, um mehr Wirkung zu erzielen. Wir haben dedizierte Teams für unsere Dienstleistungen gebildet und die Business Experten in diese Teams integriert. Sie nehmen an der Priorisierung und Entscheidungsfindung teil, genau wie wir von IT, und sind Teil der Sitzungen. Wir können beobachten, dass die traditionellen Grenzen immer mehr verschwimmen und dass das Team immer mehr zu einem Ganzen wird.

Wir haben die eingebettete IT-Organisation stark vorangetrieben. Bei dieser Komplexität kann man nicht zwischen der IT und dem Geschäft trennen. IT ist Geschäft.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Nun, wir haben eine Reihe von Diensten, die wir für eine Geschäftseinheit bereitstellen, die auf eine bestimmte Wertschöpfung ausgerichtet ist. Alle, die an diesen Diensten und Anwendungen arbeiten, sind in einem Team innerhalb der IT-Abteilung zusammengefasst. Es gibt verschiedene Rollen, darunter Analyst*innen, Anforderungsingenieur*innen, DevOps-Entwickler*innen und -Ingenieur*innen, Tester*innen, Cybersecurity Expert*innen, die alle mit Expert*innen aus den Fachabteilungen verbunden sind. Darüber hinaus sind auch Architekturexpert*innen Teil dieser Teams, allerdings in einer Matrix. Die Architekt*innen sind nämlich auch über die Dienste hinweg miteinander verbunden, um sicherzustellen, dass die Gesamtarchitektur auch Sinn macht.

Lassen Sie uns ein wenig über Ihre Rolle als digitale Führungskraft sprechen. Wie leiten Sie ein Team mit so unterschiedlichen Hintergründen und Profilen, das sowohl Geschäfts- als auch IT-Rollen umfasst?

Es gibt viele verschiedene Tools, die zur Verfügung stehen, so dass man das Rad nicht neu erfinden muss. Ich persönlich mag diese zwei Frameworks: Sociocracy 3.0 | Effective Collaboration At Any Scale (sociocracy30.org)) und SAFe 5 for Lean Enterprises (scaledagileframework.com). Ich glaube an das Experimentieren, Üben, Lernen und Anpassen. Es gibt keine Einheitsgrösse für alle, und es ist wichtig herauszufinden, welches Werkzeug oder Element dieser Rahmenwerke Ihrem Team am meisten helfen wird. Manche Teams finden es vielleicht schwierig, schnelle Entscheidungen zu treffen. Dann sollten Sie sich überlegen, wie Sie bessere Entscheidungen treffen können. Wir haben in den letzten zwei Jahren viel mit dem Instrument «Konsensuale Entscheidungsfindung» gearbeitet, das wir für wichtige und strategische Diskussionen verwenden. Ich finde es nützlich, weil es hilft, diese emotionalen Spannungen und Diskussionen zu beseitigen, und es ermöglicht, schnelle Entscheidungen zu treffen, die auf grosse Zustimmung stossen.

Wie gehen Sie mit Ihrer Rolle als Führungskraft um, um sicherzustellen, dass Ihr Team Ihnen vertraut und offen und ehrlich mit seinem Feedback ist?

Ich denke, dass wir in der Schweiz, und nicht nur bei der Schweizerischen Post, eine Kultur des Kompromisses haben. So funktioniert unser System, so treffen wir politische Entscheidungen und schaffen neue Gesetze. Und das hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, oder? Das ist also etwas, das wir als sehr positiv ansehen. Und ich denke, es hat viele positive Seiten, aber wenn man grossen Respekt vor der Hierarchie und die Tatsache kombiniert, dass man versucht, Konflikte zu vermeiden und lieber Kompromisse zu finden, wird es schwierig, direktes, offenes, kritisches Feedback zu geben. Wenn man nicht sagt, was man wirklich denkt, kann auf Dauer auch kein Vertrauen aufgebaut werden.

Mit der zunehmenden Interaktion zwischen Digital-, Technologie- und Geschäftsexperten werden Führungsqualitäten noch wichtiger, um sicherzustellen, dass Sie in einem komplexen Umfeld Wirkung zeigen und Leistung erbringen. Das bedeutet, dass Fähigkeiten wie Konfliktbewältigung, konstruktive Argumente und die Fähigkeit, Ideen so zu verkaufen, dass sie für verschiedene Zielgruppen sinnvoll sind, immer wichtiger werden

Konflikte werden also als etwas Negatives angesehen und dann vermieden?

Als ich meine jetzige Stelle antrat, stellte ich fest, dass es meinem Team schwerfiel, kritische Argumente vorzubringen oder Konflikte auszutragen. Sie versuchten lieber, ein Thema zu vermeiden, vor allem, wenn es auch die Führungsperson betraf. Sie waren gewohnt, dass es in einer Top-Down-Kultur zu riskant ist, die Führung herauszufordern, da dies Auswirkungen auf den Bonus oder den nächsten Karriereschritt haben kann und als Mangel an Respekt oder sogar als Bedrohung angesehen werden kann. Deshalb hielt ich es für wichtig, dem Team zu zeigen, dass ich diese «gesunden» Konflikte haben will und dass ich sie schätze. Also haben wir das trainiert. Ich führte zum Beispiel ein Rollenspiel ein, in dem ich sagte: «Okay, in jeder Sitzung gibt es eine andere Person, die kritisch sein und die Vorschläge in Frage stellen muss». Nach einer Weile wurde es wie jede andere Aufgabe, die zugewiesen wurde, und die Leute begannen sich wohler zu fühlen. Auf diese Weise konnten sie üben und erkennen: «Oh, es ist in Ordnung, kritisches Feedback zu geben, das ist sogar gut für mich, wenn ich mich so engagiere».

Haben Sie ein anderes Beispiel?

Eine andere Sache war, dass ich keine Tagesordnungspunkte für unsere Treffen haben wollte. Ich habe das Team gebeten, Spannungen (engl. «Tensions») zu benennen. Was sind die Spannungen, die wir in dieser Sitzung auflösen wollen? Zum Beispiel: «Ich brauche eine Information von Dir» kann als Spannung angesehen werden. Oder «Ich möchte, dass etwas getan wird». «Ich möchte sicherstellen, dass alle über dieses Projekt Bescheid wissen», aber auch «Ich habe etwas, das nicht funktioniert, und wir müssen eine Entscheidung treffen», oder «Ich sehe etwas, das anders gemacht werden sollte». Betrachten wir doch Spannungen als Teil des Berufsalltags, normalisieren wir sie und ermutigen unsere MitarbeiterInnen, kritische Punkte vorzubringen.

Was ist die nächste «grosse Sache», die wir auf unserem Radar haben sollten?

Wir werden sehen, wie mehr und mehr digitale Technologien wie Cloud oder Automatisierung in unsere Organisationen eindringen. Ich glaube, dass digitale Führungskräfte genau an dieser Schnittstelle zwischen IT und Business agieren müssen. Mit der zunehmenden Interaktion zwischen Digital-, Technologie- und Geschäftsexperten werden Führungsqualitäten noch wichtiger, um sicherzustellen, dass man in einem komplexen Umfeld Wirkung zeigt und Leistung erbringt. Das bedeutet, dass Fähigkeiten wie Konfliktbewältigung, konstruktive Auseinandersetzung und die Fähigkeit, Ideen so zu verkaufen, dass sie für unterschiedliche Zielgruppen sinnvoll sind, immer wichtiger werden. Nicht-Expert*innen mit Storytelling zu überzeugen, ist heute eine sehr wichtige Fähigkeit. Wenn ich einen Vergleich mit der angelsächsischen Kultur ziehe, denke ich, dass die Schulen in der Schweiz dies viel stärker in ihren Lehrplan integrieren sollten. Beim Stakeholder-Management zum Beispiel geht es sehr viel um Storytelling. Je höher die Gesprächspartner in der Organisation sind, desto einfacher muss es sein. Und komplexe Dinge einfach klingen zu lassen, ist eine sehr schwierige Aufgabe. Ich finde es einfacher, mit IT-Architekt*innen über Komplexität zu sprechen als mit einem Vorstandsmitglied, das keine Ahnung von Technik hat. Aber ich muss sie überzeugen und ihnen erklären, was wir tun müssen. Um eine erfolgreiche digitale Führungskraft zu sein, braucht man also diese Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Das wäre also eine tolle Sache, wenn man die Sudent*innen von heute schon in der Ausbildung darauf vorbereitet!


Über die Person

Laetitia Henriot Arsever ist derzeit Leiterin der Abteilung Technologie, Strategie & Steuerung und Mitglied der IT-Leitung der Schweizerischen Post CH. Sie verfügt über einen Master-Abschluss in Informatik der EPFL. Bevor sie zur Schweizerischen Post kam, war sie CIO EMEA beim Liftunternehmen Schindler, wo sie über 10 Jahre lang in verschiedenen Positionen tätig war. Sie gründete das digitale Innovationszentrum von Schindler in Berlin und hatte Positionen in den Bereichen Finanzen, Verkauf und Betrieb inne, was ihr eine breite und strategische Perspektive ermöglichte. Davor war sie zwei Jahre lang als Analystin bei der Beratungsfirma Bearing Point Schweiz tätig.


Über das Institut Digital Technology Management

Das Institut Digital Technology Management an der BFH Wirtschaft ist eine Fachstelle für digitale Innovation und Transformation. Unsere Expertinnen und Experten begleiten die Digitalisierung von Wirtschaft & Gesellschaft, Organisationen und Individuen. Wir helfen bei der Entwicklung einer kohärenten Vision & Strategie, bei der Priorisierung und Bewertung von Optionen, bei der Planung der Umsetzung (Roadmap) und bei der Realisierung von digitalem Mehrwert – über Prototypen hinaus. Dabei arbeiten wir forschungsbasiert und technologieneutral mit einem Netzwerk von erfahrenen Partnern. Unser gemeinsames Ziel ist der verantwortungsvolle und wertschöpfende Umgang mit digitalen Technologien.

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AUTHOR: Nikolaus Obwegeser

Dr. Nikolaus Obwegeser leitet das Institut für Digitales Technologiemanagement an der BFH Wirtschaft. Zuvor war er Associate Director des Global Center for Digital Business Transformation an der IMD Business School in Lausanne und Associate Professor an der Universität Aarhus. Seine Forschungsschwerpunkte sind Digitale Transformation & Innovation, Agile Methoden und Tools sowie die Entwicklung von Informationssystemen.

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