Wie die Modeindustrie nachhaltiger werden kann
Wenn man an die Modeindustrie denkt, kommen einem vielleicht zuerst Fast Fashion und schlecht bezahlte Näherinnen in Asien in den Sinn. In einem persönlichen Bericht analysiert unsere Masterstudentin, wie die Branche mit Hilfe der Digitalisierung einige ihrer grossen Herausforderungen lösen und sozial und ökologisch nachhaltig werden kann.
Oft frage ich mich, was mich vor fünfzehn Jahren dazu bewogen hat, Modedesign zu studieren. Ich war weder ein begabter Zeichner noch besonders kreativ. Ich war wahrscheinlich nur ein durchschnittlicher brasilianischer Teenager aus der Mittelschicht, der das tat, was die meisten brasilianischen Teenager aus der Mittelschicht in den frühen 2000er Jahren taten: Sie waren besessen von Kleidung und versuchten, sich eine Identität aufzubauen. Zu dieser Zeit las ich zum ersten Mal «Das Modesystem» (Roland Barthes, 1967). Dadurch habe ich verstanden: Die Art und Weise, wie sich Menschen kleiden, ist eine Rede für sich. Die Mode ist ein Produkt der Kultur und der Zeit. Das Phänomen der Trends hat etwas Schönes an sich. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichte die technologische und soziale Revolution eine Verlagerung von der Massanfertigung zur Massenproduktion. Die Mode wurde demokratisiert. Durch die schnelle Mode waren die Trends nun für jeden zugänglich, unabhängig vom Wohlstand.
Schnell, wütend und problematisch
Diese «Demokratisierung» war doch eine wunderbare Sache, oder? Jetzt konnte fast jeder die neuesten Trends mitmachen. Und wer möchte sich nicht von der Mode eine neue Identität geben lassen? Es geht um den Kern des Individuums unserer Zeit: Unsere Gesellschaft verlangt von uns, dass wir bereit sind, uns ständig neu zu erfinden. Wie wir inzwischen wissen, ist diese «Demokratisierung» nicht nur schön, sondern auch höchst problematisch. Ein T-Shirt, das genauso viel kostet wie eine Wasserflasche (wir sprechen natürlich von Schweizer Restaurants), gibt uns vielleicht die Freiheit, uns neu zu erfinden, aber es nimmt uns wahrscheinlich auch irgendwann die Freiheit, ein würdiges Leben zu führen. Mode ist für 10 % der globalen CO2-Emissionen verantwortlich (Ellen MacArthur Foundation, 2017), für 20% der weltweiten Verschmutzung durch Industrieabwässer (WRI, 2017) und für Tonnen von Kleidern, die auf Mülldeponien landen, die gar nicht erst produziert werden sollten. McKinsey berichtet, dass sich die Bekleidungsproduktion zwischen 2000 und 2014 verdoppelt hat, die Menschen die Kleidung aber nur halb so lange behalten haben.
Bild: Altkleiderhaufen in der Atacama-Wüste in Chile (Martin Bernetti / AFP)
Digitalisierung bietet Transparenz
Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden. Ich bin nicht mehr so sehr daran interessiert, mich selbst neu zu erfinden, sondern vielmehr mein Unternehmen neu zu erfinden. Ich bin natürlich nicht der Erste. In den letzten fünfzehn Jahren haben die Verbraucher begonnen, sich zu verändern. Sie wollen nicht nur sich selbst immer wieder neu erfinden, sie wollen auch, dass die nachfolgenden Generationen die Chance haben, ein würdiges Leben zu führen. Ein Leben, das nicht von einem entgleisenden Planeten Erde geprägt ist. Zusammen mit den Konsument*innen haben auch die Marken begonnen, Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Verbunden mit dieser breiten Veränderung des kollektiven Bewusstseins ist das Auftauchen der digitalen Welt, unser vollständiges Eintauchen in sie und die vielen Möglichkeiten, die damit einhergehen. Die Digitalisierung bietet uns endlich einmal die Möglichkeit der Transparenz. Marken sollten diesen Weg beschreiten, nicht nur aus offensichtlichen ethischen Gründen, sondern weil die Verbraucher dies verlangen(McKinsey, 2019).
Derzeit sind die Etiketten der Zusammensetzung (deren Inhalt übrigens nicht immer korrekt ist) die Hauptquelle für die Identifizierung, um einen ordnungsgemäßen Recyclingprozess zu gewährleisten. Wie Sie sich vorstellen können (denken Sie an die juckenden Etiketten, die Sie von Ihrer Kleidung abschneiden, noch bevor Sie sie zum ersten Mal waschen), überleben sie nicht den gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Kombinierte Blockchain- und Leuchtpigmentlösungen wie FibreTrace schon. Sie ermöglichen nicht nur das genaue Scannen der Faserzusammensetzung (ja, Sie haben richtig gelesen, FibreTrace ermöglicht das vollständige Scannen von Kleidungsstücken für immer und ewig), sondern registrieren auch die CO2-Emissionen und den Wasserverbrauch in jedem einzelnen Schritt der Kette.
Selbst die Ungläubigen werden digital
Obwohl die Modeindustrie auf der Grundlage ständiger Veränderungen aufgebaut ist, weist sie sehr traditionelle Tendenzen auf. In einer nicht allzu fernen Vergangenheit hörte ich von Professoren, Managern und Kollegen oft Aussagen wie: ‹Oh, E-Commerce wird nie eine große Sache für Bekleidung sein, die Leute wollen den Stoff fühlen, sie wollen sehen, wie das Kleidungsstück sitzt› oder ‹Unser E-Commerce ist nur ein Branding-Tool, er wird nie so viel verkaufen wie unsere Läden› Die Covid-19-Pandemie hat viele Ungläubige von der Bedeutung der Digitalisierung überzeugt. So seltsam es auch klingen mag, die Pandemie gab den Menschen die Freiheit, sich neue Zukünfte auszumalen und ihrer Vorstellungskraft zu vertrauen, auch wenn sie mit den Strukturen, die wir unser ganzes Leben lang kennen, unlogisch oder nicht machbar erscheinen mögen.
Vor diesem Hintergrund kann sich die «digitale Mode» in Zusammenarbeit mit der physischen Welt oder in vollständig digitalen Formaten manifestieren. In einer von Carbon Trust durchgeführten Untersuchung wurden die Kohlenstoffemissionen gemessen, die durch die Reisen der vier grossen Modewochen in einem Jahr verursacht wurden. Sie beliefen sich auf 241.000 Tonnen CO2, was 51.000 Autos auf der Straße oder der Beleuchtung des Eiffelturms für 3.060 Jahre entspricht. Unter dem Druck der pandemischen Reisebeschränkungen setzen die Marken auf digitale Lösungen für Modewochen und Showroom-Meetings. Die London Fashion Week veranstaltete ihre Herbst/21-Ausgabe komplett online. Die Designer präsentierten ihre Kollektionen per Laufsteg, Film, Präsentation, Lookbook oder digitaler Installation. Die Helsinki Fashion Week ging noch einen Schritt weiter und brachte zum ersten Mal eine Modewoche in eine VR-Umgebung.
Video: Digital Village x OpenPlan x Helsinki Fashion Week
Ein Bericht von DressX, einem rein digitalen Einzelhändler, ergab, dass bei der Herstellung seiner digitalen Kleidungsstücke 97 % weniger CO2 ausgestoßen wird als bei physischen Kleidungsstücken. Außerdem werden im Durchschnitt 3300 Liter Wasser pro Artikel eingespart. Selbst wenn das Ziel darin besteht, physische Artikel zu verkaufen, kann die 3D-Modellierung Ressourcen einsparen und die Design- und Produktionsprozesse erheblich verbessern. Sie kann die Notwendigkeit von Stichproben überflüssig machen, die Produktionsvorlaufzeiten verkürzen und sogar Geschäftsmodelle auf Abruf ermöglichen. In Kombination mit Körperscantechnologien kann sie die Angst, die meine Bekannten, die den Online-Handel ablehnen, immer hatten, zerstreuen, indem sie den Verbrauchern eine klare Vorstellung davon vermittelt, wie die Produkte auf ihren Körper passen. Das allein könnte die Rückgabequoten, den Fehlbestand und die Überproduktion enorm beeinflussen.
Der Neustart
Mir gefällt das Wort «Re-Commerce» sehr gut. Ich mag es, weil es mich an ‹recomece› erinnert, was im Portugiesischen so viel bedeutet wie ‹ganz von vorne anfangen› In gewisser Weise geht es beim Re-Commerce und der Kreislaufwirtschaft in der Mode darum, Produkten ein neues Leben zu geben und sie so vor der Mülldeponie zu bewahren. Angetrieben von C2C-Apps wie Depop, Vestiaire Collective und Vinted hat der Secondhand-Markt logistische Beschränkungen überwunden und wuchs 2019 21-mal schneller als der herkömmliche Bekleidungshandel(Forbes, 2021). Bis 2025 soll sich sein Wert verdoppeln und 77 Milliarden Dollar erreichen(Thred up, 2021).
Die Pandemie hinterliess bei vielen Menschen die Wahrnehmung und Realität einer wirtschaftlichen Unsicherheit und einer drohenden Krise. Neben dem Wunsch nach einem nachhaltigeren Lebensstil ist dies ein weiterer Grund für das plötzliche Interesse an Second-Hand-Mode. Laut dem Bericht von Thred up sind 82 % der Menschen bereit oder in der Lage, Secondhand-Mode zu kaufen, wenn das Geld knapper wird. Dies ist eine interessante Parallele zur Fast Fashion und ihrer «Demokratisierung». Heutzutage gibt es mehr Möglichkeiten, wenn es um erschwingliche Mode geht. Würde ich wieder Modedesign studieren, wenn ich wüsste, was ich jetzt weiss? Ich bin mir nicht sicher. Ich weiss nur, dass ich froh wäre, einen weiteren Weg einschlagen zu können. Den Weg zu einer nachhaltigeren und integrativeren Modeindustrie. Es ist nie zu spät, sich auf den Weg zu machen. So bilden sich neue Wege – indem man sie geht. Meiner Meinung nach gibt es eine grundlegende Frage, die jetzt wichtig ist: Wer wollen wir gewesen sein?
Über den Master Digital Administration
Dieser Artikel wurde im Rahmen des Masterstudiengangs Digital Business Administration an der BFH Wirtschaft verfasst. Der Studiengang vermittelt die relevanten Kompetenzen, um die digitale Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft mitzugestalten. Dank aktuellen Live Cases aus Unternehmen in der digitalen Transformation ist das Studium stark praxisorientiert und vermittelt Erfahrungen im Umgang mit aktuellen und neuen digitalen Technologien.
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