Wie die App Memory-Box fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen beim Erinnern hilft
Kinder, die in Heimen oder bei Pflegeeltern aufwachsen, können oft keine kontinuierliche Erinnerung entwickeln. Die Departemente Technik und Informatik sowie Soziale Arbeit der BFH haben eine Web-App entwickelt, mit der fremdplatzierte Kinder und Jugendliche ihre biografische Zugehörigkeit kreativ dokumentieren können. Die dabei entstehenden Erinnerungsstücke sollen ihnen in einer digitalen «MemoryBox» selbst bestimmt, örtlich unabhängig und langfristig zur Verfügung stehen.
«Ich war in so vielen Bettchen, dass ich bis heute nicht weiss, wo ich überall gewesen bin. Ich wusste nicht, wo ich bin, ich wusste nicht an welchem Ort, in welchem Haus, in welchem Bett ich war».
Dieses Interviewzitat stammt von einer Frau, die in den 1960er Jahren als Kind in zahlreichen Kinderheimen und Pflegefamilien aufgewachsen ist. Das Aufwachsen in verschiedenen Institutionen der stationären Erziehungshilfe wie Kinder- und Jugendheime und Pflegefamilien kann auch heute noch von Ortswechseln und Beziehungsabbrüchen geprägt sein, wie die aktuelle Forschungslage zeigt. Die Dokumentation und biografische Bearbeitung dieser Zeit ist oft einer gewissen Zufälligkeit ausgesetzt (Chapon, 2019). Bestehende Forschungsergebnisse legen jedoch die Wichtigkeit für ein gelingendes Aufwachsen nahe, diese spezifische Form des Aufwachsens zu reflektieren und biografisch zu integrieren Bearbeitungsprozesse (Höfer et al., 2017). Die Weiterentwicklung systematischer Biografie- und Erinnerungsarbeit mit fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen ist deshalb zentral.
Digitale Erinnerungsstücke
Im gemeinsamen Projekt der Departemente Technik und Informatik und Soziale Arbeit wurde die Web-App MemoryBox entwickelt, um fremdplatzierte Kinder und Jugendliche in ihrer Biografiearbeit zu unterstützen. Die MemoryBox stellt zudem einen zentralen Baustein der ersten qualitativen Längsschnittstudie in der Schweiz dar (geplante Laufzeit 2021 – 2027), welche sich mit der Frage der Zugehörigkeit von fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen im biografischen Verlauf beschäftigt. Die während dieser Datenerhebung entstehenden Erinnerungsstücke sollen ihnen langfristig digital zur Verfügung stehen. Für die Entwicklung dieses digitalen Bausteins stellte sich also die Frage, welche individuellen Bedürfnisse und technischen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die MemoryBox von den Kindern und Jugendlichen, sowohl während ihrer Fremdplatzierung als auch in der Zeit danach für die Biografie- und Erinnerungsarbeit genutzt werden kann. Bei der MemoryBox handelt es sich um eine Web-App, welche es sowohl den Kindern und Jugendlichen als auch den Fachpersonen ermöglicht, Erinnerungen zu sammeln und langfristig zu speichern. Das Departement Soziale Arbeit befasst sich zunehmend mit der Frage wie digitale Medien in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit genutzt werden können. Mit der MemoryBox wird ein Beitrag geleistet den Umgang mit digitalen Technologien zu fördern und andererseits die Verwaltung von digitalen Erinnerungsstücken zu vereinfachen. Verschiedene Arten von Medien (Foto, Video, Audio) können direkt in die MemoryBox eingebunden werden.
Kindliche Bedürfnisse im Fokus
Mit der Entwicklung dieser Web-App begann die Zusammenarbeit zwischen den Departementen Soziale Arbeit und Technik und Informatik. Als erster Schritt wurden die notwendigen Anforderungen mit der Zielgruppe der Web-App besprochen: Was muss sie können und was wird von den Kindern und Jugendlichen sowie von den Fachpersonen erwartet? – bevor weitere konkrete Schritte der Entwicklung definiert werden konnten. Die Anforderungen wurden anschliessend destilliert, um diese in einfache Logik umwandeln zu können, damit diese technisch umgesetzt werden können. Da die Zielgruppe dieses Projektes primär aus Kindern und Jugendlichen besteht, hoben sich im Laufe der Entwicklung Besonderheiten heraus, welche bei sonstigen Projekten in der Applikationsentwicklung nicht dieselbe Aufmerksamkeit bekommen hätten. Diese Kinder und Jugendlichen wachsen ausserhalb ihrer Herkunftsfamilien auf. Es ergeben sich dadurch zusätzliche Fokuspunkte wie beispielsweise das Festhalten von Erinnerungen durch Fachpersonen (Sekundärnutzende), besondere Datenschutzvoraussetzungen in Institutionen oder Pflegefamilien sowie die Einflüsse von Verhaltens- oder Wahrnehmungsauffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen auf die Applikationsnutzung.
Nennenswert ist hier auch die Farbwahl der Bedienungselemente und die Animation von Elementen. Über ersteres wird üblicherweise im Sinne von «Wie kann unsere Web-App möglichst attraktiv aussehen und sich von andern abheben?» nachgedacht. Im vorliegenden Projekt gelangte diese Überlegung etwas in den Hintergrund und wurde von einem spezifischeren Gedanken ersetzt: «Wie können wir diese Applikation explizit für Kinder und Jugendliche attraktiv machen?». So wirkten auf die Farbwahl andere Einflüsse ein, wie etwa die Überlegung, dass Anwendungen für Kinder oftmals ein eher spielerisches Aussehen erhalten (zum Beispiel Kinderbücher, Kindersendungen).
Spezielle Optionen für Jugendliche
Allerdings wurde auch klar, dass eine rein für Kinder entworfene Web-App, Jugendliche nicht gleichermassen ansprechen würde und die Verwendung behindern könnte. Es wurden also zwei Ansichten entwickelt. Diese werden «Kinderansicht» (siehe im Hintergrund Abbildung 1) und «Jugendlichen Ansicht» genannt (siehe Abbildung 2).
Abbildung 1 Ein Kind testet die Applikation (Kinderansicht) | Abbildung 2 Die Startseite der Applikation (Jugendlichen Ansicht) |
In der Applikation wurden dazu kleinere Animationen verbaut, wie zum Beispiel ein animiertes Logo auf der Startseite oder ein bewegtes Hintergrundbild. Dies kann, besonders bei jungen Kindern oder Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, allerdings störend wirken, worauf uns Fachpersonen hinwiesen. Daher wurde die Möglichkeit eingebaut, diese Animationen an- und ausschalten zu können. Während den Praxis-Tests im Frühjahr 2022 wurden die Kinder und Jugendlichen unter anderem dann auch zu diesem Punkt und ihren Präferenzen befragt.
Über das Projekt
Während der ganzen Projektdauer bestanden ein Soundingboard mit drei Praxis-Kooperationen bestehend aus Fachpersonen des Fachbereich Kinder und Jugendliche von YOUVITA Schweiz, dem Aeschbacherhaus und dem Kompetenzzentrum Schlossmatt. Diese Vertretenden wiesen das Forschungsteam auf blinde Flecken in der Entwicklung der Web-App und eröffneten uns für die Tests der Web-App den Zugang zu den Kindern und Jugendlichen.
Dieses Projekt konnte dank der Unterstützung durch den BFH Call for Proposal durchgeführt werden. Dem Projektteam gehören die folgenden Personen an: Die Projektleiterinnen Prof. Dr. Mascha Kurpicz, Prof. Dr. Emanuela Chiapparini und Prof. Dr. Andrea Abraham, sowie die Projektmitarbeitenden Tomaso Leoni, Yalda Samim, Cynthia Steiner und Kevin Bitsch.
Referenzen
- Chapon, N. (2019). L’histoire de l’enfant confié : album de vie ou projet pour l’enfant ?. Empan, 3(3), 103-109. https://doi.org/10.3917/empa.115.0103
- Höfer, R., Sievi, Y., Straus, F., Teuber, K. (2017). Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf. Handlungsbefähigung und Wege in die Selbstständigkeit. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
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