Warum eine bessere Usability die digitale Welt sozial gerechter macht

Einfache, leicht zu bedienende Oberflächen sollten heute eine Selbstverständlichkeit sein. Doch immer noch steht zu oft die Maschinenlogik im Vordergrund und führt zu unnötigen Barrieren, kritisieren unsere Autoren. Sie wünschen sich mehr Wertschätzung für gelungene Benutzeroberflächen und damit auch einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit – ein Plädoyer.

Gute Usability bedeutet nicht nur Einfachheit bei der Bedienung eines Gerätes sondern auch Sicherheit. Wir müssen bei der Benutzung von Geräten auch mal unaufmerksam sein dürfen, nicht zuletzt deshalb weil unaufmerksam sein zutiefst menschlich ist (Lueg u. Twidale 2018). Wir Menschen lassen uns ablenken, wir regen uns auf, wir sind müde und abgespannt und wir sind sicherlich keine Roboter oder Vulkanier, die streng rational denkenden Ausserirdischen, die viele sicherlich aus Star Trek kennen. Die durchdachte Gestaltung eines Interfaces sollte uns deshalb davor bewahren, dass eine unbedachte Aktion gleich eine Katastrophe auslöst. Bei wesentlichen Schritten sollte das Interface noch einmal nachfragen und uns nach Möglichkeit auch noch die Gelegenheit geben, vielleicht unbedachte Schritte doch noch einmal zu überdenken und eventuell sogar zurückzunehmen.

Schlechte Bedienbarkeit führt zu Fehlern

Das alles wissen wir im Human Centered Design nun wirklich seit Jahrzehnten, und trotzdem müssen wir uns noch laufend mit Interfaces herumschlagen, die von uns erwarten, dass wir uns tunlichst an die implementierte Logik eines Interfaces halten bzw. die Denkweise des dahinter stehendenden Entwicklungsteams Schritt für Schritt nachvollziehen.

Als Forschende in der Informatik wundern wir uns seit langem darüber, dass gute Usability so wenig wertgeschätzt wird. Gute Usability ist zwar willkommen, aber nur selten eingefordert. Das ist schwer nachvollziehbar, denn mangelhafte Usability ist nicht nur lästig, sondern kostet erhebliche Zeit und vor allem auch Nerven. Ein Beispiel das einer der Autoren selbst erlebt hat ist ein Online Banking Interface, bei dem das Benutzen der Pfeiltasten zum Scrollen der Fensterinhalte auch dazu führen konnte, dass der zu dem Zeitpunkt nicht sichtbare Betrag einer durchzuführenden Überweisung verändert wurde (Lueg 2020). Solche Usability Probleme können leicht zu fehlerhaften Transaktionen mit schwerwiegenden Konsequenzen führen, die nur mit grossem Aufwand rückgängig gemacht werden können. Es bedeutet zudem auch einen Vertrauensverlust, weil man das Gefühl bekommt, alles doppelt und dreifach überprüfen zu müssen um Fehler aufgrund der unzureichenden Usability auszuschliessen.

Kund*innen erwarten Usability

Uns wundert die geringe Wertschätzung für gute Usability auch deshalb, weil sich die Erwartungen der Kundschaft in anderen Bereichen nachhaltig verändert haben. Aktive und passive Sicherheit von Kraftfahrzeugen etwa wird inzwischen nicht nur vermarktet sondern wird von Kund*innen erwartet und auch gefordert. Lebensmittel «Ampeln» werden ebenfalls gefordert und auch Herstellungsbedingungen und Umweltverträglichkeit von Produkten werden zunehmend angefragt und hinterfragt.

Angesichts dieses Wandels fragen wir uns schon, was es bräuchte, damit auch gute Usability die Beachtung bekommt, die sie verdient. Im Gegensatz etwa zu der aktiven und passiven Sicherheit von Automobilen, die von der Automobilindustrie grundsätzlich neue Entwürfe und Produktionsmethoden erforderte, bräuchte es nichts dergleichen für das Erreichen guter Usability. Vor allem im Software Bereich ist nun wirklich seit Jahrzehnten bekannt, worauf Entwicklerinnen und Entwickler achten müssen, damit gute Usability gewährleistet wird. Jakob Nielsens weithin bekannte «10 general principles for interaction design» (Nielsen 2010) wurden erstmals Anfang der 1990er Jahre also vor fast 30 Jahren veröffentlicht und selbst da waren die Prinzipien grundsätzlich bekannt, denn die «10 general principles» waren weniger eine Neuentwicklung als eine äusserst geschickte Zusammenfassung einer Vielzahl bereits etablierter Richtlinien und Best Practices.

Technikprobleme bei Vergabe der Impftermine

Vielleicht müssen wir als Informatikforschende auch noch stärker betonen, dass es bei guter Usability nicht nur um einfachere und sichere Benutzbarkeit geht, sondern auch um soziale Gerechtigkeit. Ein leider noch immer aktuelles Beispiel dafür ist die Art und Weise wie in der Schweiz und anderswo Termine für COVID-19 Impftermine vergeben wurden. Die Web Server der jeweiligen Behörden scheiterten innerhalb von Minuten bei der Bearbeitung der weithin erwarteten Flut von Terminanfragen (Lueg 2021). Das ist erst einmal ein technisches Versagen vermutlich aufgrund unterdimensionierter Ressourcen , aber es ist auch ein Usability Versagen, denn die Systeme scheiterten nicht «gracefully» wie wir in der Informatik sagen, also würdevoll, sondern sie fingen zudem noch an, unsinnige Fehlermeldungen zu produzieren wie etwa “502 bad gateway” and “Unexpected error while processing a request to the identity provider.” Solche Fehlermeldungen aus den Tiefen der Informatiksysteme sind zwar für Techniker bei der Schadensbehebung interessant, aber für sogenannte Endanwender sind sie irrelevant und können zudem zutiefst verwirrend sein. Informatik «Wissende» erkennen vielleicht, dass ein solches System in den letzten Zügen liegt und dass die Fehlermeldungen einfach ignoriert werden sollten, aber wie sollen Herr und Frau Schweizer bitte auf Meldungen wie “502 bad gateway” reagieren?

Interdisziplinär Denken und Nachhaltigkeit fördern

In einem kürzlich in der Fachzeitschrift Journal of the Association for Information Science and Technology veröffentlichten Artikel (Twidale, Nichols, Lueg 2021) haben wir uns detailliert mit diesen Fragestellungen auseinandergesetzt und auch noch darüber hinausgehend überlegt, wie wir das Bedürfnis nach besserer Usability noch nachhaltiger fördern können. Wir argumentieren u.a. dass gute Usability noch stärker in den Disziplinen jenseits der Informatik verankert werden muss. Letztlich sollte Usability in all den Disziplinen ein Thema werden, die im weitesten Sinne Interfaces erstellen oder auch nur benutzen. Und das praktisch alle Disziplinen!

Der bisherige Weg gute Usability über das Ausbilden insbesondere von Informatik Studierenden zu verbreiten scheint jedenfalls klar an seine Grenzen gestossen zu sein. Wir schlagen deshalb vor, dass das Aufzeigen von Usability Problemen akzeptabel werden muss in dem Sinne, dass es als üblich empfunden wird und nicht als Nörgeln missverstanden wird. Das Aufzeigen von Usability Problemen dient schlussendlich auch nicht nur dem eigenen Interesse sondern dürfte je nach System auch unzähligen anderen Anwenderinnen und Anwendern helfen. Das würde auch Herrn und Frau Schweizer helfen die Schuld bei nicht funktionierenden Impftermin Seiten nicht bei sich selbst zu suchen. Eine entsprechende Sprachregelung und unterstützende Infrastruktur (was ist das Problem, wann/wo beobachtet, wo melden) würde das Aufzeigen von Usability Problemen natürlich deutlich erleichtern.

Es braucht ein Label für Usability

Usability sollte ähnlich der Sicherheit bei Kraftfahrzeugen ein gesellschaftliches Anliegen werden das ähnlich wie bei Fair-Trade- oder Energieverbrauch-Zertifikaten als Kriterium beim Einkauf von Software und Geräten herangezogen wird. Unseren gesellschaftlich bewusst breit aufgestellten Ansatz zur allgemeinen Verbesserung der Usability von Software und Geräten nennen wir «Distributed Usability Activism».

Woran können wir erkennen, dass wir erfolgreich sind? Es gäbe sicherlich formale Kriterien, die man etablieren könnte, aber wir denken vor allem dass wir dann erfolgreich wären wenn Usability in Konsumenten Foren diskutiert wird und vielleicht sogar ein Pop Culture Thema wird. Usability Pain Kolumnen in den Tageszeitungen? Usability Fail Videos auf TikTok? Biggest Usability Fail auf Netflix? Oder wie wäre es mit UFI, Usability Fail Investigations? Und wir werden natürlich auch weiterhin mit Dozierenden arbeiten, deren «secret superpowers» darin bestehen, dass sie die Zahl der Usability-Aktivist*innen vergrössern mit jedem Studenten und jeder Studentin, die sie von dem Nutzen guter Usability überzeugen können.


References

  1. Lueg, C. (2020). Unleashing usability superpowers to make the world a better place. SocietyByte. First published online 31 Jan 2020. https://www.societybyte.swiss/2020/01/31/unleashing-usability-superpowers-to-make-the-world-a-better-place/
  2. Lueg, C. (2021). Allocating vaccination appointments: Why we should (and could) do better than digital Hunger Games. SocietyByte. First published online 4 June 2021 https://www.societybyte.swiss/en/2021/06/04/allocating-vaccination-appointments-why-we-should-and-could-do-better-than-digital-hunger-games/
  3. Lueg, C.P. and Twidale. M.B. (2018). Designing for humans not robots (or Vulcans). Library Trends. Special Issue «Information and the Body». Vol 66, No 4, Spring 2018, pp. 409- 421.
  4. Nielsen, J. (2010). 10 usability heuristics for user interface design https://www.nngroup.com/articles/ten-usability-heuristics/
  5. Twidale M.B., Nichols, D.M., Lueg, C.P. (2021). Everyone everywhere: A distributed and embedded paradigm for usability. Journal of the Association for Information Science and Technology, 72(10), 1272-1284.
Creative Commons Licence

AUTHOR: Christopher P. Lueg

Christopher Lueg ist Professor an der University of Illinois. Davor war er Professor für Medizininformatik an der BFH Technik & Informatik. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt von schlechten Benutzeroberflächen zu befreien. Er lehrt seit mehr als einem Jahrzehnt Human Centered Design und Interaction Design an Universitäten in der Schweiz, Australien und den USA.

AUTHOR: David Nichols

David Nichols ist außerordentlicher Professor für Informatik an der Universität von Waikato, Neuseeland. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Interaktion zwischen Mensch und Information, digitale Bibliotheken, Bibliotheks- und Informationswissenschaft und Benutzererfahrung.

AUTHOR: Michael Twidale

Michael Twidale ist Professor an der School of Information Sciences der University of Illinois in Urbana-Champaign und war Gründungsdirektor des Master of Science in Information Management. Seine Forschungsinteressen umfassen computergestützte kooperative Arbeit, computergestütztes kollaboratives Lernen, Mensch-Computer-Interaktion, suchbasierte technische Problemlösung, Benutzerfreundlichkeit und Sicherheit sowie Museumsinformatik.

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