Digitale Kompetenz = digital + analog – ein Definitionsbeispiel der Spitex

Digitale Werkzeuge wie Applikationen auf Smartphones/Tablets zur Pflegedokumentation oder zur Erinnerung an eine Medikamenteneinnahme sowie Wearables zur Erfassung und Auswertung von Gesundheitsdaten sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen unaufhaltsam voranschreitet (eHealth Suisse, 2018; Zentrum für Qualität in der Pflege [ZQP], 2019).

In aller Munde sind aktuell die Herausforderungen, die mit einer demografisch bedingten hohen Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen, dem zunehmend akut werdenden Fachkräftemangel und einer steigenden Prävalenz chronischer Erkrankungen einher gehen (Gigerenzer et al., 2016; ZQP, 2019). Für diese Herausforderungen gilt die digitale Transformation als eine unabdingbare Massnahme zur Bewältigung, damit trotzdem eine hohe und finanziell tragbare Versorgungsqualität ermöglicht werden kann (Bundesamt für Gesundheit [BAG], 2019; World Health Organization [WHO], 2019). Betroffen sind alle Versorgungssettings, d. h. Spitäler, Langzeitinstitutionen, Ambulatorien und Spitex. Die digitale Transformation verändert die Arbeits- und Denkweise und folglich das Kompetenzprofil der Gesundheitsfachpersonen. Konkret wird das hergebrachte Berufsbild durch technische Komponenten erweitert.

Was heisst das für Pflegefachpersonen des Spitexsettings? Es hat sich bereits gezeigt, dass Technologien eine intersektorale Vernetzung der Gesundheitsaktuer*innen begünstigen können und Spitexpflegende ebenfalls von der digitalen Verfügbarmachung der Kund*innenakten profitieren. Schlagworte sind hier u. a. Verfügbarkeit, Nachvollziehbarkeit oder datenbasierte Prozesssteuerung. Um eine sichere und effektive Anwendung unterschiedlicher Technologien zu ermöglichen, benötigen Spitexpflegende daher digitale Kompetenz (Müller, 2020).

In einer qualitativen Studie untersuchten wir was Pflegende der Spitex im direkten Kund*innenkontakt und in Führungsfunktion unter digitaler Kompetenz verstehen und erwarten. Es nahmen 22 Pflegende aus neun Spitexinstitutionen der Schweiz zwischen Oktober und Dezember 2020 an einem Interview oder einem Fokusgruppengespräch teil.

Digitale und analoge Fähigkeiten sind gefragt

Die Ergebnisse zeigen, dass Pflegende der Spitex die digitale Kompetenz in einem Spannungsfeld von individuellen Fähigkeiten und vom System geschaffener Voraussetzungen verorten. Nebst vielfältigen digitalen Aspekten sind aber immer auch analoge Kompetenz wie Beziehungsgestaltung, Kommunikation und Fachwissen untrennbar mit digitaler Kompetenz verbunden. Das heisst, dass im Umgang mit Technologie digitale und analoge Kompetenz nicht klar abgrenzbar sind und sich dadurch als ein Zusammenspiel verstehen. Dieses Zusammenspiel ist mit der Integration von Technologie in die Beziehungsgestaltung, Kommunikation und in dem Pflegeprozess nicht einfach und muss erlernt und trainiert werden. Beeinflussend darauf wirkt auch, dass die Kund:innen unterschiedlich digitalisiert sind und sie die Technologie je nach Einsatzbereich eher befürworten oder als hinderlich für die persönliche Interaktion mit den Pflegenden wahrnehmen. Daher sind Pflegende gefordert adäquate individuelle Antworten zu finden und Massnahmen umzusetzen.

Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung Angst auslösen kann. Diese Angst wird verursacht von der Befürchtung etwas falsch zu machen, ohne es rückgängig machen zu können. Zudem entsteht Angst beim sich unsicher im Umgang mit Technologien oder neu digitalisierten Prozessen zu fühlen. Hier fordern die Studienteilnehmenden eine zeitnahe, individuelle und schrittweise Einführung in neue digitale Anwendungen. Weiter empfehlen die Teilnehmenden, dass Schulungen über die Handhabung mit einer spezifischen Technologie hinausgehen, um ein umfassendes Verständnis für neue Denk- und Vorgehensweisen zu vermitteln, denn:

«Wenn ich selbst nicht ganz zurechtkomme mit der Elektronik, bin ich selbst so beschäftigt, dass ich das Gegenüber zu wenig wahrnehmen kann. Die Sozialkompetenz kann ich dann weniger wahrnehmen. Und das fände ich schade, wenn das so weit kommen würde.» (Fokusgruppe 1, Dipl. Pflegefachfrau)

Dieses Zitat zeigt treffend auf, dass Pflegende vom digitalen Wandel auch menschliche Lösungen erwarten, wobei der sozialen Interaktion im Rahmen des digitalen Kompetenzprofils eine Sonderstellung eingeräumt wird: Die digitale Pflege benötigt analoge Interaktionen. Pflegende fordern für die Praxis «massgeschneiderte» Technologien, die als Ergänzung zum Alltag zu verstehen sind und nicht Ersatz der persönlichen Interaktion zwischen pflegender und gepflegter Person sind, das Herzstück der Pflege.

Es braucht Vorbilder und Support

Ebenfalls fordern die Teilnehmenden zur Entwicklung und Vertiefung ihrer digitalen Kompetenz eine kompetente Anlaufstelle; denn Versiertheit und Vorbildfunktion, geprägt von einem spürbaren Willen zur Veränderung von Managementpersonen, vermitteln Sicherheit. Der konkrete Nutzen der Technologien für den Pflegealltag soll aufgezeigt werden. Obwohl von den Managementpersonen nicht erwartet wird, dass sie jederzeit den Stand der digitalen Kompetenz der einzelnen Mitarbeitenden kennen, sollten sie sich doch bei Bedarf aktiv darüber informieren, um einzelne Pflegende individuell fördern zu können.

Andererseits appellierten die teilnehmenden Managementpersonen an eine ausgeprägte Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Pflegenden hinsichtlich Entwicklung und Nutzung ihrer digitalen Kompetenz. Dies ist ihnen wichtig, da sie im Spitexalltag unterwegs auf sich allein gestellt sind und keine ständige Austauschmöglichkeit haben, wie es bei «Vor-Ort-Teams», z.B. im Spital, der Fall ist. Ebenso fordern sie von ihren Mitarbeitenden, dass sie sich offen und motiviert gegenüber (digitalen) Neuerungen zeigen und sich auch kollegial im Team unterstützen, da die alleinige Unterstützungsmöglichkeit einer Institution nicht ausreichend sein kann.

Ein weiteres Ergebnis zeigt, dass sowohl die Pflegenden im täglichen direkten Kunden:innen Kontakt sowie Pflegende mit Führungsfunktion eine aktive Mitsprache und Mitgestaltung des digitalen Wandels möchten, damit sich die digitalen Angebote trotz ihrer raschen Weiterentwicklung am effektiven Bedarf der Pflege orientieren können. Insbesondere den IT-Fachleuten gegenüber sollen und möchten Pflegende mitteilen können, was benötigt wird. Denn nicht alles, was technisch möglich ist, lässt sich auch ethisch vertreten oder ist aus der Pflegeperspektive sinnvoll. Nur so ist gemäss den Studienteilnehmenden eine Entwicklung und Alltagsintegration von leicht verständlichen, unkompliziert zu bedienenden und praktikablen Pflegetechnologien möglich.

Fazit und Ausblick

Diese qualitative Studie zeigt auf, dass die befragten Pflegenden die digitale Kompetenz nicht als ein isoliertes Konzept verstehen, in welchem es primär um technische Fertigkeiten geht. Sie verstehen digitale Kompetenz stark mit analoger Kompetenz wie Beziehungsgestaltung und Kommunikation gekoppelt. Die «richtige» Kombination von technischen Fertigkeiten und analoger Kompetenz scheint der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Es ist aber noch unklar, was unter der «richtigen» Kombination zu verstehen ist. Auch die aktuelle Forschungslage zeigt, dass die digitale Kompetenz in der Pflege bislang nicht eindeutig identifiziert ist, sondern lediglich auf die Technikbereitschaft der ambulanten Pflegenden verweist (Hülsken-Gieser et al., 2019). Es gilt also, die digitale Kompetenz in der Pflege praxisrelevant zu konkretisieren.

Damit Pflegende sich digitale Kompetenz aneignen können, d. h. digitale Aufgaben ausführen, Probleme lösen, Informationen verwalten und Inhalte erstellen oder diese effektiv und effizient nutzen, kommt der Pflegebildung eine zentrale Bedeutung zu. Über die Organisationsstruktur hinaus wäre es wünschenswert, wenn die Auseinandersetzung mit Technologien zu einem festen curricularen Bestandteil der Ausbildung wird – so könnte das Technologie- und Digitalisierungspotenzial umfassend ausgeschöpft werden und Pflegende könnten effektiv auf die Dynamik der digitalen Anforderungen im Pflegeumfeld vorbereitet werden.

In einer zukunftsorientierten Pflege sind die Pflegenden selbst gefordert ihre Tätigkeit auf ein technologisiertes und digitalisiertes Arbeitsumfeld auszulegen – es werden Kompetenzen und Fertigkeiten benötigt, die es erlauben, gleichzeitig zu einem Prozess oder einer Tätigkeit gehörende digitale und analoge Anforderungen simultan zu entwickeln und anzuwenden.


Literatur

  1. Boll-Westermann, S., Hein, A., Heuten, W., & Krahn T. (2019). Pflege 2050 – Wie die technologische Zukunft der Pflege aussehen könnte. In Zentrum für Qualität in der Pflege [ZQP] (Hrsg.), Pflege und digitale Technik (S. 10-15). ZQP. https://www.zqp.de/produkt/report-digitale-technik/
  2. Bundesamt für Gesundheit [BAG]. (2019). Die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020-2030. Schweizerische Eidgenossenschaft. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/gesundheit-2030/gesundheitspolitische-strategie-2030.html
  3. Eggert, S., Sulmann, D., & Teubner, C. (2019). ZQP-Analyse – Wie die Einstellung der Bevölkerung zu digitalen und technischen Anwendungen in der Pflege ist. In Zentrum für Qualität in der Pflege [ZQP] Report (Hrsg.), Pflege und digitale Technik (S. 16-30). ZQP. https://www.zqp.de/produkt/report-digitale-technik/
  4. eHealth Suisse. (2018). Strategie eHealth Schweiz 2.0. 2018-2022. Ziele und Mass-nahmen von Bund und Kantonen zur Verbreitung des elektronischen Patienten-dossiers sowie zur Koordination der Digitalisierung rund um das elektronische Patientendossier. https://www.e-health-suisse.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/2018/D/181214_Strategie-eHealth-Suisse-2.0_d.pdf
  5. Gigerenzer, G., Schlegel-Matthies, K., & Wagner, G. G. (2016). Digitale Welt und Ge-sundheit. eHealth und mHealth – Chancen und Risiken der Digitalisierung im Ge-sundheitsbereich. In Sachverständigenrat für Verbraucherfragen [SVRV] (Hrsg.), Digitalisierung im Gesundheitsbereich – Wie verändert sich der Gesundheitssek-tor? (S.12-17). SVRV.
  6. Hülsken-Giesler, M., Daxberger, S., Peters, M., & Wirth, L. M. (2019). Technikbereitschaft in der ambulanten Pflege. Pflege, 32(6), 334-342. https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000702
  7. Müller, J. (2020). DIGITALISIERUNG. So holen Sie Ihr Team ins Boot. kma-Klinik Management aktuell, 25(01/02), 54-55.
  8. World Health Organization [WHO]. (2019). Global Strategy on Digital Health 2020-2024. https://cdn.who.int/media/docs/default-source/documents/gs4dhdaa2a9f352b0445bafbc79ca799dce4d.pdf?sfvrsn=f112ede5_75
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AUTHOR: Anouk Haldemann

Anouk Haldemann ist diplomierte Pflegefachfrau und war wissenschaftliche Assistentin am Departement Gesundheit der BFH.

AUTHOR: Sabine Hahn

Prof. Dr. Sabine Hahn ist diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin und leitet die Abteilung Pflege und die Abteilung Forschung & Entwicklung Pflege an der BFH Gesundheit. Sie forscht in den Bereichen Qualitätsindikatoren und Qualitätsentwicklung, Personalkompetenzen und Service User Involvement, Psychosoziale Gesundheit sowie Technologie und Gesundheit. Sie ist zudem Schwerpunktverantwortliche Gesundheitsversorgung & E-Health am BFH-Zentrum Digital Society.

AUTHOR: Friederike J. S. Thilo

Prof. Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld "Digitale Gesundheit", aF&E Pflege, BFH Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Design Zusammenarbeit Mensch und Maschine; Technologieakzeptanz; need-driven Entwicklung, Testung und Evaluation Technologien im Kontext Gesundheit/Krankheit; datenbasierte Pflege (Künstliche Intelligenz).

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