Über die Zukunft des digitalen «Service Public»

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Der Begriff «Service Public» oder die «Digitale Daseinsvorsorge», wird als politisches, verwaltungsrechtliches und sozialwissenschaftliches Konzept verwendet. Was er bedeutet, ist vor allem im politischen Diskurs umstritten. Gemeinhin wird darunter so etwas wie infrastrukturelle Grundversorgung verstanden, wobei es aber keinen Konsens gibt, welche Teile des öffentlichen Sektors dieser zugeordnet werden sollen. In der Schweiz werden beispielsweise Bildung, Gesundheitswesen und Nationalbank dem «Service Public» nicht zugerechnet.

Offensichtlich hat die digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft die Erwartungen an die Grundversorgung bei vielen verändert. Diese Veränderungen sind bei den meisten ideologischen Gruppierungen beobachtbar, nur gehen sie jeweils in unterschiedliche Richtungen. Teils wird eine Ausweitung gefordert, teils wird mit Verweis auf die digitale Transformation aber auch der Abbau der existierenden Grundversorgung gefordert. Allerdings existieren kaum konsistenten Vorstellungen. Selbst bei jenen, die einst aus ideologischen Gründen eine klare Perspektive vertraten, erodieren diese oft. Erratische Überzeugungen in scheinbar homogenen Gruppen sind ebenso charakteristisch wie konsequente Haltungen in sehr widersprüchlich und heterogen zusammengesetzten Koalitionen, während weitreichend konsistente Perspektiven Seltenheitswert haben.

Haltungen sind heterogen

Viele Mitglieder diverser Distributed-Ledger-Communities wollen beispielsweise Teile der Grundversorgung, wie die Bereitstellung von Geld oder digitalen Vertrauensankern, der nationalen demokratischen Kontrolle entziehen und einer Art internationalen Anteilseigner-Demokratie überantworten, welche Rechtsgrundlagen durch Programmiermodelle ersetzt. Das hat oft ungewöhnliche Konsequenzen zur Folge: Diebstahl ist nicht mehr verboten, sondern kostet nur viel mehr als er einbringt. Neoliberalismus 2.0, dessen Axiom es ist, dass die Herrschaft der Technologie besser ist als die Herrschaft des Rechts, weil letztere sich durch Institutionen manifestiert. Allerdings besitzen viele europäischen Mitglieder der Distributed Ledger Communities gleichzeitig auch völlig traditionelle ideologische Überzeugungen und formulieren entsprechende Forderungen an den Service Public, sei es in Richtung «mehr Staat» oder umgekehrt in Richtung «Nachtwächterstaat».

 

Grundversorgung wird für die grosse Mehrheit der Bevölkerung als gemeinschaftsstiftend und Stützung der existierenden gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen.

 

In establishmentkritischen Communities mischen sich häufig sehr verschiedene Ansichten, Argumentationslinien und Bevölkerungsteile bis zur Beliebigkeit, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung ist. In Bezug auf die Grundversorgung resultiert daraus bei aller Heterogenität der Haltungen eine konsequente Ablehnung, weil Grundversorgung als für die grosse Mehrheit der Bevölkerung gemeinschaftsstiftend und Stützung der existierenden gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen wird, die man ablehnt.

Bei jenen wiederum, welche der real existierenden Demokratie positiv gegenüberstehen – also (noch) der Mehrheit der Bevölkerung – ist zu beobachten, dass sich bei digitalen Themen oft Koalitionen quer zu ideologischen Haltungen bilden, respektive die Gräben durch die ideologischen Lager verlaufen. Politische Auseinandersetzungen zu digitalen Themen verwenden zwar meist das konventionelle politische Vokabular, verlaufen aber anders als jene zu nichtdigitalen Themen. Beispielsweise gibt es sowohl Zustimmung zu als auch Widerstand gegen mehr Transparenz von links und von liberaler Seite, wobei die verwendeten Argumente aber jeweils dem entsprechen, was man von linker oder liberaler Seite erwarten würde.

Das Recht auf Teilhabe für alle

Angesichts der unübersichtlichen Gemengelage macht es Sinn, Überlegungen zum digitalen Service Public mit einer gänzlich neuen Auslegeordnung zu beginnen, welche idealerweise bei unterschiedlich starken Annahmen funktioniert. Wenn wir uns auf einen westlichen oder einen mitteleuropäischen Standpunkt stellen ist ein möglicher Ausgangspunkt die Definition, dass es Aufgabe des «Service Public» ist, ein gutes Funktionieren des öffentlichen Lebens zu unterstützen, das insbesondere allen Akteur*innenn eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Teilhabe hat dabei den Aspekt des Anrechts wie den Aspekt der Chance für andere, ohne dass beide Aspekte gekoppelt wären. Das Recht auf Teilhabe existiert unabhängig von der Chance für andere und die Chance existiert unabhängig vom Recht. Wenn überhaupt, ist die Existenz des Rechts auf Teilhabe eine Chance für die Gesellschaft als Ganzes. Zu den Akteur*innen zählen im Fall natürliche Personen, Unternehmen (unnatürliche Personen) und überhaupt alle Arten von Gemeinschaften.

Überraschen mag hier der Aspekt der Chance. Er liegt einerseits in der resultierenden Ressourcensparsamkeit begründet – wir können den Aufwand für den Ausschluss anderer auf die Justiz beschränken – und anderseits in dem gesteigerten Kollaborationspotential. Darüber hinaus zeigt er sich auch in ökonomischen Überlegungen: Wirtschaftliches Wachstum ist ohne Teilhabe aller schwierig.

2 Definitionen für ein neues Konzept

Ausgehend von obiger Definition gibt es zwei unterschiedliche Entwicklungen eines solchen neuen Service Public Konzepts:

  1. Wir können einerseits über zusätzlich wünschenswerte Eigenschaften des öffentlichen Sektors nachdenken oder wir können die Teilhabe an sich weiterdenken, das heisst uns ganz auf die individuellen Akteur*innen und ihre Wechselwirkungen konzentrieren.
  2. Wir folgen hier dem zweiten Pfad: Was ist notwendig für eine Teilhabe? Welche «Qualität(en)» solle die Teilhabe besitzen? Welchen Herausforderungen stehen die Akteur*innen gegenüber, wenn sie teilhaben wollen? Mögliche Antworten auf letztere Frage sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
  • Die Informationswelt zeichnet sich durch hohe Vielfalt, eine wachsende Ambiguität und eine grundsätzliche Erosion der Vertrauenswürdigkeit aus.
  • Die Nutzung des Internets bietet vielfältige Gefahren, gegen die individueller Selbstschutz nur selten ausreichend ist.
  • Eine Kontrolle der eigenen Datenspuren im Netz ist fast unmöglich. Die Nutzung und die Verfälschung von auf die eigene Person bezogenen Daten ist kaum verhinderbar.
  • In vielen Situationen erweist sich die Unmöglichkeit, auf Daten über die eigene Person oder auf selbstproduzierte Daten zuzugreifen, als schwerwiegender Nachteil.
  • Im Kontext von Transaktionen benötigt Vertrauen Werkzeuge und eine eigene Infrastruktur, welche gegenseitige Vertrauenswürdigkeit herstellen.
  • Viele Chancen moderner Technologien könne ohne hohes Wissen und Knowhow gar nicht oder nur mit hohen Risiken genutzt werden.
  • Gerade einfach teilbare Ressourcen – wie Daten, Algorithmen, Netzwerke – führen zu grossen Ungleichheiten, weil die einen sie besitzen und die anderen nicht. Das Haben dieser Ressourcen prägt oft das individuelle Sein.
  • Die Verfügungsgewalt über Daten in den Händen einzelner Akteur*innen gibt diesen wirtschaftliche oder/und politische Macht, während die Nutzung der Daten für das Gemeinwohl der Gesellschaft als Ganzes grossen Nutzen bringen würde.
  • Das Schaffen von freien Zugriffsmöglichkeiten auf Daten erhöht tendenziell die Ungleichheit in der Gesellschaft, weil die Ressourcen für die Datenbewirtschaftung ungleich verteilt sind.
  • Nicht-staatliche Akteur*innen – wie die Betreiber marktgleicher Plattformen – verfügen über quasi-regulatorische und quasi-exekutive Macht. Teilweise wird ihnen diese sogar durch staatliche oder suprastaatliche Regulierung indirekt übertragen.
  • Traditionelle politische Grenzen verlieren ihre Bedeutung, während gleichzeitig datenbasiert informelle und implizite wirtschaftliche Grenzen entstehen.
  • Neben oder anstelle der lokalen Abhängigkeiten entstehen infolge von Vernetzung – oft Kontingente bzw. globale Abhängigkeiten.
  • In vielen Bereichen verlangt Fortschritt zum individuellen Wohle eine explizite Kooperation grosser Teile der Gesellschaft, seien es Menschen oder Unternehmen.
  • In vielen Kontexten schwinden ohne individuelle Aneignung digitaler Werkzeuge und Dienste die individuellen Chancen einzelner Gruppen (beispielsweise Fachdisziplinen), während sie mit erfolgreicher Aneignung im Gegenteil steigen.
  • Der Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft wird geprägt durch viele Trends, zu denen gleichzeitig im Wesentlichen entgegengesetzte Trends ebenfalls präsent sind.
  • Einerseits nimmt die Prognostizierbarkeit der Zukunft dank verfügbarer Daten zu, anderseits wächst die Kontingenz von Entwicklungen und in vielen Bereichen sind keine mittelfristigen Prognosen mehr möglich.
  • Die befähigende Wirkung des digitalen Fortschritts für alle Akteur*innen schafft Veränderungsdruck für viele Akteur*innen. Veränderung wird zur Voraussetzung von Stabilität.

Es braucht Digital Skills

Ein gefühltes «Weiter wie bisher» ist nur bedingt möglich und setzt oft eigene Veränderung und die Veränderungen anderer voraus. Aufgabe des Service Public ist es, Menschen, Unternehmen und Gruppen dabei zu unterstützen, diese Herausforderungen einfach und sicher zu bewältigen, so sie dies wollen. Dabei ist es grundsätzlich nicht möglich, die Akteur*innen vor dem Veränderungsdruck zu schützen.

Studiert man die aufgelisteten Herausforderungen, so wird schnell klar, dass der zukünftige «Service Public» nur dann seine erwünschte Wirkung erzielen kann, wenn die Schulbildung die Menschen zu seiner Nutzung befähigt und dabei explizit neue digitale Fertigkeiten vermittelt, die bislang nur ansatzweise oder gar nicht unterrichtet wurden. Damit ist auch klar, dass es praktische Möglichkeiten zur Weiterbildung braucht.

Eine etwas vertiefte Analyse und insbesondere der Blick auf mögliche Lösungsansätze zeigt weiter, dass es viele Fallstricke bei der Umsetzung gibt. Vieles scheitert daran, dass nie geklärt wird, worum es geht. Beispielsweise gingen viele Befürworter des 2021 an der Urne abgelehnten Schweizer eID-Gesetzes davon aus, dass es keine Lösung für E-Government sein solle, obwohl die eID ein Teil des Schweizer E-Government Programms war. Gleichzeitig wurde die eID als EU-kompatibler Login-Dienst verkauft, obwohl die EU eIDs nicht akzeptiert, welche Single-Sign-Ons ermögliche. Ähnliches ist in anderen Ländern im Fall von Patientendossiers beobachtbar: Es bleibt unklar, ob sie Diagnose und Therapie verbessern sollen oder der Kontrolle der Ärzt*innen dienen. Et cetera.

Daraus lässt sich ableiten, dass eine digitale Grundversorgung in vielen Bereichen nur dann funktioniert, wenn sie eine klare Begriffs- und Zielklärung beinhaltet. Diese ist ein notwendiger Teil des digitalen Service Public, auf den man keinesfalls verzichten darf, auch wenn diffuse Konzepte vielleicht die politische Akzeptanz erhöhen.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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