«Nicht die Mädchen müssen sich ändern, wir alle!»- Alain Gut im Interview, Teil 1

Wie wirkt die Digitalisierung auf Frauen und Männer? Bringt sie die Chance, bestehende geschlechterspezifische Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen? Darüber sprechen wir im Interview mit Alain Gut, verantwortlich für Public Affairs bei IBM Schweiz.

Bei der Durchsicht zahlreicher Berichte und Strategien von Forschungsinstituten aber auch des Bundes fällt vorab auf: Die Geschlechterperspektive fliesst selten in die Analysen zur Digitalisierung ein. Jedoch basiert die voranschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft auf digitalen Innovationen. Diese werden in der Informatik entwickelt und produziert. Mit einem Anteil von 15 Prozent sind Frauen heute in der Informatik massiv untervertreten. Das war nicht immer so: ihr Anteil ist seit den 1980er Jahren gesunken und stagniert seit 2000 (vgl. Positionspapier ICT Switzerland 2020). Heute wird die Informatiktechnologie (IT) von einer relativ homogenen Berufsgruppe gestaltet.

Gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO gibt es bei den meisten Informatikberufen deutliche Anzeichen für einen ungedeckten Fachkräftebedarf. Vor allem die vielen offenen Stellen bei gleichzeitig tiefer Arbeitslosigkeit und die starke Abhängigkeit von kürzlich zugewanderten ausländischen Arbeitskräften deuten darauf hin, dass die Fachkräftenachfrage nur schwierig zu decken ist. Hohe Qualifikationsanforderungen – und damit einhergehend eine vergleichsweise hohe Spezifizität der Informatikberufe – erschweren die Suche nach entsprechend qualifizierten Fachkräften zusätzlich.

Mehr Frauen für ICT Bereiche zu befähigen, ermutigen und zu begeistern, diesem Thema nimmt sich auch die IBM Schweiz seit Jahren an. Insbesondere Alain Gut engagiert sich mit viel Engagement seit Jahren für mehr Frauen in ICT Bereichen. Wir haben mit ihm gesprochen.

Alain Gut engagiert sich für mehr Frauen in ICT-Berufen.

Herr Gut, Sie sind als Direktor verantwortlich für Public Affairs bei IBM Schweiz. Das Thema mehr Frauen in ICT bewegt Sie auch auf persönlicher Ebenen. Wie viel Spielraum haben Sie bei der IBM – dieses «gesellschaftliche Problem» zu platzieren?

Bei IBM tragen Frauen schon fast so lange zum Fortschritt der Informationstechnologie bei, wie es das Unternehmen gibt. Während viele Unternehmen ihre Förderprogramme stolz auf die 1970er Jahre datieren, hat IBM seit den 1930er Jahren weibliche Mitarbeiter integriert. Das Fördern von Mitarbeiterinnen liegt somit in der DNA des Unternehmens. Die IBM Schweiz gibt es seit 1927 und seit dann ist man in der Rekrutierung und bei der Förderung der Mitarbeitenden bestrebt, Diversität sicher zu stellen. Der Fokus liegt auf der Suche nach Expertinnen oder nach Hochschulabsolventinnen.  Ich setze mich regelmässig mit den Mitarbeitenden der HR-Abteilung dazu auseinander und dokumentiere sie mit den Positionspapieren und Erkenntnissen aus meiner Verbandstätigkeit. Da ich auch im Vorstand der ICT-Berufsbildung bin, habe ich einen regelmässigen Kontakt mit den Verantwortlichen der Lernenden. Auch hier leistet die IBM Schweiz seit Jahrzehnten aktiv ihren Beitrag zum erfolgreichen dualen Bildungssystem der Schweiz. Wir melden häufig auch IBM-Mitarbeiterinnen als «role models» für diverse Initiativen.

Die Frage ist oft «wie» können wir mehr Frauen in MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik)-Berufe holen und gar nicht mehr «warum». Denken Sie, die Gesellschaft ist sich der wirklichen «Warum»-Frage überhaupt schon bewusst?

Die Gesellschaft ist sich meiner Meinung nach nicht bewusst, warum es Frauen in den MINT-Berufen braucht. Die Geschlechtersegregation im Beruf ist in der Schweiz im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gemäss einer Studie der Universität Basel stark ausgeprägt. Das heisst, Frauen arbeiten überwiegend in frauentypischen, Männer in männertypischen Berufen. Die Geschlechtersegregation ist aber aus mehreren Gründen problematisch: Frauentypische Berufe – beispielsweise Pflege oder Kindererziehung – haben einen geringen gesellschaftlichen Status, bieten kaum Aufstiegschancen und werden niedriger entlöhnt. Ferner geht der Gesellschaft und der Wirtschaft ein grosses Potenzial verloren, wenn junge Erwachsene ausschliesslich geschlechtstypische Berufe erlernen und damit ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten. Umgekehrt würden stark vergeschlechtlichte Berufsfelder wie etwa der Informatik- oder Pflegeberufe, die unter einem Fachkräftemangel leiden, von einer Aufweichung der Segregation profitieren. Es ist absolut notwendig, dass Schlüsseltechnologien wie auch innovative Produktentwicklungen von durchmischten Belegschaften konzipiert werden. Eine einseitige Perspektive stellt ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Risiko dar.

Sie sind seit Jahren auch ausserhalb ihrer Position in verschiedenen Verbänden zu diesem Thema unterwegs, hat sich aus ihrer Sicht über die Jahre «etwas» verändert? Im Positionspapier der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen Die Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten heisst es sogar, der Frauenanteil in der Informatik sei seit den 1980er Jahren wieder gesunken und stagniert seit 2000. Glauben sie die Ursache hierzu könnte eine gesellschaftlich kulturelle sein?

In den Branchen, die mit der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen und in denen MINT-Disziplinen gefragt sind, sind Frauen nach wie vor stark untervertreten. Die Zahlen zeigen ein düsteres Bild. Beispielsweise sind Frauen bei den Informatikausbildungen in der Schweiz kontinuierlich unterrepräsentiert. Seit rund zwanzig Jahren entfallen in diesem Bereich lediglich 11 bis 12% der Abschlüsse auf Frauen. Eigentlich wissen wir das alle schon lange und versuchen deshalb seit Jahren, Mädchen für die MINT-Fächer zu begeistern. Auf der SATW-Webseite sind fast 600 MINT-Angebote aufgeführt, viele davon explizit für Mädchen. Und viele dieser Initiativen haben die gleichen Probleme. Sie beruhen auf Ehrenamtlichkeit, suchen mehr oder weniger verzweifelt finanzielle Mittel, es fehlt die Nachhaltigkeit und sie sind von Enthusiast*innen abhängig. Viele Konferenzen und Anlässe widmen sich dem Thema. Journalist*innen, Fachleute, Wissenschaftler*innen schreiben Artikel um Artikel, Studie um Studie. Was bedeutet dies nun für alle Anstrengungen, Mädchen in MINT-Fächer zu bringen? Aufhören? Kräfte bündeln? Koedukation abschaffen, da viele Initiativen beweisen, dass Mädchen getrennt von Knaben sehr erfolgreich in MINT-Fächern sind? Wahrscheinlich besser nicht, vielleicht wären dann die Resultate noch schlechter.

Wird die obligatorische Informatik in der Volksschule und im Gymnasium das Problem lösen?

In den nächsten Jahren wohl kaum. Meine Lösungsvorschläge sind: Gendergerecht unterrichten, Segregation aufweichen und das Selbstbewusstsein der Mädchen stärken. Um junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, braucht es nicht nur (weibliche) Vorbilder, sondern vor allem ein Umdenken. In der Familie, in der Schule, in den Pädagogischen Hochschulen, in der Berufsberatung und vor allem in der Bildungspolitik! Wir können somit folgendes Fazit ziehen: Nicht die Mädchen müssen sich ändern. Wir alle!

Wir haben über weitere Hauptursachen gesprochen, warum weniger Frauen eine ICT Laufbahn angehen. Sie hatten benannt, dass Mathematik schon im Kindesalter ein wichtiger Faktor sein kann. Was würde sie im Lehrplan von Mathematik ändern, damit sich mehr Mädchen für MINT Fächer interessieren?

Sehr wichtig ist ein gendergerechter Unterricht nicht nur in der Informatik, sondern vor allem in der Mathematik, so dass beide Geschlechter die gleichen Voraussetzungen haben. Eine von Prof. Stefan Wolter von der Universität Bern durchgeführte Studie hat aufgezeigt, dass der heutige Mathematikunterricht auf einem sehr starken Konkurrenzdenken aufbaut, das Knaben, die sich gerne mit anderen messen, viel mehr liegt. Mädchen dagegen mögen dies in der Regel weniger und verlieren deswegen oft den Anschluss im Unterricht. In einer aktuellen Studie von Michela Carlana von der Harvard Kennedy School wurde untersucht, wie stark Lehrpersonen unbewusst Mädchen mit Literatur und Buben mit Mathematik verbinden. Wird angenommen, dass Mädchen in Mathematik weniger talentiert sind als Buben, sind die Mädchen am Ende der Schulzeit tatsächlich schlechter in Mathematik als die Schülerinnen, die von einer Lehrperson ohne Vorurteile unterrichtet wurden.

Also legen die Volksschulen bereits den Grundstein?

Die Bedeutung der Mathematik als Voraussetzung für ein Interesse an Informatik hat jedenfalls auch die Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schule in den Beruf» aus dem Jahr 2019 klar aufgezeigt. Jugendliche, die hohe Leistungen in Mathematik am Ende der Sekundarstufe I erzielen, entscheiden sich eher für einen MINT-Beruf als solche mit geringeren Leistungen. Auch höhere kognitive Fähigkeiten und bessere Deutschleistungen hängen mit der Wahl eines Berufs im MINT-Bereich zusammen, auch wenn sie im Vergleich zu den Leistungen in Mathematik weniger relevant sind. Das Ziel der Volksschule muss deshalb die Förderung der Gleichstellung von Frau und Mann, von Mädchen und Buben sein. Sie hat somit einen pädagogischen Auftrag, damit die Chancengleichheit beider Geschlechter garantiert werden kann. Die Pädagogischen Hochschulen und die Erziehungs- und Bildungsdepartemente der Kantone sind hier in der Pflicht, in der Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen die dafür notwendigen Konzepte und Massnahmen zu entwickeln und umzusetzen.


Der 2. Teil des Interviews erscheint in Kürze.


Zur Person

Dr. Alain Gut ist seit Januar 2019 Director Public Affairs bei IBM Schweiz. Davor war er sieben Jahre für den Public Sector und drei Jahre als Mitglied der Geschäftsleitung für das Software-Geschäft in der Schweiz und Österreich verantwortlich. Frühere Arbeitgeber waren u.a. Tata Consultancy Services, Microsoft Schweiz und die UBS. Alain Gut hat an der Universität Zürich Wirtschaftsinformatik studiert und promoviert. Er setzt sich in zahlreichen Kommissionen und Gremien vor allem für das Thema Informatik in der Bildung, aber auch für Cyber Security, Mobilität und Datenpolitik ein. Seit Beginn des Jahres ist IBM Schweiz Partner des Instituts Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft.


So engagiert sich die BFH

Die Berner Fachhochschule BFH fördert bei Kindern und Jugendlichen die Faszination für Technik und Informatik. Dazu organisieren wir zahlreiche Anlässe und engagieren uns in Projekten. Eine Übersicht darüber finden Sie hier.

Konkret bietet wir mit dem Teclab in Burgdorf das coders_lab an, bei dem Mädchen und junge Frauen kostenlos die Möglichkeit haben, verschiedene ICT-Themen zu entdecken, erste Schritte im Programmieren zu machen sowie weibliche Rollenvorbilder kennenzulernen. Unser Ziel ist es, dass Mädchen ICT-Berufe und -Ausbildungen als echte Option betrachten.

Dazu finden regelmässig Workshops statt, die nächsten bereits am 13. und 20. November. Am 13. November lernen die Mädchen verschiedene Arten von Hackerinnen kennen und gehen selbst auf Spurensuche, indem sie Nachrichten entschlüsseln und sich als Hackerin im Internet versuchen. Am 20. November dreht sich alles um Codes. Die Mädchen erfahren, wie ein QR-Code funktioniert und programmieren einen Arduino. Weitere Workshops sind in Arbeit und sind für Anfang 2022 geplant. Alle Informationen und die Anmeldung finden Sie hier.

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AUTHOR: Jasmine Streich

Jasmine Streich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Public Sector Transformation des Departements Wirtschaft der Berner Fachhochschule. In ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich mit digitaler Barrierefreiheit und der Transformation des öffentlichen Sektors.

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