Neuer Standard erleichtert es, Barrieren im Internet zu vermeiden
Die Digitalisierung könnte Menschen mit einer Behinderung zu mehr Autonomie verhelfen. Viele E-Services sind allerdings noch nicht barrierefrei. Um dies zu ändern, brauche es Anreize, Sensibilisierung, Standards und Verbesserungen in der Ausbildung, war man sich an der nationalen Online-Fachtagung E-Accessibility einig.
Übers Internet einzukaufen, Bankgeschäfte zu tätigen oder Behördengänge zu erledigen, gehört für viele zum Alltag. Die Coronakrise hat die Nachfrage nach digitalen Dienstleistungen zusätzlich erhöht. Menschen mit einer Behinderung können jedoch nur einen Bruchteil der Angebote nutzen. Sie stossen auf teilweise unüberwindbare Hindernisse. «Viele Betreiber sind sich dessen nicht bewusst», sagte Sylvia Winkelmann-Ackermann, Geschäftsführerin der Stiftung «Zugang für alle», kürzlich an der Online-Fachtagung E-Accessibility. Wie sie anhand einer aktuellen Studie ausführte, ist nur ein Viertel der umsatz- und transaktionsstärksten Onlineshops gut bis sehr gut zugänglich. 17 von 41 untersuchten Websites sind nur zum Teil bedienbar. 14 Shops sind für Personen, die akustisch, visuell, motorisch oder kognitiv eingeschränkt sind, überhaupt nicht nutzbar. «20 Prozent der Schweizer Bevölkerung werden damit ausgeschlossen», kritisierte die Referentin.
Warum ein Kauf nicht möglich ist
Mo Sherif, Accessibility-Consultant, demonstrierte, wie ein blinder Nutzer online einkauft. Damit ihn ein Screenreader unterstützen kann, ist er darauf angewiesen, dass die Eingabefelder einer Website mit einem Text hinterlegt sind. Bei der «Swiss», wo dies gegeben ist, kann er bequem einen Flug buchen. Informationen, die nur als Bild vorhanden sind, bleiben ihm hingegen verborgen. Ebenso der Warenkorb bei «Digitec». Visuell befindet sich dieser am rechten Rand des Bildschirms, für einen Screenreader aber an anderer Stelle, an der ihn Sherif nicht erwartet und nicht sucht. «Die Bedienung ist nicht praktikabel», so sein Urteil.
«Die Hürden sind vielfältig», sagt Sylvia Winkelmann-Ackermann. Hörbehinderte werden beispielsweise benachteiligt, wenn Videos nicht untertitelt werden. Menschen mit motorischen Einschränkungen werden ausgeschlossen, wenn die Navigation nur über die Computermaus funktioniert. Mit dem nötigen Wissen liessen sich solche Barrieren verhindern, stellte die Geschäftsführerin klar. Davon profitierten letztlich alle: «Digitale Barrierefreiheit bringt uns alle weiter.»
Jene honorieren, die zugänglich sind
Die Stiftung trage das Thema in die Fachwelt, lobte Gerhard Andrey, Unternehmer und Nationalrat (Grüne/FR). Obwohl Barrierefreiheit vom Gesetz verlangt werde, sei sie erst teilweise gegeben. «Mangelnde Sensibilität, mangelndes Wissen, mangelnder Druck und ein lascher Umgang mit Standrads führen zu grossen Lücken in der Umsetzung.» Der Mitgründer einer Webagentur kritisierte das PDF-Format als falsch verstandene Digitalisierung. Es sei geschaffen worden, um Inhalte zu drucken, und nicht zur Anzeige auf dem Bildschirm. Andrey plädierte dafür, für digitale Inhalte ganz davon wegzukommen. Stattdessen müssten diese strukturiert aufgebaut werden; entsprechende Web-Standards gebe es schon lange. «Man könnte Firmen honorieren, die Barrierefreiheit gewährleisten», schlug der Nationalrat vor. Sie könnten im Beschaffungsrecht bevorzugt werden, wie dies auch mit Lehrbetrieben gemacht werde.
«Der neue Standard ist ein Meilenstein»
Markus Riesch, Leiter Geschäftsstelle E-Accessibility beim Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), sprach sich ebenfalls für Anreize, aber auch für Sensibilisierung und Verbesserungen in der Ausbildung aus. Allen Menschen Zugang zu digitalen Services zu verschaffen, zahle sich für Unternehmen aus. «Es ist uns noch viel zu wenig gelungen, Accessibility als Business Case zu vermitteln.» Der Standard eCH-0059, der im Juni verabschiedet worden ist, hilft bei der Umsetzung. Er stützt sich auf die international anerkannten Leitlinien WCAG 2.1 (Web Content Accessibility Guidelines) und macht etwa Vorgaben für Leichte Sprache und Gebärdensprache. Gerade Behördeninformationen seien häufig komplex abgefasst, sagte Riesch. «Es braucht so oder so mehr Verständlichkeit.» Gemäss dem neuen Standard müssen Websites und mobile Apps eine Erklärung zur Barrierefreiheit aufweisen. Sie müssen zudem über einen Feedback-Mechanismus verfügen, der eine Melde-, Anfrage- und eine Antragsform erfasst. Markus Riesch freute sich über den Meilenstein. «Doch der Standard ist nur so gut, wie er umgesetzt wird.»
Checkliste hilft, Prozesse zu überprüfen
Ein stabiler Standard schaffe Orientierung und Klarheit, betonte Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle». Er stellte die WCAG 2.1 vor, welche Anforderungen an ganze Seiten und Prozesse stellen. Sie verlangen unter anderem, dass eine Anwendung so designt werden muss, dass sie sich in allen Grössen anzeigen lässt. Sie muss zudem im Hoch- und im Querformat genutzt werden können, was für mobile Apps relevant ist. Ob ein Produkt die Bestimmungen erfüllt, lässt sich mit einer Accessibility-Checkliste überprüfen, welche «Zugang für alle» erarbeitet hat. Projektleiterin Manu Heim sprach von einem «Werkzeug, das einfach umzusetzen ist».
Es lohne sich, die Zielgruppe frühzeitig einzubinden und ihre Rückmeldungen ernst zu nehmen, sagte Esther Buchmüller, Projektverantwortliche der neuen App SBB Inclusive. «Wir haben uns gefragt: Welche Informationsbedürfnisse haben sehbehinderte und blinde Personen, wenn sie reisen? Welchen Barrieren begegnen sie heute?» Entstanden ist eine mobile App, welche die Kundeninformationen an den Bahnhöfen und in den Fernverkehrszügen der SBB aufs Smartphone bringt. Sie hilft dabei, sich während der Reise zu informieren. «Wenn man es zusammen macht, kommt man ans Ziel», betonte die Referentin. SBB Inclusive ist ab dem Fahrplanwechsel am 13. Dezember erhältlich.
«Für uns alle zum Alltag geworden»
Durch Corona sei das Digitale für uns alle überraschend schnell und stark zum Alltag geworden, sagte Andreas Rieder, der das EGBG leitet. Alle hätten dabei erlebt, wie es sei, phasenweise keinen Zugang zu haben. Eine Erfahrung, die Menschen mit Behinderungen häufig machten. «Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig Informationen in leichter Sprache sind», sagte Rieder weiter. Um Barrierefreiheit weiter voranzutreiben, sei noch ein besonderer Effort nötig. Es brauche den politischen und unternehmerischen Willen dazu sowie Anleitung, Unterstützung und Standards.
Eine Aufgabe, die nie abgeschlossen ist
Der neue Standard eCH-0059 erleichtere die Umsetzung von Barrierefreiheit, berichten Vertreter aus der Praxis. «Er ist für uns wichtig, da er uns einen Rahmen und Leitlinien liefert», sagt beispielsweise Roberto Capone, Leiter der Geschäftsstelle Digitale Verwaltung des Kantons Bern. «Er hilft uns dabei, unsere digitalen Angebote auch Menschen mit Behinderungen einfach zugänglich zu machen.» Dass der Zugang zu den E-Services unabhängig von Bildung, Herkunft und Alter gewährleistet werden soll, ist im Kanton Bern Teil der Strategie Digitale Verwaltung. Die Vorgabe soll nun auch im Gesetz verankert werden.
Sie hoffe, dass Barrierefreiheit bei allen digitalen Anwendungen zu einer Selbstverständlichkeit werde, sagte Isabelle Haas, Projektleiterin Corporate Social Responsibility/Accessibility bei der Schweizerischen Post, an der Tagung. «Dafür zu sensibilisieren, ist eine Aufgabe, die nie zu Ende ist.»
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