Lehren aus Covid-19 – Wie das Theater sein Publikum digital erreicht (2)

Die Digitalisierung des Theaters scheiterte erstmals vor über 20 Jahren. Jetzt ist es Zeit, neue digitale Wege zu gehen, in allen Künsten. Wir haben die ökonomische Notwendigkeit und technische Gelegenheit. Jetzt ist die Zeit zur Transformation.

Am Tag, als Teil 1 erschien, wurden die Berner Theater geschlossen, zusammen mit Clubs, Bars und Museen. Zwischen dem ersten Lockdown und dieser Massnahme geschah kulturell nicht sehr viel, auch nicht bei der Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten für den Online-Kunstzugang.

Eine persönliche Momentaufnahme

Die IGNM Bern, deren Präsident ich bis vor kurzem war, konnte immerhin zwei Konzerte veranstalten, musste aber das Programm des zweiten Konzerts kürzen. Unsere Strategie, Neues von auswärts nach Bern zu bringen, ist Corona-inkompatibel. Aber wir hatten Glück, dass beide Konzerte überhaupt stattfinden konnten, weil sie für den frühen Herbst geplant waren und die Schweizer Quarantäneregeln Ausnahmen für Künstler*innen vorsehen.

Persönlich – als Forscher, Konsument und Dozent – kann ich mich nicht beklagen. Die «Zwischenzeit» war nicht grossartig, aber ok. Ich konnte unter anderem zwei Forschungsprojekte mit Künstler*innen vorwärtsbringen (allerdings ohne Drittmittel dafür zu akquirieren), gut drei Dutzend Kunstveranstaltungen selbst besuchen und einen Vortrag vor akademischem Publikum zu einer Herzensangelegenheit halten: der ungleichen Verwandtschaft von Wissenschaft und Kunst. Für viele andere wird die Bilanz am Ende des Jahres dagegen eine traurige sein – mit Aussicht auf Verlängerung der Misere bis zum Herbst 2021. Da niemand weiss, wann die Impfungen kommen werden und wie gut sie funktionieren werden – die berühmte «Phase 3» testet ja nur ihre Gesundheitskompatibilität, nicht ihre Wirksamkeit – ist es für uns alle an der Zeit, sich digital umzusehen: Wie komme ich online zu meinen persönlichen Begegnungen mit Kunst? Beziehungsweise: Wie komme ich online zum Publikum?

Die Situation der Künstler*innen

Für die Kunstschaffenden verstärkt sich die Zweiklassen-Gesellschaft: Wer gut positioniert ist, hat ein gutes Auskommen und keinen finanziellen Grund, sich zu verändern. Sie oder er leidet «nur» an Publikumsentzug. Wer schlecht positioniert ist, hat kein Auskommen und muss sich allein schon aus finanziellen Gründen verändern. Dabei erzeugen gerade die wenigen, aber wunderbaren Online-Konzerten von Superstars gemischte Gefühle: Einerseits heben sie den wahrgenommenen Wert der Kunst beim Publikum, was allen hilft, anderseits werfen sie die Frage auf, ob in Zukunft nur die Erfolgreichsten mit Kunst Geld verdienen werden. Denn in vielen Kontexten gilt im Internet «The winner takes it all.» Zwar gibt es auch den berühmten «Long Tail» Effekt, aber die Verunsicherung ist gross.

Das eingangs skizzierte Beispiel der IGNM Bern illustriert eine allgemeine Erfahrung: Die Gesundheitskrise zwingt zum inhaltlichen Umdenken – im Fall der IGNM Bern zur Antwort auf die konkrete Frage «Wie kann ich auswärtige Innovationen zeigen, ohne Künstler*innen ins Land zu bringen?». Auf solch einer generischen Ebene ist die Frage beantwortbar. Für viele konkrete Projekte bedeutet sie hingegen das Aus und zwingt so zur Neuorientierung.

Kunst online für das Publikum zugänglich zu machen, ist eine Chance in der aktuellen Situation, stellt aber grosse Herausforderungen. Mit der faktischen – objektiven und subjektiven – Änderung der Qualität des Kunsterlebnisses im online-Kanal ändern sich Möglichkeiten und Notwendigkeiten für das Kunstschaffen. Meist ist es um vieles produktiver, inhaltlich Neues zu erfinden für Online-Kanäle, als das neue Medium für bisherige Inhalte zu adaptieren. Doch dies benötigt Zeit und Genialität.

Die aktuelle Sorge ist, dass die Arrivierten die Gesundheitskrise aussitzen und Neues nicht fördern wollen. Zu viele Kunstschaffende glauben, dass Kunst sui generis erhaben ist über wirtschaftliche Zusammenhänge. Dieser Mythos passt perfekt zu den Erzählungen des kognitiv-kulturellen Kapitalismus, welcher danach trachtet, ideelle Werte für die Erhöhung der Nachfrage zu nutzen. Es ist beliebt, den Mythos mit Taktiken des politischen Populismus zu kommunizieren, beispielsweise der Demonstration beschämender Verachtung für jede Nachfrage. Das ist erfolgversprechend in guten Zeiten, blockiert aber jetzt das dringend benötigte Zugehen auf das Publikum.

Ein Blick zurück

Aus historischer Perspektive darf man trotzdem optimistisch in die Zukunft blicken. Die Innovation ist der Kunst ebenso immanent wie die spätere Übernahme der Kunsttechniken durch andere, welche damit der Kunst Konkurrenz machen. Einst brachte Kunst Farben, Klänge, Geschichten ins Leben der Menschen und gewann so gesellschaftliche Bedeutung. Im Laufe der Zeit gab es immer mehr nichtkünstlerische Quellen sinnlicher Freude und Kunst entwickelte neue Besonderheiten, welche das Leben der Menschen bereicherten. Die meisten grossen Komponist*innen und viele grosse Maler*innen erfanden neue Formen des künstlerischen Ausdrucks, welche sich in der Folge Nicht-Kunstschaffende aneigneten und billig reproduzierten, was wiederum die Kunst unter Innovationszwang setzte.

Die Kunst ihrerseits eignete sich immer wieder technische Innovationen an und nützte ihn für neue eigene Ausdrucksformen. Leider funktionierte das im ersten Lockdown noch nicht: Als der Kunst die Konkurrenz abhandenkam, war sie weniger präsent als zuvor. Zu wenige Künstler*innen nutzten die digitalen Kanäle, zu viele warteten nur ab.

Eine erste Zukunftsvision, ein Grundsatz und eine Gemeinsamkeit

Doch es gibt Alternativen zum Abwarten. Neugier ist allgemein ein wichtiger Wegweiser für die digitale Transformation von Disziplinen geht. Dies gilt auch für die Kunst. Oft sind digitale Antworten auf Fragen generierbar, die analog unzugänglich sind, beispielsweise: Wie klingt ein Konzert im Inneren der Geige? Wie würden ein Bild sich verändern, wenn die Abgebildeten ihre Blickperspektiven ändern? Wie erlebt man ein Theaterstück, das man nach Gutdünken aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann?

Es gibt viele spannende Fragen dieser Art, welche den Rahmen der Konvention sprengen. Einige wurden mit viel Aufwand durch experimentelle Inszenierungen beantwortet. Mit digitaler Technik kann man diese Experimente jedoch ungleich umfassender und einfacher durchführen und man kann vor allem auch Fragen beantworten, auf die es keine Antworten mit analoger Kunst gibt. Dabei ist die Technologie insbesondere als Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten gefragt. Sie sollte keinesfalls der «Domestizierung» dienen – weder der Aufführenden noch der Konsumierenden – sondern der «Befähigung». Dieses Prinzip lässt sich am Beispiel des Theaters anschaulich illustrieren: Ich darf Theaterzuschauer*innen temporär manipulieren, aber wenn ich es tue, muss ich es für sie mindestens danach sichtbar machen. Dasselbe gilt für die Technologienutzung in der Kunst, die viel neues Manipulationspotential mit sich bringt. Denn es geht darum, das Publikum zu bereichern und die individuellen Handlungsfähigkeiten im Theater zu erweitern.

Die Gemeinsamkeiten gehen sogar noch weiter: Sowohl digitale Werkzeuge als auch das Theater dienen der Erweiterung menschlicher Handlungsfähigkeiten – Theater mental, digitale Werkzeuge physisch und kognitiv. Indem ich mich im Theater mit der Heldin assoziiere, simuliere ich ihr Heldentum und eigne mir dabei im Idealfall die Option an, in vergleichbaren Situationen heldenhaft zu handeln. Harald Schmidt hat dieses Prinzip brillant zynisch am Beispiel des Reifenwechselns vorgeführt. Indem ich digitale Werkzeuge nutze, kann ich entsprechend besser hören, sehen oder denken.

In der digitalen Transformation des Theaters können die Ambitionen zur mentalen und zur physisch-kognitive Erweiterung menschlicher Fähigkeiten zusammenfinden. Ganz ähnlich kann eine neue Form von Raummusik entstehen oder das gedankliche Spiel mit Bildkompositionen einen sinnlichen Ausdruck finden.

Neue Feedbackformen

Natürlich ist auch das Tabu der intransparenten Manipulation eine Quelle künstlerischen Spiels. Bekannt ist das Höhlenexperiment: Die Theateraufführung in der Höhle wird von den Stirnlampen der Besucher beleuchtet. Aber wie wäre es – so eine Idee von Peter Danzeisen – wenn wir die Aufmerksamkeit der Besucher*innen, ihren Erregungszustand oder ihre Synchronisation mit der Bühnenheldin messen würden? Das könnte wir auch beim Online-Streamen zu Hause tun, mit Feedback auf die Beleuchtung und die Geräuschkulisse auf der Bühne oder die Bildqualität bei den Zuschauenden. Vor Jahren hat schon Stelarc seine Muskeln von Paketflüssen im Internet steuern lassen. Sein radikales Sich-Ausliefern illustrierte das ungenutzte Potential für Online-Beziehungen, doch die Möglichkeiten gehen noch viel weiter.

 Ein frühes Scheitern der Digitalisierung

Anno dazumal träumten wir davon, Theaterhäuser zu überreden, Ihre Premieren jeweils auf denselben Tag zu legen. Wir wollten einen Theaterradioabend produzieren nach dem Vorbild von Fussballabenden: mit Live-Einschaltungen in die jeweilige Premiere, in denen wir das Spielgeschehen boshaft-unterhaltsam kommentiert hätten.

Wir, das waren Schauspieler*innen und der Kritiker*innern des Internets. Und «anno dazumal» war die Zeit, als Kritiker*innen aus dem Internet in Kleintheatern noch persönlich bei Premierenvorstellungen begrüsst wurden. Das Internet war damals der Ort, wo jeder schreiben konnte (Zitat der Direktorin eines Avantgardetheaters, die diesen Fortschritt gar nicht schätzte). Es war eine Experimentierstube, in der temporär das Unvereinbare zusammenfand – zumindest in Zürich, wo sogar Theaterdemos lustiger sind als Begräbnisse in Wien.

Der Theaterblog «Zürichs Zynischer Theaterindex (ZZT)» begann 1993 am Mathematikinstitut der Universität Zürich – mit einer E-Mail-Abonnementen-Liste und wanderte 1995 aufs Web. Drei oder vier Jahre später scheiterte der Versuch, einen virtuellen Theaterort Schweiz zu bauen daran, dass das Opernhaus Zürich mitmachen wollte. Die Hochschulführungskräfte fürchteten sich nämlich vor der schlechten Nachrede des Opernhausdirektors im Fall eines Scheiterns.

Der ZZT unternahm verschiedene weitere Entwicklungsversuche, auch in Zusammenarbeit mit anderen Theaterinstitutionen, blieb aber letztlich nur eine frühe Web-Voice und stellte seine Publikationstätigkeit 2006 ein. Der 90-er-Jahre-Traum von einem Schweizer Theaterportal wurde nie realisiert.

Ähnliches gilt für viele Träume der 90-er-Jahre zur Zukunft der Kunst im digitalen Zeitalter. In der Neuausgabe von Hamlet on the Holodeck zieht Janet H. Murray eine exemplarische Bilanz. Doch die Träume von einst sind mittlerweile gereift und haben an Tiefe gewonnen. Deshalb ist jetzt die Zeit, auch im Theater den Weg ins digitale 21. Jahrhundert zu beschreiten.


Teil 3 dieser Serie erscheint am 13. November.


Acknowledgements

Der herzliche Dank gilt jenen, die zum Entstehen dieses Textes beigetragen haben – insbesondere Martin Burr, Carolina Estrada, Tine Melzer und Anne-Careen Stoltze, aber auch allen Kooperationspartnern von früher.

Creative Commons Licence

AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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