Lehren aus Covid-19 – die digitale Kunst (1)

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Covid-19 hat die aufführenden Künste besonders schwer getroffen. Es gab zwar viele bemerkenswerte digitale Initiativen, die einen Weg in die Zukunft aufzeigen, aber in Summe ist die Lage sehr ernst.

Kunst braucht Begegnung. So egozentrisch ihre Akteure oft sind, so sehr Kunstwerke über die Lebenszeit der sie Schaffenden hinaus wirken können und sollen, so wenig Sinn macht Kunstschaffen ohne Wahrnehmung durch andere. Beginnend mit den Höhlenmalereien war Kunst eine Externalisierung und Vergegenständlichung innerer Gedanken, die für andere gedacht war. Sie ist deshalb besonders stark von der Pandemie betroffen.

Eine erste einfache Bestandsaufnahme

Der Lockdown hat viele Künstler*innen in eine prekäre Situation gebracht. Zusätzlich zum Geld fehlte vielen auch das Miteinander mit anderen Künstler*innen und der Kontakt zum Publikum. Umso emotionaler verlief dann bisweilen der erste öffentliche Auftritt. Leider währte die Hoffnung auf eine Teilnormalisierung nur kurz. Die Folgen der Pandemie für die Kunst sind noch lange nicht ausgestanden. 2021 wird voraussichtlich geprägt sein durch wenig Publikum, wenig Sponsoren, knappe Staatskassen und Unternehmensschliessungen. Das bedeutet für viele Künstler*innen sehr viel weniger oder kein Einkommen aus der Kunst UND weniger Möglichkeiten, mit anderer Arbeit Geld zu verdienen – auch ohne zweiten Lockdown.

Neben den Künstler*innen wurden auch die Kuratierenden und Vermittelnden getroffen, welche in normalen Zeiten den Zugang zur Vielfalt der Kunst attraktiv gestalten. Museen verloren Sponsoren, Festivals wurden abgesagt, Vereinen das Geld gestrichen, Kunstvermittler*innen gar nicht angestellt – allerdings mit grossen Unterschieden von Kontext zu Kontext. Die Salzburger Festspiele trauten sich und setzten ein Zeichen. Sie waren auch Vorbild in Sachen Fernsehübertragungen und Live-Streaming und ermöglichten so vielen eine kostenlose und sichere Teilhabe am Festival, auch wenn diese nicht mit Präsenz im Publikum vor Ort vergleichbar ist. Und Zürichs Theaterspektakel thematisierte sogar die neue Situation (siehe FAZ vom 27.8.: Alle Traurigkeit wird vorüber sein). Dieser Mut mit vernünftigem Augenmass (sprich: Sicherheitskonzept mit Identifikation der Theaterbesucher, um sie im Fall direkt kontaktieren zu können) hat sich bewährt und allen – Kunstschaffenden, Kuratierenden, Vermittelnden und Publikum – viel Hoffnung gegeben.

Getroffen wurden aber auch Vereine, welche Amateurkunst fördern, kuratieren und organisieren. Beispielsweise gab es in einigen Regionen einen starken Rückgang der Mitgliederzahlen bei Chören. Anders als in der professionellen Kunst gelten beim Laiensingen viel stringentere Vorschriften (z.B. in Bayern) oder es werden stringente Massnahmen zumindest empfohlen (z.B. von der schweizerischen Chorvereinigung SCV). Analoges gilt auch für die Amateurtheater (siehe z.B. das Musterschutzkonzept des ZSV). In einigen Ländern können allerdings Kulturvereine im Amateurbereich staatliche Finanzhilfen beantragen, wenn sie durch Absagen Schäden erlitten haben (z.B. in der Schweiz). Das ändert wenig daran, dass die Zukunft unklar bleibt, solange wir nicht zum Leben vor der Pandemie zurückkehren können.

Neben den direkten Folgen der Pandemie trafen und treffen aber auch die indirekten Folgen die Kunstschaffenden und das ganze Ökosystem um sie herum, beispielsweise in der Literatur. Viele – auch sehr grosse – Verlage stoppten die Aufnahme neuer Autoren. Die Leipziger Buchmesse fiel aus. Neue Werke wurden nicht besprochen, nicht gelesen, nicht verkauft. So wurde eine ganze Saison von Neuerscheinungen unsichtbar und so wird eventuell eine ganze Generation von Jungautor*innen nie den Weg in die Buchläden finden, weder offline noch online.

Individuelle Praktiken bei Kunstschaffenden und Kunstkonsumierenden

Einige Künstler*innen versuchten erfolgreich, der Gesundheitskrise digitales Handeln entgegenzusetzen. Igor Levits Wohnzimmerkonzerte auf Twitter und Instagram demonstrierten, dass trotz aller technischen Beschränkungen – unter anderem weil die intelligente Technologie dumm die Übertragungen korrigiert – Onlinekonzerte ein tolles Erlebnis sein können. Auch andere, vor der Krise im Gegensatz zu Levit podcast-unerfahrene Künstlerinnen und Veranstalter zeigten, dass man mit Internet-Streaming Menschen erreichen kann. Wer wie ich ein über Zoom übertragenes und dabei künstlich modifiziertes Konzert hörte, erlebte ästhetisch Einzigartiges: eine Art John Cage Komposition 2.0. Auch ohne Live-Events gab und gibt es YouTube als grosses Archiv für Musikaufnahmen, in dem man vor allem auch das Seltene, Neue und Experimentelle findet.

Auch in Bezug auf alternative Einkommensmöglichkeiten gingen Künstler*innen kreativ mit dem Lockdown um. Sie organisierten beispielsweise über Social Media Online-Kurse und kompensierten so einen Teil ihres Verdienstausfalls. Aus Schweizer Sicht mussten sie zwar ungewöhnlich günstig anbieten, gewannen dafür aber Kursteilnehmer*innen aus ganz Europa. Umgekehrt sanken die Opportunitätskosten für Kooperationsprojekte ohne Finanzierung, womit ein Teil der natürlichen Restriktionen für Innovationen in der Kunst ausgehebelt wurde. Es gibt berechtigte Hoffnung, dass daraus Neues entstehen wird.

Die Online-Ausstellungen der Museen gewannen ihrerseits viele neue Fans. Hier bietet insbesondere, aber nicht nur, Google Arts & Culture einen vielfältigen, faszinierenden, virtuellen Zugang zu Kunstwerken. Zwar ist die Navigation durch Museen nach Google Street View Technologie nicht unbedingt einfach, aber einiges ist online möglich, was offline gar nicht geht: beispielsweise das Hineinzoomen in ein Bild. Manch eine oder einer entdeckte obendrein im Lockdown, dass die Experiments nicht nur pädagogisch wertvoll für Kinder sind oder begann mittels Art Selfies oder Art Transfer mit Selfies und Bildern zu spielen. In den meisten Fällen gab es das Angebot schon länger, es wurde aber infolge des Lockdowns bekannter.

Das ungelöste Problem

Trotzdem bleibt das mit dem Eishockey geteilte und ungelöste Problem: das Erleben von Nähe und Einbettung über den Online-Zugang. Das Online-Erlebnis ist emotional ungleich ärmer als das Offline-Erlebnis. Ein Theaterstück im Theater oder auf dem Bildschirm sehen sind zweierlei. Ein Bild mit digitalen Zoom-Techniken betrachten oder eine Plastik virtuell umrunden und das Bild oder die Plastik in echt studieren sind verschiedene Erlebnisse – wobei letzteres auch dann klar vorzuziehen ist, wenn es mehr Distanz verlangt. Auch das gestreamte Klangerlebnis kann mit jenem im Konzertsaal nicht mithalten und die Virtual Reality-Erlebnisse via App können mit jenen im Museum (wie dem Deep Space 8K) nicht konkurrieren. Die Online-3D-Animation des Pergamon-Altars fasziniert nicht annähernd so wie die Lichtinstallation des Telephosfries im Museum. Ganz offensichtlich ist das Lösen des Künstlichen vom Materiellen ein Problem, selbst für jene von uns, welche der Aura des Authentischen misstrauen.

Die Auswirkungen

In Summe sind die Aussichten bedrückend. Infolge der prekären Situation könnte die Rolle der Kunst in unserer Gesellschaft weiter erodieren, weil Kunstschaffende sich andere Beschäftigungen suchen müssen. Ein Leben mit viel weniger Kunst wäre freudloser und frustrierender. Denn vieles Unerträgliche wird relativiert, wenn wir grossartige Musik hören, vor einem fantastischen Bild stehen oder im Kopf die Erlebnisse einer Theaterfigur simulieren. Kunsterfahrungen befähigen uns, mit anderen toleranter umzugehen, Unveränderbares gelassener zu akzeptieren und uns mit Energie dort einzusetzen, wo wir die Welt tatsächlich konkret verbessern können. Für viele ist obendrein die Laienkunst eine Möglichkeit, ihre Kreativität zusammen mit anderen im Kollektiv auszuleben. Auch dies wird durch die Pandemie stark eingeschränkt.

Das Prekariat der Kunst trifft aber auch die Wirtschaft und in gewissem Masse sogar die Demokratie. Kunst ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – zuallererst für Knotenpunkte der künstlerischen Netzwerke wie Wien, Salzburg oder Basel, danach aber auch für viele wirtschaftliche Knotenpunkte. Das Stadttheater und die Oper machen eine Stadt reicher (siehe z.B. Jan Guldener in «Die Welt» vom 26.5.2013: Wo eine Oper steht, ist das Wachstum nicht weit). Davon profitiert die ökonomische Elite der Stadt traditionell am meisten. Das in der Schweiz beliebte politische Festspiel bringt die Dorfgemeinschaft enger zusammen und etabliert die politische Unabhängigkeit (siehe Tobias Hoffmann-Allenspach: Abschied von den Mythen) . Das in Schweizer ebenfalls stark verankerte Laientheater ist sichtbarer Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft, in der Menschen sich an der Bühnenrampe zu stehen trauen. Darüber hinaus kann Kunstschaffen sich Forschungsthemen in einer Tiefe widmen, welche der Wissenschaft nicht möglich ist, da sie das Exemplarische als anekdotisch verwerfen muss, wenn sie sich selbst treu sein will. Entgegen den Klischees ist Kunst dabei nicht notwendigerweise nur ein Instrument zur Dekonstruktion, sondern kann auch helfen, Zukunftsvisionen zu simulieren.

Eine gesellschaftliche Frage

Die gesellschaftlich interessante Frage ist, wie sich die finanzielle Klammheit der kuratierenden Institutionen – Theater, Museen, Festivals, Verlage, Vereine – auf die Ausrichtungen und Qualitäten der Kunstproduktionen auswirken wird. Solange genügend Geld vom Staat und von Kunstkonsument*innen ausgegeben wird, hat es Platz für den «Long Tail», zu dem auch viele kreative Innovationen zählen. Wenn aber das Geld knapp wird, werden nur mehr jene kuratiert, welche in Massen nachgefragt werden.

Diese Nachfrage wird zu einem wesentlichen Teil von Angeboten und Kritiken gesteuert. Im Einklang mit Andreas Reckwitz’ These vom kognitiv-kulturellen Kapitalismus (aus Jenseits der Industriegesellschaft) ersetzte dabei in den letzten Jahren das moralische Forcieren von Werten teilweise das Bekenntnis zum Wert von Kunst an sich, was viele Kunstschaffende begeistert unterstützten. In der Krise dürfte diese Steigerung des ökonomischen Werts von moralischen Werten jenem Kunstschaffen, das um der Kunst selbst willen stattfindet, weitgehend den Garaus machen. Das Ergebnis wäre ein Fortschreiten von Guillaume Paolis Zombifizierung, beispielsweise noch mehr Ich-Literatur, welche unsere Sehnsucht nach Authentizität befriedigt.

Kurzfristig wird vor allem eines zählen: Beziehungen und Netzwerke. Für ein freies Urteil über Kunst fehlt in der aktuellen Rezession Veranstalter*innen, Aussteller*innen und Verlagen schlicht das Geld. Allerdings gilt auch Alexander Kluges Satz: Jedes Mal nach dem Untergang taucht ein Dampfer auf und macht alles wieder gut.


Die weiteren beiden Teile dieser Serie erscheinen am 30. Oktober 2020 (Teil 2) und am 13. November 2020 (Teil 3).


Acknowledgements

Der herzliche Dank gilt zuallererst Tine Melzer, welche den Autor auf seine Kurzsichtigkeit (eigentlich Schwerhörigkeit) hinwies und die Literaturperspektive beisteuerte. Weiters haben folgende Personen zum Entstehen dieses Textes beigetragen: die Kolleg*innen des Vorstands der IGNM Bern, sowie Claudia Blacha, Michael Harenberg, Arthur Clay, Peter Revai und Andrew Kresch mit interessante Diskussionen; Erich Schweighofer mit der Einladung, an seinem «Abschiedskonzert» in der Villa Klimt über Zoom einen Vortrag zu Kunst und Wissenschaft zu halten; Friedrich Lachmayer mit seinen visuellen philosophischen Anregungen, die ich jeden Morgen erwarte; und Stephanie Tabea Blum mit dem Lektorat.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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