Barrierefrei digital? – Auch 2020 noch nicht für alle

Die digitale Welt steht allen offen, denn fast jeder hat heute Internet – so die weitläufige Meinung. Doch weit gefehlt – Menschen mit einer Behinderung stossen laufend auf Barrieren, obwohl zahlreiche assistive Technologien verfügbar sind.

Gemäss Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung [1], davon gelten rund 26% – also 468’000 Personen – als stark beeinträchtigt. Selbstständig zuhause zu leben ist für sie nicht möglich. Es handelt sich um Menschen mit einer körperlichen, kognitiven oder psychischen Behinderung sowie seh- oder hörbehinderte Menschen.

Eine Accessibility-Studie von 2016 [4] hat gezeigt, dass unter anderem auch Webangebote von Bund und Kantonen teilweise gravierende Barrieren aufweisen. Sie sind für viele Behinderte nur schwer oder gar nicht zugänglich, obwohl sie von Gesetzes wegen barrierefrei sein müssten. Die häufigsten Barrieren: ungenügende Farbkontraste, fehlende Beschriftungen von Eingabefeldern und mit Screenreader nicht richtig lesbare PDF-Dokumente.

Im Rahmen der E-Government-Strategie 2020 – 2023 [2] sollen bei Bund und Kantonen Verwaltungsprozesse und Dienstleistungen digitalisiert werden. Da es sich dabei um grosse Software-Projekte handelt, die die gesetzlichen Anforderungen an Barrierefreiheit erfüllen müssen, ist es von Vorteil, sich frühzeitig mit dem Thema Accessibility auseinanderzusetzen. Doch wo hat es bisher geharzt?

Gründe für fehlende Barrierefreiheit

An Fachhochschulen und Universitäten werden UX Designer und Software-Entwickler nicht oder nur ungenügend mit dem Thema Accessibility konfrontiert. In Software-Projekten wird es entweder zu spät berücksichtigt oder fällt den zeitlichen und finanziellen Rahmenbedingungen zum Opfer. Die Folge: Oft ist ein vollständiges Redesign einer Applikation erforderlich, das erhebliche Mehrkosten verursacht.

Kompetenzzentrum für Accessibility aufbauen

Was braucht es nun, um digitale Angebote von Grund auf barrierefrei zu gestalten? Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Projektteams sich die nötigen Accessibility-Kompetenzen innerhalb nützlicher Frist von selbst aneignen. Wesentlich zielführender ist es, ein Accessibility-Kompetenzzentrum aufzubauen, das die Projektteams bei Bedarf unterstützt. Auf diese Weise können Wissen und Fähigkeiten bedürfnisgerecht in Workshops vermittelt werden. Dies beinhaltet sowohl Kenntnisse im Umgang mit Guidelines wie den WCAG 2.1 [5] resp. den P028-Richtlinien des Bundes [3] als auch den Einsatz von assistiven Technologien wie Screenreadern.

In 4 Schritten zu kosteneffizienter und barrierefreier Software

Die folgenden einfachen Massnahmen helfen bei Software-Projekten, Probleme zu vermeiden, vorauszuplanen und Kosten zu sparen:

  1. Barrierefreiheit in allen Projektphasen berücksichtigen: Barrierefreiheit ist ein Qualitätsanspruch, der von Anfang an in Software-Projekten berücksichtigt werden sollte. Dies gestattet eine sorgfältige Planung, die Definition von Meilensteinen und damit eine Kontrolle durch die Projektleitung. Probleme lassen sich früh erkennen und durch gezielte Massnahmen lösen.
  2. Barrierefrei designen: Anforderungen an Barrierefreiheit sollten bereits in die Desingphase einfliessen. Dazu gehören beispielsweise die Beachtung von Kontrastverhältnissen und Schriftgrössen, die Grösse und die Beschriftung von Buttons und Eingabefeldern, die Menüführung und die Navigation. Die unter 1. geleistete Vorarbeit ermöglicht die Einplanung eines unterstützenden Workshops, um allfällige Wissenslücken zu schliessen.
  3. Barrierefrei entwickeln: Eine gute Designspezifikation ist die Grundlage für eine barrierefreie Implementation. Frontend-Entwickler sollten sich daher an die Designvorgaben halten. Zusätzlich werden in der Entwicklungsphase weitere Anforderungen berücksichtigt wie Bedienbarkeit der Website bzw. der Applikation via Tastatur, Fokusreihenfolge oder Seitenstruktur mittels Headings und Landmarks.  Die unter 1. und 2. geleistete Arbeit wirkt sich auch hier positiv aus. Falls erforderlich, lässt sich in der Entwicklungsphase ebenfalls ein Workshop einplanen. Regelmässige Tests helfen zudem, Barrieren frühzeitig zu erkennen und abzubauen.
  4. Anhand vordefinierter Use Cases Accessibility-Tests durchführen: Entscheidend ist, ausreichend Zeit für Accessibility-Tests einzuplanen. Denn hier zeigt sich, wie gut das Projektteam bisher gearbeitet hat. Idealerweise werden für die Tests von einer Behinderung betroffene Nutzer herangezogen. Hat das Projektteam die Accessibility in den Phasen 1 bis 3 gebührend berücksichtigt, sollten keine grösseren Barrieren mehr entdeckt werden. Kleinere Probleme lassen sich eventuell noch vor dem Go-Live oder in einem Update ausmerzen.
  5. Zertifizierung durch die Stiftung «Zugang für alle»: Wird eine Zertifizierung [6] angestrebt, bestehen bei Beachtung der vier beschriebenen Massnahmen gute Chancen, den Prozess erfolgreich zu durchlaufen.

Warum sich der Mehraufwand für Barrierefreiheit lohnt

Barrierefreiheit bedeutet für die Entwicklung von Applikationen einen gewissen Mehraufwand. Dieser entsteht durch die Accessibility-Tests und allenfalls während der Zertifizierung. Er hängt wesentlich von der Grösse und der Komplexität der Applikation sowie von der in den Phasen 1 bis 3 geleisteten Vorarbeit ab. Mit anderen Worten: Der Mehraufwand lässt sich zumindest teilweise steuern. Mittel- und langfristig führt die beschriebene Strategie zu mehr Transparenz, Kosteneffizienz (da beispielsweise die höhere Code-Qualität die Wartbarkeit vereinfacht) und einem stärkeren Bewusstsein für Barrierefreiheit.

Kurz: Barrierefreiheit steigert die Benutzerfreundlichkeit und verbessert das Erlebnis aller Nutzer, sei es bei Desktop-, Web- oder mobilen Applikationen.

 


Referenzen

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AUTHOR: Werner Hänggi

Werner Hänggi ist seit 2002 als Senior Software Engineer beim Schweizer Software-Unternehmen AdNovum tätig, wo er seit Anfang 2018 Mitglied des UX-Teams ist. Er ist seit Geburt stark sehbehindert, daher spielen Barrierefreiheit und assistive Technologien in seinem Alltag eine wichtige Rolle. Werner Hänggi engagiert sich seit vielen Jahren für die Barrierefreiheit in der Software-Entwicklung und hält regelmässig Referate und Vorlesungen zum Thema Accessibility.

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2 Kommentare
  1. Daniel Mischler
    Daniel Mischler sagte:

    Sehr gut geschriebener Artikel der das Wesentliche zum Thema verständlich auf den Punkt bringt. Eines der grössten Probleme besteht wohl darin, dass gerade zu beginn eines Projekts die Accessibility kaum bis gar nicht auf dem Radar steht. Viele streben in einer ersten Version nach einem MVP (minimum viable product) welches keinen Platz für «Mehraufwand» hat.
    Die Lösung besteht wohl wirklich darin, dass alle Projektbeiteligten mehr über dieses Thema informiert und aufmerksam gemacht werden. Und gerade da kann UX Design als erster Stellvertreter aller Benutzer seinen Beitrag leisten.

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