Transformation von Unternehmen in der Covid-19-Krise (2): Wie man sich verändern kann

Unternehmen können die Gesundheitskrise nutzen um ihre Geschäftsmodelle zu optimieren. Sie können aber auch neue Geschäftsmodelle entwickeln, welche neu entstandene Bedürfnisse adressieren oder von der gewachsenen Akzeptanz für Online-Lösungen profitieren.

In Teil 1 wurde dargelegt, warum infolge der Gesundheitskrise sich die Wirtschaft stark verändern wird. Es gibt unter den Unternehmen eine hohe Heterogenität in Bezug auf die Ausgangslage – Cafés kann man nicht digitalisieren, die dort stattfindenden geschäftlichen Treffen schon – und in Bezug auf die Transformationsbereitschaft. In allen Sektoren planen Unternehmen hinter der Fassade der Kurzarbeit das Ersetzen von menschlichen Aufgaben. Im Dienstleistungssektor haben einige ihre Geschäftstätigkeit bereits radikal umgestellt. Gleichzeitig geht aber die Mehrheit der Unternehmen von Kontinuität aus. Bildlich gesprochen schauen diese Unternehmen auf die Kellner*innen im Café und übersehen dabei die Geschäftsleute unter den Gästen. Solch ein Nebeneinander von beschleunigter Veränderung bei wenigen und Nichtveränderung bei vielen schafft ein Geschäftsumfeld, in dem disruptive Umbrüche wahrscheinlich werden.

Praxisbeobachtungen

Mittlerweile etablierte Good Practice für Grossunternehmen ist, unternehmensweites Gesundheitsmanagement zu betreiben (Höltl 2018). Bemerkenswerte Erfolge wurden in der Vergangenheit bei der Wiedereingliederung nach langen Krankenständen erzielt. Die Vorreiter solcher Entwicklungen setzen nun auf das Konzept «Testen, Testen, Testen». Damit erhöhen sie die Resilienz und sparen Geld. Es bleibt unverständlich, warum diese Praxis nicht breit kopiert wird.

Vielversprechend sind im Marketing und Verkauf Reduktionen auf die tatsächlich von Kund*innen benötigten Leistungen. Wenn anstelle von Produktbewerbung durch Aussendienstmitarbeitende (im B2B) oder Verkäufer*innen (im B2C) eine multimediale Online-Dokumentation und Call-Center mit organisiertem Wissensmanagement treten, kann das die Informationsqualität stark verbessern. Es birgt zwar beträchtliche Übergangsrisiken, aber in den letzten Monaten war infolge von Lockdown und Kurzarbeit der ideale Zeitpunkt für solch einen Wechsel. Allerdings kam selbst für innovative Unternehmen diese «Chance» meist so überraschend, dass sie die dafür notwendigen Konzepte erst in der Krise erarbeitet haben. Dafür werden derzeit neue Transparenzkonzepte für E-Commerce entwickelt, konkret beispielsweise in Bezug auf Nachhaltigkeit. Die damit angestrebte «Objektivierung» stellt die persönliche Produktbewerbung durch Menschen zusätzlich in Frage.

Überraschenderweise kann man erfolgreiche «Beschränkungen auf das Wesentliche» ganz konkret und real im Lobbyismus beobachten. Wenn es darum geht, mit Vertreter*innen mehrerer Stakeholder gute Lösungen vorzubereiten, sparen Online-Meetings extrem viel Zeit und erhöhen die Bereitschaft zum Mitmachen. Die entscheidenden Personen sind schlicht einfacher verfügbar. Lobbyismus ist deshalb online in manchen Bereichen nicht nur effizienter, sondern auch effektiver. Physische Treffen werden dabei nicht ersetzt, sondern reduziert und aufgewertet. Dabei fällt auf, dass einige der Involvierten sich nun unsicher sind, welche Bedeutung die physischen Treffen haben. Sie nehmen die bislang selbstverständliche Teilnahme an wichtigen Events neu als Zeitfresser war und sagen Teilnahmen mehrfach ab und wieder zu.

Diesen grundsätzlich positiven Ansätzen zur Veränderung der Geschäftstätigkeit stehen besorgniserregend negative Verhaltensmuster gegenüber. Ein typisches Muster der Industrie: In der Produktion wurde die Kurzarbeit beendet, in Forschung und Entwicklung sowie der Patentabteilung geht die Kurzarbeit aber weiter. Anekdotisches Zitat einer Führungskraft: «50% Arbeitszeit bedeutet 25% Leistung.»

Insgesamt gilt leider: Viele beschränken sich auf das einfach Machbare. Dienstleistungen werden auf Kund*innen mit viel Zeit ausgerichtet. Innovationen werden zugunsten der Produktion zurückgestellt. Führungskräfte praktizieren Change-Management-as-usual. So lange alle sich so verhalten, bleibt alles beim Alten. Wo aber zu viele die neuen Chancen begreifen und ergreifen, verändern sich die Märkte und die wirtschaftlichen Zukunftschancen ganzer Länder. Das Ergebnis wird Produktivitätswachstum sein, Es ist deshalb höchste Zeit, die digitale Transformation energisch vorwärts zu treiben – viel schneller, als es bislang sinnvoll schien!

Die Treiber der Transformation

Digitale Transformation ist nicht grundsätzlich neu – alte Fragenbeleben sie:

  • Wie leben die Menschen und welche Probleme haben sie?
  • Wie kann ich durch neue Dienstleistungen oder Produkte Wert für eine signifikant grosse Kund*innengruppe generieren?
  • Wie kann ich das Zusammenspiel aller im Unternehmen auf das Schaffen dieses Werts fokussieren? (siehe z.B. Christensen 2017)

Auf alle drei Fragen gibt es neue Antworten, weil die Digitalisierung unser Leben verändert hat und uns neue Hilfsmittel in die Hand gibt, unsere Probleme zu lösen.

Die Gesundheitskrise zwingt uns nun, Social Distancing zu praktizieren und ein Tracing von Ansteckungen zu realisieren – möglichst unter Wahrung der Privatsphäre. Dies eröffnet vielversprechende Innovationsfelder. Es können neue Dienstleistungen insbesondere dort entwickelt werden, wo Kund*innen vor folgenden Herausforderungen stehen:

  • Zu wenig Zeit, um mit der Covid-19 bedingten Verlangsamung des Lebens umzugehen (z.B. Menschen mit hoher Arbeitsbelastung oder/und hohem Leistungsdruck)
  • Hoher Veränderungsdruck, um ökonomisch die Krise zu überleben (z.B. Sportvereine mit staatlichen Beschränkungen von Zuschauer*innenzahlen)
  • Expliziter Bedarf nach konsequentem Social Distancing (z.B. Menschen aus Risikogruppen)
  • Notwendigkeit, die Ansteckungsraten gering zu halten (dies gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für einzelne Unternehmen – eine kritische Rolle spielt das Tracing unter weitgehender Wahrung der Privatsphäre)
  • Grosse Schwierigkeiten, unter den Mitarbeitenden in der aktuellen Situation eine gute Stimmung, hohe Leistungsbereitschaft und tatsächliche Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten (z.B. in Abteilungen von Unternehmen mit Kurzarbeit)
  • Individuelle Überforderungen durch die zusätzlichen Anforderungen in der Krise (z.B. Eltern im Fall von Schulschliessungen

Vielversprechende Innovationsfelder ergeben sich auch dadurch, dass Menschen oder Institutionen Praktiken akzeptieren, die sie bislang abgelehnt haben, und dass sich das Interesse an digitaler Beziehungspflege verstärkt:

  • Online-Leistungserbringung (z.B. Blended Care in der Gesundheitsversorgung mit einer Kombination von Vor-Ort-Terminen und Telemedizin)
  • Online-Informationen zur Beziehungspflege (z.B. visuelle Einblicke in die Produktion auf E-Commerce-Plattformen)
  • Networking über Distanz (z.B. online durchgeführte Round-Table Gespräche)
  • Weiterbildung durch Online-Kursangebote (insbesondere Distance Education für Menschen in Kurzarbeit)
  • Einbindung von physisch nicht vorhandenen Expert*innen in die Leistungserbringung (d.h. alle Formen von Remote Intelligence bei der Bewältigung akuter Herausforderungen, z.B. komplexe Diagnosen in Landspitälern oder in technischen Werkstätten)

Die grösste Herausforderung

Wollen wir kurzfristig Lösungen für die oben aufgezählten Herausforderungen entwickeln, so braucht dies eine funktionierende Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens. Diese stellt die grösste Herausforderung dar. Viele Mitarbeitenden können sich gar nicht vorstellen, sich gegenseitig dauernd zu helfen. Neben Gewinnerteams im Sport zeigen gute Musikensembles, wie man das Zusammenspiel auf den Kund*innennutzen (im Fall das einzigartige Klangerlebnis im Publikum) ausrichten kann.

Trotz aller scheinbaren Wichtigkeit der Dirigent*innen: die Sänger*innen und Soloinstrumente bestimmen die Geschwindigkeit. Wenn dann eine der Führungspersonen im Orchester zum Solo ansetzt, übernimmt die Partner*in am Pult die Führungsaufgaben. Und sollten mal die Dirigent*innen das falsche Stück dirigieren, dann organisiert sich das Orchester spontan selbst. Abgesehen davon wählen Orchester ihre Mitglieder und Führungspersonen. Und sie wechseln die Dirigent*innen von Konzert zu Konzert. Denn es geht letztlich nur um das Eine: das schöne Erklingen und Verklingen von Musik.

Solche eine zweckorientierte Zusammenarbeit ist leider selten. Abseits von Sport und Kunst ist sie fast nur dort zu beobachten, wo es um Menschenleben oder um Milliarden geht. In der IT wurden deshalb agile Instrumente entwickelt, welche Reibungsverluste minimieren (siehe z.B. Appelo 2012). In der experimentellen Ökonomie wurden zudem mit Agilität eng verwandte Instrumente erfolgreich getestet, um Vertrauenswürdigkeit in Unternehmen zu etablieren (Fehr 2018). Beides – Vertrauenswürdigkeit und geringe Reibungsverluste – sind die Grundpfeiler effektiver Kollaboration. Die braucht es für erfolgreiche Transformationsprojekte am Dringendsten.

Unternehmen sollten deshalb auf die angesprochenen Instrumente aus der IT-Wirtschaft und experimenteller Ökonomie setzen, wenn es darum geht, auf die Gesundheitskrise zu reagieren. Dabei dürfen sie nicht davon beirren lassen, dass 80% der Informatiker*innen und Ökonom*innen diese Instrumente zutiefst ablehnen. Wenn eine neue Welt entsteht, zählt die Vernunft mehr als die Mainstream-Meinung.


Der Teil 3 erscheint am 18. September. Darin werden Empfehlungen für Unternehmen formuliert, wie sie mit der Gesundheitskrise in den nächsten Monaten umgehen können.


Acknowledgements

Herzlichen Dank allen, welche zum Entstehen dieses Beitrags beigetragen haben. Dies sind insbesondere Matthias Hofstetter, Tine Melzer, Wolfgang Stummer und Anne-Careen Stoltze-Siebmann.


Referenzen

  1. (Appelo 2012) Jurgen Appelo: Management 3.0 – Leading Agile Developers, Developing Agile Leaders, Addison Wesley Longman, 2012.
  2. (Christensen 2017) Clayton M. Christensen: Besser als der Zufall – „Jobs to Be Done“, die Strategie für erfolgreiche Innovation, Plassen Verlag 2017.
  3. (Fehr 2018) Ernst Fehr: Beliefs, values, and business success, Video on Youtube, 2018.
  4. (Höltl 2018) Eva Höltl: Wiedereingliederung nach langer Krankheit – ein arbeitsmedizinischer Prxisbericht, www.billrothhaus-at 2018
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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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