Transformation von Unternehmen in der Covid-19-Krise (1): Was passiert, wenn man sich nicht verändert

Das Problem mit der digitalen Transformation ist die Transformation. Die derzeitige Gesundheitskrise führt uns dies erschreckend unmissverständlich vor Augen. Viele Organisationen haben die kurzfristige Umstellung des Nötigsten schnell geschafft, kommen aber bei der mittelfristigen Anpassung ihrer Prozesse nicht voran. Dabei  schafft das Potential für disruptive Innovationen.

In vielen Bereichen zeigt sich dasselbe Muster: Es wurde schnell und erfolgreich das Nötigste umgestellt und danach die Krise vergessen. Die Liste der häufigsten Auslassungen nach der ersten Veränderung ist lang:

  • Keine regelmässigen Qualitätsprüfungen der neuen Praktiken und Prozesse
  • Keine regelmässigen Adaptionen dieser Praktiken und Prozesse
  • Kein Nachholen des Zurückgestellten – oft geht die Erinnerung daran sogar verloren
  • Kaum ein Antizipieren der nächsten zwei Jahre
  • Keine strategische Reflexion der besonderen Lage
  • Wenig Versuche, aus der Krise durch neue Geschäftsmodelle zu profitieren

Ursachen 1: Falsche Annahmen

Aus all dem spricht die Annahme, dass die Krise nur temporär sein wird. Jetzt zeigt sich aber, dass die Krise mindestens noch zwei Jahre weitergehen und uns vielleicht sogar sehr viel länger begleiten wird. Das Virus ist im Sommer nicht nur nicht verschwunden (wie viele hofften), sondern hat sich sogar als gefährlicher herausgestellt als ursprünglich gedacht. Es verursacht auch bei jungen Menschen ohne Risikofaktoren und ohne Krankheitssymptome bisweilen sehr unangenehme Folgewirkungen, die mittelfristig sogar lebensbedrohlich sein könnten.

Wir wissen allerdings noch sehr wenig über Covid-19 und selbst das geringe Wissen haben wir bislang als Gesellschaft kaum reflektiert. Emotionen regieren und das oft nach einer Null-oder-Eins-Logik. Unternehmen berichten beispielsweise, dass gerade junge Menschen nach einem positiven Test in Panik geraten, weil sie von Spätfolgen harmloser Krankheitsverläufe gehört haben. Immerhin gibt es eine einige Hoffnung, dass wir im Therapiebereich schnell Fortschritte machen werden und die befürchteten Langzeitwirkungen nur sehr selten auftreten werden. Weitgehend gesichert ist nur, dass das Virus nicht wie die jährlich wiederkehrenden Grippewellen behandelt werden kann, weil es alles in allem wesentlich gefährlicher ist.

Aus dieser Erkenntnis folgt, dass es keine schnelle Rückkehr zu Vor-Corona-Zeiten geben wird. Viele Arten von Geschäftstätigkeit werden an die neue Situation angepasst und weitgehend transformiert werden müssen. Einige wenige Unternehmen haben damit angefangen und mittlerweile ihre Geschäftstätigkeit radikal verändert. Viele andere Unternehmen und Institutionen verharren in schnell errichteten Provisorien. Dies gilt auch für Organisationen, welche sich gänzlich der digitalen Transformation verschrieben haben, sich aber in der Not mit dem eigentlichen Transformieren schwertun.

Alternative Interpretationen: Erinnerungen an Building 20

Doch ist Transformation notwendig? Sind die Provisorien in ihrer Einfachheit, Genügsamkeit, Beschaulichkeit und in ihrer Ausrichtung auf Menschen mit viel Zeit und Musse nicht etwas Schönes? Könnten Sie nicht Anlass zum Umdenken sein? Durchaus. Doch das Denken ist frei und führt deshalb selten zu den normativ erwünschten Ergebnissen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.

Viele der Ende März schnell konstruierten Provisorien erinnern in ihrer methodenfreien und konzeptarmen Konstruktion an den legendären Bau Nummer 20 am MIT welcher einst auch auf die Schnelle von einem Nicht-Profi konzipiert wurde. Dieser Bau hat die Welt durch seine systemische Unordnung so grundlegend veränderte wie nie ein Gebäude zuvor – solange bis Bürokratie, ästhetischer Dünkel und modernes Kreativdenken ihn entsorgten (obwohl der Mythos sagt, dass es ihn noch gibt).

Um sein Ziel zu finden, musste man im Bau 20 die Nächstbesten fragen und kam ins Gespräch. Um ein Projekt zu realisieren, musste man dagegen niemand fragen. Diese Transformation des Fragens hatte die Macht, die Welt zu verändern. Es ist vorstellbar, dass die Covid-19-Provisorien ähnlich segensreich wirken werden. Gewisse Analogien sind erkennbar. Wenn es sie gibt, werden die Folgen aber kaum den Erwartungen unserer Wertgesellschaft entsprechen. Denn der Bau 20 funktionierte anders als gedacht. Er half primär den verrückten Genies, den visionären Zukunftsdenker*innen, den unbändig Wollenden und den kreativen Macher*innen mit starken Ideen. Er veränderte die Welt durch seine Anarchie, nicht durch seine ebenfalls vorhandene Beschaulichkeit als Lagerort für vermeintlich unbrauchbaren Wissenschaftler*innen.

Ursache 2: Fehlende Transformationspraxis

Mögen auch die Annahmen in Bezug auf die temporäre Natur der Gesundheitskrise falsch gewesen sein, so erklärt sich aus ihnen nicht, warum sie eine so grosse Rolle spielten. Warum stürzten sich nicht viele begeistert in die Transformation als Chance? Darauf gibt es nicht die eine Antwort. Zwei wichtige Gründe sind jedoch, dass erstens die Transformationswilligen beschäftigt waren und beschäftigt wurden und dass zweitens die Transformationspraxis fehlte.

Transformation verlangt Erfahrung – und diese Erfahrung entsteht nur durch Nähe und, besser noch, Eingebettet-Sein. Das beginnt damit, dass wir Probleme als Assets begreifen und inhaltlich möglichst gut durchdringen wollen und es endet damit, dass wir Lösung der Probleme aus Betroffenensicht erleben und uns auf die Suche nach neuen Problemen begeben. Das hat viele Ähnlichkeiten mit gutem Handwerk, unterscheidet sich von diesem nur dadurch, dass Kund*innen eine zentrale Rolle spielen (Sennett 2009). Es entspricht sehr weitgehend dem Sensemaking-Konzept (Madjsberg 2017). Und es ist dazu angetan, wenig Wertschätzung zu gewinnen, ähnlich dem echten Unternehmer wie er im letzten Kapitel von (Thiel 2014) geschildert wird. Im Übrigen wird Transformation selten bewusst wahrgenommen, wo sie tatsächlich stattfindet.

In der Praxis findet substanzielle Transformation selten statt – und dies ist kein Problem, weil meist Kontinuität keine schlechte Lösung ist. Transformation wird aber trotzdem von Führungskräften häufig erlebt. Sie nutzen dafür Managementinstrumente, Storytelling und smarte Tricks der Aufmerksamkeitslenkung, mit den sie Mitarbeiter*innen und sich selbst überzeugen. Der Preis für das befriedigende Erleben von künstlicher Transformation ist jedoch der Verlust der Sensibilität für Situationen, in denen fehlende Transformation tatsächlich zum Problem wird.

Wir haben es also zugleich mit zu wenig echter Transformationserfahrung und zu viel künstlicher Transformationserfahrung zu tun. Das Ergebnis ist, dass viele Unternehmen und Institutionen nach fünf Monaten Gesundheitskrise noch immer so handeln, als wäre das Morgen wie das Gestern, wie die Zeit vor Corona.

Alternative Interpretationen: Die Zukunft ist schon gedacht

Vielleicht bleiben aber die Transformationen nur unsichtbar – oder noch unsichtbar? Vielleicht sehen wir gar nicht, wie die Geschäftsmodelle derzeit umgestellt werden? Gerade die Kurzarbeit kann vieles verbergen. Beispiel (D/A): Aussendienstmitarbeitende der Pharmaindustrie zur Information der Ärzteschaft sind in Kurzarbeit. Werden diese wieder eingesetzt, wenn die staatlich mitfinanzierte Kurzarbeit endet? Einige Pharmaunternehmen evaluieren derzeit die Auswirkung der Kurzarbeit auf den Absatz.

Das Beispiel ist charakteristischer, als es den Anschein hat. Kurzarbeitsentschädigung fördert zwar tatsächlich vor allem Unternehmen, deren Kosten primär Lohnkosten sind – und dies schafft Anreize, die Digitalisierung hinauszuzögern. Die strukturpolitische Wirkung von Kurzarbeitsentschädigung ist aber mehr als unklar. Sie schafft nämlich auch Spielraum, um die Digitalisierung voranzutreiben. Sie befähigt Unternehmen dazu, menschliche Arbeit zu ersetzen, ohne die Kosten für die Parallelphase von menschlicher und maschineller Arbeit vollumfänglich zu tragen. Sie schiebt die Notwendigkeit von Kündigungen hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem klar ist, ob die digitale Automatisierung funktioniert. Zudem wird (in gewissem Masse) transparent, wie gross die Verluste durch Nichtarbeit sind. Sind sie gering, wird das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen zum Thema.

Kurzarbeitsentschädigung kann also von Unternehmen genutzt, die Wirkung von Rationalisierungen zu testen. Ob dies geschieht, ist von aussen schwierig zu entscheiden. Ähnlich könnten andere Provisorien nur Fassaden sein, hinter denen Geschäftsmodelle gerade neu gedacht werden. Wir wissen nicht, wer nichts tut und wer sich gerade neu erfindet.

Fazit: Das Potential für radikale Innovationen ist gross

 Es gibt derzeit so viel Ineffizienz und irrationale Annahmen «im System». Das macht disruptive Veränderung infolge von Covid-19 sehr wahrscheinlich. Einige wenige werden Kund*innen mit viel Zeit halten und aus ihren Provisorien marketingmässig eine Tugend machen können. Für den Rest der Transformationsunwilligen wird es wenig Halt geben.

Und: Die «Krisenlösungen» werden voraussichtlich das «Next Big Thing» der IT-Wirtschaft sein. Digitale Technologie lösen Distanzprobleme, können zusammenbringen, was zusammengehört und übernehmen auf elegante Weise ganz viele herausfordernde Organisationsaufgaben. Wichtig bleibt dabei: Es geht nicht um Digitalisierung per se, sondern um Digitalisierung als Mittel zum Zweck: die Lösung von Problemen und die Transformation unseres fachlichen und geschäftlichen Handelns.


Teil 2: In Teil 2 werden konkrete Transformationsbeispiele aus der Wirtschaft analysiert. Teil erscheint am 28. August 2020.

Teil 3: In Teil 3 werden Empfehlungen für Unternehmen formuliert, wie sie mit der Gesundheitskrise in den nächsten Monaten umgehen können.


Acknowledgements

Herzlichen Dank allen, welche zum Entstehen dieses Beitrags beigetragen haben. Dies sind insbesondere Siegfried Kolnberger, Andrew Kresch, Tine Melzer, Reinhard Starka, Paolo Vanini und Anne-Careen Stoltze-Siebmann.

 


Referenzen

  1. Christian Madjsberg: Sensemaking – What Makes Human Intelligence Essential in the Age of the Algorithm, Little, Brown, and Company, 2017.
  2. Richard Sennett: Handwerk, Berlin Verlag Taschenbuch, 2009.
  3. Peter Thiel, Blake Masters: Zero to One – Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, Campus Verlag, 2014.
  4. Vfa: Therapeuthische Elemente gegen die Coronavirusinfektion Covid-19, www.vfa.de  (28.7.2020)
Creative Commons Licence

AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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