Die Werkstatt der Zukunft

Kleine und mittlere Unternehmen haben in den letzten Jahren viel unternommen in Sachen Digitalisierung. Die Anstrengungen zielen meistens evolutionär in Richtung Computerisierung und Automatisierung (Industrie 3.0). Der Fokus liegt oft auf der Integration, also in der durchgängigen, prozessorientierten Verbindung verschiedener Lösungen. Bisherige Paradigmen bleiben erhalten: hierarchisch strukturiert, top down, zentral. Von Revolution ist wenig zu spüren. Aber wie könnte die Werkstatt der Zukunft denn aussehen?

Durch neue Technologien und die massiv gesteigerte Leistungsfähigkeit von Computern sind heute Dinge möglich, die früher nicht möglich waren. Das ist neu in der Wirtschaftsgeschichte. Ob eine Säge manuell, mit Dampf oder elektrisch angetrieben wird, es ist im Grunde immer der gleiche Prozess, einfach schneller und präziser. Die Steuerung ist direktiv. Eine Person lenkt den Prozess.

Neu stehen komplexe Systeme zur Verfügung, die wir nicht mehr vollständig beschreiben können, obwohl man vollständige Informationen über alle einzelnen Elemente hat. Anstelle einer direktiven Steuerung tritt eine Rekombination von Elementen. Der Mensch wird damit eher zu einem Dirigenten oder Koordinator. Der genaue Prozess der geführten Aufgabe ist ihm vorher nicht bekannt. So ist es beispielsweise möglich, dass eine Maschine ein Werkstück bearbeitet, ohne dass ein Mensch genau definiert hat, welchen Weg die Maschinenspindel abzufahren hat und wie viele Bohrungen notwendig sind. Das beschriebene Beispiel ist vergleichsweise einfach. Werden zusätzlich neue Technologien wie Robotik, autonome Transportsysteme, additive Fertigung vernetzt, sind noch sehr viel komplexere Produktionsumgebungen denkbar, wobei sich die Komplexität auf den Aufbau bezieht. Der Betrieb wird einfacher, leistungsfähiger, flexibler, im Idealfall sogar autonom.

Smart Factory als Enabler

Diese neuen Möglichkeiten sind das Revolutionäre. Sie verändern die Infrastruktur und die Arbeitsweise. Vorab verändern sie aber die Marktbedürfnisse. Latent schlummernde Kundenwünsche werden auf einmal realistisch, gar zur Gewohnheit, und entwickeln sich zu konkreten Erwartungen. Die Anforderungen steigen. Produkte werden individueller und Lieferzeiten sinken, während der Informationsaufwand steigt. Alles, jederzeit, überall. Auf Englisch spricht man vom Triple A: Available, Anywhere, Anytime.

Die Smart Factory ist eine Folge davon und gleichzeitig ein Ermöglicher (Enabler). Es ist die Vision einer selbstlernenden, selbststeuernden, vollautomatischen Produktion in Losgrösse 1, und das in hoher Qualität, zu einem Preis der Massenproduktion (Mass Customization). Geschäftsmodell, Kundenerlebnis, Serviceangebot, soziale und ökologische Nachhaltigkeit von Produkten und Produktion sind weitere zentrale Faktoren.

Losgrösse 1 bedeutet, ein Produkt ist fertig entwickelt, kalkuliert, geprüft und die Prozesse optimiert. Von diesem Produkt wird dann ein Stück nach kundenindividuellen Parametern produziert. Während die Industrie die Massenproduktion individualisieren muss, ohne an der bestehenden Produktivität oder Qualität einzubüssen, haben Handwerksbetriebe andere Herausforderungen. Sie müssen die Individualanfertigungen zu kostengünstigen, schnell verfügbaren Qualitätsprodukten entwickeln, die mit industriellen Produkten konkurrieren können. Die Herausforderungen und die Skalierung mögen unterschiedlich sein, aber die Rezepte ähneln sich.

Technologie steuert sich selbst

In der Werkstatt der Zukunft erhalten Maschinen, Werkzeuge, Produkte eine eindeutige Identifikation und kommunizieren über eine Dateninfrastruktur, zum Beispiel das Internet der Dinge. Man spricht in diesem Zusammenhang von Cyber-physischen Systemen (CPS), von digitalen Zwillingen, von smarten Produkten. Vielleicht bestehen die Komponenten nur aus der eindeutigen Identifikation. Es können aber auch weitere Informationen verbunden sein, beispielsweise Zustands-, Mess-, Prozess-, Bewegungs- oder Positionsdaten. Dank diesen Daten ist es nun möglich, die Produktionsprozesse selbststeuernd aufzubauen. Das Werkstück trägt oder erhält fortlaufend alle notwendigen Informationen für den gesamten Produktions- und Logistikprozess. Anlagen kennen ihren Zustand und können bedarfsgerecht und teileabhängig produzieren. Notwendige Wartungsintervalle und Werkzeugwechsel werden vorhergesagt. Dank Machine Learning wird das System laufend stabiler und besser. Eine hochflexible, vollautomatische Produktion wird so zumindest denkbar. Es mag sein, dass diese Vision noch nirgends vollständig Realität ist, aber es gibt Beispiele aus anderen Branchen, die nahe dran sind. Der Weg zu einer solchen Werkstatt der Zukunft wird schrittweise erfolgen. Voraussetzung ist ein guter digitaler Reifegrad auf Stufe 3.0, also eine papierlose und datenbasierte Produktion.

Paradigmenwechsel

Die Werkstatt der Zukunft bedeutet einige Paradigmenwechsel. Die Informations- und Kommunikationstechnologie wird dezentral (CPS, Cloud). Die Bedeutung grosser, zentraler, hierarchisch strukturierter Software weicht zu Gunsten kommunizierender Apps (SaaS). Funktionen werden serviceorientiert (XaaS). Aus der klassischen Automatisierungspyramide wird ein Netz in der Cloud. Anstelle proprietärer Systeme treten offene Standards. Die generierten Datenmengen sind dabei zu gross, zu schnelllebig oder zu schwach strukturiert, um sie mit manuellen und herkömmlichen Methoden auszuwerten (Big Data). Da Systeme nicht nur kompliziert, sondern komplex sind, wird die Gesamtheit der verfügbaren Daten für Mustererkennung und Korrelation eingesetzt. Die Leistungsfähigkeit der Systeme erlaubt Analysen, Prognosen und Simulationen in Echtzeit.

Arbeitsformen ändern sich

Es scheint eine logische Folge, dass solche Paradigmenwechsel auch neue Arbeitsformen mit sich bringen. Routinetätigkeiten nehmen ab. Anstelle der klassischen, auftragsbezogenen Arbeitsvorbereitung tritt vermehrt das Engineering. Anstelle eines Werkplans mit Stückliste tritt eine abstraktere Produktentwicklung, die kundenspezifisch zusammengesetzt und parametriert wird, im Idealfall sogar durch den Kunden selbst. Die Produktionsdaten werden dann automatisch generiert. Komplexe Projekte sind nicht mehr vollständig planbar und werden deshalb mit agilen Methoden bearbeitet. Insgesamt ist zu erwarten, dass sich die Arbeitsweise in Richtung mobil, flexibel, transparent, projektorientiert, agil, lean und hierarchielos entwickelt. In der Bau- und Holzbranche scheinen diese Veränderungen besonders schwierig, vermutlich weil die Bauprozesse in Phasen normiert sind und sich die bisherige Denkweise tief verankert hat. Wirklich aufhalten lässt sich die Veränderung jedoch nicht. Die zunehmende Wettbewerbsintensität wird dafür sorgen.

Neue Konzepte bieten Chancen

Wenn sich die Industrie in Richtung Smart Factory bewegt, bringt sie individualisierte Produkte in hervorragender Qualität und kurzer Lieferfrist zu günstigen Preisen. Das dürfte konventionelle Werkstätten in Bedrängnis bringen. Es bieten sich aber auch Chancen, gerade in der Holz- und Baubranche. Neben den Nischenstrategien scheinen zwei weitere Konzepte naheliegend: Individualprodukte und dezentrale Fertigung von Standardprodukten.

Individualprodukte benötigen sehr viel Fachwissen und eine aussergewöhnliche Kundenorientierung. Die gewünschte Mehrleistung ist anspruchsvoll. Der Druck, den Mehraufwand wenigstens teilweise durch eine leistungsfähige Infrastruktur zu kompensieren, dürfte gross sein.

In der dezentralen Fertigung von Standardprodukten sind kooperative Fähigkeiten nötig. Man muss bereit sein, Mitbewerber als Partner anzuschauen und gemeinsam Entwicklungen vorzunehmen oder Entwicklungen an einen Partner auszulagern. Im Gegenzug können Entwicklungs- und Vermarktungskosten geteilt werden.

Für beide Konzepte braucht es zwingend eine effiziente, weitgehend automatisierte Produktion, ein Wertschöpfungsnetzwerk mit niedrigen Transaktionskosten und je nach Produkt auch eine sinnvolle Integration von BIM. Das ist nicht illusorisch. Viele Unternehmen setzen bereits heute auf ERP, CAD, CNC und haben einen Webauftritt. Was fehlt, ist eine smarte Vernetzung dieser Komponenten.

Mehr Zusammenarbeit, mehr F & E

Das kann die Vision «Werkstatt der Zukunft» bieten. Leider wurde darüber erst wenig geforscht. Ganz anders in der Industrie. Deutschland hat alleine bereits mehrere hundert Millionen Euro in die Forschung der Zukunftsinitiative Industrie 4.0 investiert. Hinzu kommen die Investitionen der Industrie selber. Führende Firmen in diesem Bereich wie Siemens oder Bosch haben alleine je rund 400’000 Mitarbeitende. In der Schweiz zählt die gesamte Holzwirtschaft rund 80’000 Mitarbeitende, verteilt auf 10’000 Unternehmen. Diese Vergleiche machen den Handlungsbedarf deutlich. Es braucht dringend mehr Zusammenarbeit und mehr Forschung und Entwicklung.


Über das Forschungsprojekt

Ausgelöst durch die Initiative Wald & Holz 4.0 baut die Berner Fachhochschule gemeinsam mit der Swiss Smart Factory und mehreren Wirtschaftspartnern an der Werkstatt der Zukunft. Dabei werden Umsetzungskonzepte der Industrie 4.0 für holzverarbeitende KMU adaptiert. Nebst der Schaffung einer beispielhaften digitalen Fertigungskette wird der Bearbeitungsprozess von platten- und stabförmigen Halbfabrikaten modelliert, die Vernetzung einzelner Komponenten ermöglicht sowie die Datendurchgängigkeit hergestellt. Das Ziel ist der Aufbau einer Test- und Demonstrationsumgebung.

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AUTHOR: Rolf Baumann

Rolf Baumann ist Professor für Wirtschaftsinformatik, leitet das Institut für digitale Bau- und Holzwirtschaft IdBH, den Bereich Forschung & Entwicklung, Dienstleistungen, Weiterbildung und ist Mitglied der Departementsleitung der BFH Architektur, Holz und Bau. Zuvor sammelte er vielfältige berufliche Erfahrungen, u.a. als Schreiner, Holzingenieur, Unternehmer und Geschäftsleitungs-mitglied eines Softwareunternehmens.

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