Parlamente im Krisenmodus (1) – variable Erfahrungswerte mit grossem Lernpotenzial

Die Covid-19-Krise traf die Parlamente offensichtlich unvorbereitet, ganz gleich ob auf städtischer, kantonaler oder Bundesebene. Krisenpläne waren mehrheitlich inexistent oder nicht genau auf diese Zwecke ausgerichtet. Mit einigen Wochen Abstand lassen sich nun erstmals einige Muster und Probleme zur Covid-19-Krisenbewältigung benennen und analytisch einordnen. Dies als Voraussetzung dafür, die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Die Führungsrolle in Krisensituationen liegt bei den Exekutiven. Was aber ist die Aufgabe der Legislativen in dieser Situation? Wie sollen Parlamente, Kommissionen und Ratssekretariate im Krisenmodus agieren?

Unterschiedliche Reaktionen

Die Parlamente haben auf die Herausforderung der Krise sehr unterschiedlich reagiert: Das Spektrum reicht von wochenlangem selbstverordnetem Lockdown im Homeoffice bis hin zu regelmässigen Notstandssitzungen von Aufsichts- und Geschäftsprüfungskommissionen, die begleitend tätig wurden. Teilweise waren in den Gemeinden und Städten die legislativen Krisenstäbe rund um die Uhr aktiv, andere Einheiten stellten den Betrieb  mehr oder weniger ein.

So hat sich das Ratssekretariat des Berner Stadtrats kurz nach Ausrufung der ausserordentlichen Situation ins Homeoffice begeben und war zu Beginn nur über E-Mail erreichbar. Erst auf Nachfrage und Druck von Parlamentarier*innen wurden Lösungen für virtuelle Meetings gefunden. Die Kommissionsarbeiten hingegen waren während Wochen vollständig eingestellt. So war es z.B. ab Mitte April den Kommissionspräsidien überlassen, in welcher Form Sitzungen stattfinden konnten.

Auf Bundesebene hat die Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung die Frühlingssession abgebrochen. Der Bundesrat selbst hat das Parlament zu einem späteren Zeitpunkt aufgefordert, wieder zu tagen, da weitreichende finanzielle Entscheide anstanden. Auch andernorts äusserten Exekutiven nach einigen Wochen den klaren Wunsch nach einer Legitimation ihrer Entscheide durch die Parlamente. Allerdings brachten die dafür notwendigen physischen Sitzungen der Parlamente in grossen Eventhallen oder ähnlichen Einrichtungen rund zwei Monate nach dem Lockdown einen enormen organisatorischen Aufwand sowie hohe Zusatzkosten mit sich.

Kernfunktionen der Parlamente

Niemand bestreitet, dass in Krisenlagen die Führungsrolle der Regierung besonders gefragt ist. Dies ist gesetzlich mit dem Notstandsrecht möglich und hat sich durchaus bewährt. Trotz und gerade im Falle einer Bedrohung der Bevölkerung müssen die Parlamente ihre Kernfunktionen aber weiter wahrnehmen können. Im Grundsatz erfüllen Parlamente vier Funktionen, die dem politischen System demokratische Legitimation verleihen (vgl. Marschall 2018):

  1. Repräsentation und Artikulation von politischen Anliegen,
  2. Selektion und Wahl von politischem Personal,
  3. Politikgestaltung und Gesetzgebung sowie
  4. Kontrolle der Exekutive und anderer Staatsorgane.

Im Schweizer Kontext sind die ersten beiden Funktionen im internationalen Vergleich von geringerer Bedeutung (Schwarz/Vatter 2011). Wir verfügen in aller Regel nicht über sogenannte Redeparlamente, in denen der effektvolle Schlagabtausch auf hohem rhetorischem Niveau zwischen Regierung und Opposition gepflegt wird. Im Gegenteil: Parlamentsdebatten gleichen eher einer Veranstaltung «fürs Protokoll». Oder positiver formuliert: Legislativen sind hierzulande Arbeitsparlamente (Linder/Müller 2017). Die wichtigste Arbeit erfolgt im Rahmen der vorberatenden Kommissionen. Die Herstellung von Öffentlichkeit, das Vorbringen politischer Anliegen und gesellschaftliche Debatten finden in der heutigen Zeit zunehmend via Medien und in den sozialen Netzwerken statt, nicht im Parlamentsplenum.

Politische Kontrolle aufrechterhalten

Umso grössere Bedeutung erlangen in Notstandssituationen hingegen Fragen der Legitimation und Akzeptanz von dringlichen Exekutiverlassen sowie die politische Kontrolle des Regierungshandelns. Das Parlament ist gleichzeitig Mit- und Gegenspieler der Regierung: Mal sorgt es für die demokratische Legitimation heikler Anordnungen, mal weist sie die Exekutive in die Schranken. Ein demokratisches System bleibt nur funktionstüchtig, wenn das Parlament in Krisensituationen diese Rolle wirksam einzunehmen vermagWenn der Legislative die dafür notwendigen Instrumente und das Selbstverständnis ihrer bedeutenden Rolle auch während Krisen fehlen, wird am Ende das Feld ganz der Regierung und Verwaltung überlassen, was in den ersten Wochen an vielen Orten zu beobachten war.

Ein erstes Fazit

Parlamente müssen in der Lage sein, auch in Krisensituationen ihre Kernfunktionen wahrzunehmen, wenngleich diese auch nachgelagert an das eigentliche Krisenmanagement erfolgen. Dazu müssen sie sich aber zuerst einmal im Klaren darüber werden, welche Aufgaben sie im Krisenmodus primär zu erfüllen haben. Eine Analyse der Reaktionen verschiedener Parlamente auf die Krisenherausforderungen im Sinne der Eruierung von “best practices” ist hilfreich, wobei der Blick auch über die Landesgrenzen hinaus gehen sollte. Offensichtlich ist, dass der Digitalisierung des Ratsbetriebs mit minimalen Funktionsszenarien im Krisenmodus eine bedeutende Rolle zukommen wird. Diese Aspekte werden im zweiten Teil dieser Serie weiter vertieft.


Referenzen

  1. Linder, Wolf und Sean Müller (2017). Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern: Haupt Verlag.
  2. Marschall, Stefan (2018). Parlamentarismus: Eine Einführung. Baden-Baden: Nomos.
  3. Schwarz, Daniel und Adrian Vatter (2011). Die Auswirkung einer Reform der Wahlfunktion des Parlaments auf dessen Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion. Studie im Auftrag der Parlamentsdienste der Schweizerischen Bundesversammlung. Bern: Institut für Politikwissenschaft.

Teil 2 erscheint am 3. Juli 2020.

Teil 3 erscheint am 10. Juli.

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AUTHOR: Daniel Schwarz

Daniel Schwarz ist promovierter Politikwissenschaftler am Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) der Uni Bern und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft. Er gehört zum Gründerteam der Online-Wahlhilfe "smartvote" und ist Präsident des Trägervereins "Politools".

AUTHOR: Ingrid Kissling-Näf

Prof. Dr. Ingrid Kissling-Näf ist Direktorin des Departements Wirtschaft der Berner Fachhochschule. Als Ressourcenökonomin engagiert sie sich für nachhaltige Entwicklung, Social Innovation und nachhaltiges Unternehmertum. Sie ist Co-Leiterin des Instituts Sustainable Business und Präsidentin der Nachhaltigkeitskommission der BFH. Sie ist zudem als Stadträtin in Bern und UNICEF-Delegierte aktiv.

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