Anatomie studieren mit Virtual Reality
Das Berner Bildungszentrum Pflege führt schon länger interprofessionelle Lernveranstaltungen durch. Ein bestehendes Angebot vermittelt Medizinstudierenden der Universität Bern und Pflegestudierenden des Berner Bildungszentrum Pflege besondere Kenntnisse der Anatomie. Dieses wurde nun mit Virtual Reality ergänzt.
Der Einsatz von Virtual-Reality-Brillen ist nicht nur im Bereich der Unterhaltungsmedien ein grosses Thema. Auch in der Aus- und Weiterbildung ist die Tendenz da, diese Technologie vermehrt zu nutzen (Schlegel C. & Weber, 2019). Die virtuelle Realität (VR) bietet Studierenden die Möglichkeit, sich effektiv, realitätsnah und kostengünstig ausbilden zu lassen. VR wurde als computergenerierte digitale Umgebung definiert, mit der man interaktiv interagieren kann – so, als ob die Situation real wäre (Reif, Walch, & Wulz, 2007).
Derzeit steht die Anwendungen von VR-Brillen in der Bildung noch am Anfang der Entwicklung. Am Berner Bildungszentrum Pflege (BZ Pflege) hat man das Potenzial der VR-Brille in der Aus- und Weiterbildung früh erkannt, sodass bereits verschiedene Lehr- und Lernsettings entwickelt wurden (Schlegel, Geering, & Weber, 2020). So erkunden zum Beispiel Pflegestudierende die Anatomie des Herzens und dessen Erkrankungen indem sie virtuelle Rundgänge durch das Innere des Herzens machen.
Um den Einsatz der VR-Brille am BZ Pflege weiter zu etablieren, wurde die Methode in eine bestehende interprofessionelle Lernveranstaltung integriert. Es handelt sich um ein Setting, in dem sich Pflegestudierende des BZ Pflege und Medizinstudierende der Universität Bern gemeinsam der Anatomie widmen. Der Fokus der Lehrveranstaltung liegt auf der virtuellen Erkundung des Magen-Darm-Traktes. Für die Verantwortlichen steht die Frage im Zentrum, ob sich das Lernen mit der VR-Brille stimulierend auf die Studierenden auswirkt, wenn es darum geht, mit anderen Teilnehmenden in Kontakt zu kommen und die Diskussion zu fördern.
Auch wenn die Ausbildung von Studierenden verschiedener Gesundheitsberufe noch immer in sogenannten Lernsilos stattfindet – also meist ohne interprofessionellen Austausch – erkennen die Bildungsinstitutionen zunehmend den Veränderungsbedarf (Herrmann, Woermann, & C., 2014). Die Patient*innen haben interprofessionelle Bedürfnisse, und daher sind auch in der Ausbildung interprofessionelle Lehr- und Lernsettings erforderlich. Im klinischen Alltag müssen Ärzt*innen und Pflegefachpersonen zusammenarbeiten. Studierende der Pflege und Medizin erwerben Fachkenntnisse und Fähigkeiten, die für die Ausübung ihres eigenen Berufs wichtig sind, aber die Vorbereitung auf Teamarbeit – im Hinblick auf die interprofessionelle Zusammenarbeit – ist unzureichend. In der beruflichen Praxis kann das zu Missverständnissen führen, und es fördert den professionellen Protektionismus. Interprofessionelle Lehrveranstaltungen sind daher eine Chance, und sie wirken sich positiv auf die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen aus (Herrmann, et al., 2014).
Das oben erwähnte Wahlpflichtfach richtet sich an Studierende im zweiten Ausbildungsjahr. Es nehmen jeweils 25 Medizin- und 25 Pflegestudierende an der Veranstaltung teil. Ihnen steht ein halber Tag zur gemeinsamen Erkundung des Magen-Darm-Traktes zur Verfügung. Ziel ist einerseits das gemeinsame Lernen der Anatomie, andererseits die Lernkultur der anderen Berufsgruppe kennenzulernen. Alle Studierenden stehen in diesem Setting auf der gleichen hierarchischen Stufe, und ihre Beiträge haben den gleichen Wert. Es findet ein Wissensaustausch statt, unterschiedliche Sichtweisen, gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung sollen gefördert werden.
Ablauf der gesamten Lehrveranstaltung
Zum Erlernen der Anatomie des Magen-Darm-Traktes stehen den Studierenden während eines Nachmittags drei verschiedene Stationen zur Verfügung. In der ersten Station haben sie die Möglichkeit, speziell präparierte Organe eines menschlichen Körpers zu erkunden und diese zu ertasten. Bei der zweiten Station untersuchten sich die Studierenden gegenseitig mit dem Ultraschall, um ihre Organe im Abdomen zu erforschen. Bei der dritten Station wird der virtuelle Rundgang durch die Organe des Magen-Darm-Traktes mit der VR-Brille ermöglicht. Mit diesen drei Stationen lernten die Pflege- und Medizinstudierenden die Organe aus verschiedenen Perspektiven kennen.
Der virtuelle Rundgang durch die Organe wird mit dem VR-Headset Oculus Rift S (2019) und dem gratis Anatomieprogramm Sharecare, ©2020 Inc. (Arnold, 2020) durchgeführt. Alle Teilnehmenden haben die Möglichkeit, mit der VR-Brille die Anatomie des Magen-Darm-Traktes zu erkunden, die Organe von aussen zu betrachten und sie von innen zu erkunden.
Ist eine Person mit der VR-Brille ausgestattet und in Aktion, können die anderen Mitglieder der beruflich gemischten Gruppe deren Handlungen am Monitor mitverfolgen (First-Person-View). Anhand von Lernfragen zur Anatomie werden die Teilnehmenden zudem animiert, über die verschiedenen Strukturen zu diskutieren. Gleichzeitig verknüpfen sie ihr Wissen aus den drei Stationen und tauschen sich aus. Die Studierenden können im Rahmen dieser Lehrveranstaltung eine interprofessionelle Bildungserfahrung machen, bei der das Erlernen der Anatomie des Magen-Darm-Traktes anhand einer virtuellen Welt im Vordergrund steht.
Abb. 1: Screenshot virtuelle Darstellung des Dickdarms, ©2020 Sharecare, Inc.
Abb. 2: Screenshot virtuelle Darstellung des Magens, ©2020 Sharecare, Inc.
Auswertung der VR-Station
Die Studierenden n=50 wurden nach der Gruppenarbeit zu einer freiwilligen Umfrage eingeladen. Zu diesem Zweck wurde das Instrument «New Learning design in distance education: The impact on student perception and motivation» (Martens R., Bastiaens, & Kirschner, 2007).
Die Auswertung ergab, dass ein pädagogisch sinnvoller Einsatz der VR-Brille bei den Studierenden die Neugierde auf das zu bearbeitende Thema weckt und ihr exploratives Lernen unterstützt. Im Weiteren stimuliert der Einsatz der VR-Brille das Lernen mit anderen und regt zu fachlichen Diskussionen an. Auch wenn jeweils nur eine Person der Gruppe die VR-Brille aufhat und in Aktion ist, lernen die restlichen Mitglieder durch präzises Beobachten. 92 Prozent der Studierenden deklarierten, dass das Lernen mit der VR-Brille für sie neu ist, und 87 Prozent von ihnen haben Spass daran.
Graphik 1: Umfragewerte über erforschendes Lernen
Graphik 2: Umfragewerte über Stimulation mit anderen in Kontakt zu kommen
Graphik 3: Umfragewerte über die Anregung fachlicher Diskussionen
Graphik 4: Umfragewerte über Beobachtung der Anderen
Schlussfolgerung
Bildungsinstitute für Gesundheitsberufe entwickeln zunehmend interprofessionelle Lehrpläne und Lehrveranstaltungen. Der Einsatz der VR-Technologie kann eine Möglichkeit sein, Studierende verschiedener Berufsgruppen des Gesundheitsbereichs aktiv zusammenzubringen. Das Lernen muss so gestaltet werden, dass sich die Studierenden Fähigkeiten wie Informationskompetenz, kritisches Denken, Kommunikation und Reflexion aneignen können. Dazu braucht es nebst dem pädagogischem Know-How, die passende Technologie, die zwar komplex ist, jedoch auch zunehmend «userfreundlich». Die verantwortlichen Lehrpersonen müssen sich somit das pädagogische Know-how aneignen, damit sie die VR-Technologie sinnvoll einsetzen können.
Literatur
- Arnold, G. (2020). Know your body Retrieved 18.03.2020, from https://http://www.sharecare.com/
- Herrmann, G., Woermann, U., & C., S. (2014). Interprofessional Education in Anatomy: Learning Together in Medical and Nursing Training Interprofessional Education in Anatomy, 8(4), 324-330.
- Martens R., Bastiaens, T., & Kirschner, P. (2007). New Learning Design in Distance Education: The impact on student perception and motivation. Distance Education, 28(1).
- Reif, R., Walch, D., & Wulz, J. (2007). Einsatz von Virtual und Augmented Reality: Studie zur Menschintegrierten Simulation und Prozessunterstützung im logistischen Umfeld. In ForLog (Ed.), Bayrischer Forschungsverbund.
- Schlegel, C., Geering, A., & Weber, U. (2020). Virtual Realty verbessert die Wirklichkeit, 73(1-2), 57-61.
- Schlegel C., & Weber, U. (2019). Lernen mit Virtual Reality: Ein Hype in der Pflegeausbildung? Pädagogik der Gesundheitsberufe 3(6), 182-186.
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!