Menschenverstand und Empathie  – auch im Zeitalter der digitalen Gesundheit gefragt?

Everybody needs that human touch. Im Zeitalter der digitalen Gesundheit erst recht. So. Das war die vorgegebene Fragestellung und meine zugehörige Headline im Februar 2020. Mein Abstract wurde akzeptiert. Ich haute final in die Tasten. Geschliffene Sätze, ein sorgfältig gesponnener roter Faden zu einer soliden Dramaturgie verflechtet. Fand ich zumindest. Und dann kam Corona. Und mein Abstract erschien mir plötzlich abstrakt, überholt, nichtig. “Human touch?!” …allein beim Wort “touch” schrillen sämtliche Alarmglocken. Suboptimal.

Nun über COVID-19 schreiben? Nein. Das können ganz viele andere Menschen deutlich besser als ich. So ganz an der Pandemie vorbei schreiben ging trotzdem nicht: Der Schweizer Corona Lockdown setzte der Hinfälligkeit meines Textes die Krone auf. Der Text war obsolet. Ein Fakt, nicht weiter schlimm. Auf ging’s zur nächsten Iteration. Ich konnte vereinzelt nachhaltig schriftstellern und ein paar Sätze rezyklieren. Zum Beispiel diese hier: “Gesundheit geht uns alle an, bereits bevor wir als Patient*innen deklariert mit einer Nummer versehen werden und unsere Geschichte irgendwo in einem Patientendossier verschwindet. Vielleicht in einem Bundesordner, einem Hängeregister oder – je nach Region und Institution – tatsächlich digitalisiert.”

Ich schnödete diskret gegen den digitalen Reifegrad unseres Gesundheitssystems und die bekannte Sick- versus Healthcare-Diskussion. Im Wissen, dass sich viele schlaue Köpfe bereits seit Jahrzehnten dieser Thematik annehmen und dass es teils gute Gründe dafür gibt, weshalb die Schweiz zwar in diversen Innovationsranglisten obenaus schwingt, mit dem digital exponentiellen Siebenmeilenstiefeltempo bisher jedoch nicht flächendeckend mithalten konnte.

Und weiter: «Das Schweizer Gesundheitswesen gilt im internationalen Vergleich als eines der besten.1 Wir sind statistisch gesehen Teil einer verhältnismässig gesunden Population.2 Tausende von Gesundheitsfachpersonen leisten Tag und Nacht hervorragende Arbeit.»

Und ob! Das haben wir inzwischen alle realisiert, nicht wahr?

“Wir haben Wissen, Erfahrung und theoretisch auch Ressourcen. Die Schweiz ist gemessen am BIP pro Kopf eines der reichsten Länder der Welt3, (…)” Auch post-Corona. Nur bringt das aktuell leider keinem etwas, der gerade um seine wirtschaftliche Existenz kämpft, oder diesen Kampf bereits verloren hat. Ich führte weiter aus, die Schweiz sei (…) “auch reich an Diversität, mit einer starken Demokratie und gelebtem Föderalismus. Dieses Konstrukt ist nicht nur kompliziert, sondern komplex. Genau deshalb braucht es Menschenverstand und Empathie, sowohl im praktischen Alltag wie auch bei politisch-wirtschaftlichen Debatten. Digitalisierung bedingt analogen Wandel.”

Wie schnell sowohl analoger als auch digitaler Wandel von statten gehen können, hatte wohl kein Zukunftsforscher oder Kristallkugelleser in seiner 2020 Prognose. Es passieren gerade wunderbare analoge Dinge. Eine Welle von Solidarität.

(Bei allem Respekt. Manchmal frage ich mich still und leise: “Leute. Ich welcher Realität habt ihr vor Corona gelebt bitteschön?!”. Und dann klopf’ ich mir gleich selbst auf die Finger. Es gibt keine richtigen, falschen, grossen oder kleinen Realitäten. Es gibt nur Realität, und die ist individuell. Wer nun also seinen Beitrag zur Nachbarschaftshilfe gross auf Social Media posten möchte, der darf das).

Also helfen wir einander und bleiben dabei hoffentlich alle gesund. Flatten the curve. Ja. Unbedingt! Linear bergab bitte. Menschenverstand und Empathie gerne beibehalten, weiterhin für – bzw. sobald wieder vernünftig umsetzbar noch besser mit! – der betagten Nachbarin einkaufen gehen. Die Solidaritätswelle soll nicht abflachen. Denn Grosi will auch nach der Krise weder online shoppen noch einen sprechenden Kühlschrank nach FIFO-Prinzip und automatischer Nachbestellung. Sie will die paar Schritte zu Fuss gehen können, ihre Knochen bewegen, Muskeln erhalten und Vitamin D tanken. Vielleicht will sie das nicht derart explizit. Doch sie möchte selbständig und selbstbestimmt leben können. Wandern statt surfen. Den einen oder anderen Quartierschwatz halten: Ihr Highlight des Tages. Ihr daily human touch. Sie will auch ihrer Ärztin des Vertrauens wieder die Hand schütteln können. Telemedizin funktioniert zwar plötzlich einwandfrei, doch «es isch haut scho nid ganz ds Gliiich, gäu.»

Die Krise liess den vielerorts trägen dahinschlurfenden digitalen Wandel einige Gänge hochschalten und die Transformationsmotoren aufheulen. Auf gewissen Ämtern mit tragenden Rollen in der aktuellen Krise liefen bekanntlich auch Faxgeräte auf Hochtouren. Möglicherweise sind diese Begebenheiten bei der Veröffentlichung dieses Berichtes auch schon passé. Wir wünschen es uns und den Corona-Statistikern in der eidgenössischen Faxzentrale gleichermassen.

Einige Menschen wurden in der Krise nicht nur isoliert, sondern parallel dazu, ähnlich einer Metamorphose, über Nacht digitalisiert. Auch hier, von vielen je länger desto schmerzlicher vermisst: Empathie. Menschen aus Fleisch und Blut. Die tägliche Routine des echten Lebens. Für digitalisierte Empathie gibt’s noch kein glaubhaftes Proof of Concept, trotz einer beeindruckenden Achterbahnfahrt der letzten Jahre auf Gartners Hype-Zyklus für neue Technologien,4 bis hin zum sogenannten Plateau der Produktivität.

Algorithmen können zwar traurige Gesichter erkennen, diese nachhaltig aufzumuntern, ist meines Wissens noch niemandem so richtig gelungen. Die Übertragung von Herzenswärme funktioniert analog. Das gilt nicht nur für die digitale Gesundheit:

Eine Fülle an Möglichkeiten soll gesunden Patienten und Gesundheitsfachpersonen den Alltag erleichtern, um mit der (wirklich?) gewonnenen Zeit echte Kundenzentriertheit zu leben.  Kundenzentriertheit? Bitte dafür nicht einen Kreis aufzeichnen, einen Patienten ins Zentrum und eine Cloud darüber malen und alles ist gut. Viele wollen als Experten des eigenen Lebens auf die Gesundheitsreise mitgenommen werden, auf Augenhöhe mit den medizinisch wissenschaftlichen Experten. Sie wollen technologische Lösungen mitentwickeln und wünschen sich partizipative Entscheidungsfindung, oder je nach Literatur: Shared Decision Making.

Die sogenannte e-Patients-Bewegung setzt sich seit über 15 Jahren für diesen Ansatz ein. Das «e» steht dabei für equipped, enabled, empowered und engaged. Digitale Ansätze können unterstützen, doch auch hier spielen Empathie und Menschenverstand eine zentrale Rolle. Für und von allen Seiten.

Die Corona Pandemie hat die digitale Gesundheit zusätzlich vorangetrieben. Das ist nicht rocket science. Krisen und einschneidende politische Veränderungen sind Innovationtreiber. Zwangsläufig.

Das oft zitierte digitale Transformationsbeispiel Estland ist uns mindestens ein Jahrzehnt voraus, aus gutem Grund. Wir erinnern uns an den eingangs erwähnten Schweizer Föderalismus. Wir haben kein e-Government à la e-Estland, welches vor knapp 30 Jahren mit der Unabhängigkeit das mit Hinblick auf die Bürokratie seltene Glück hatte, von Null anfangen zu können.

Und ja. Dort stehen heute definitiv keine Faxgeräte mehr.

Mit dem Finger auf andere zu zeigen ist einfach. Feines Anstupsen (bitte erst nach COVID-19!) im Sinne von Thalers5 Nudging Ansatz sei jedoch erlaubt. Lassen Sie uns versuchen, den digitalen Schwung nachhaltig mitzunehmen und eine gesunde digital-analoge Balance zu finden. Gesundheit wird digitale Ansätze in Zukunft sowieso implizieren, basierend auf technisch-wissenschaftlichem Fortschritt, Verstand und Herz.

Bleiben Sie gesund!


Referencen

  • Euro Health Consumer Index 2018
  • World Health Statistics 2019: Monitoring health for the sustainable development goals
  • World Population Prospects 2019, Population Division of the Department of Economic and Social Affairs of the United Nations
  • Gartners Inc.:  Gartner Hype Cycle: Interpreting technology hype
  • Thaler, R: Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness. Yale University Press LTD (2008)
Creative Commons Licence

AUTHOR: Cordelia Trümpy

Cordelia Trümpy arbeitet in der Abteilung Innovation & Communication des Diabetes Center Berne. Die Betriebsökonomin und diplomierte Ernährungsberaterin HF kennt das Schweizer Gesundheitssystem aus der Perspektive Spital, Reha, Pharma-, Healthcare- und MedTech Industrie, vernetzt in der Welt von Healthcare Startups, engagiert in verschiedenen Initiativen des Gesundheits Ökosystems. Sie unterrichtet im Bereich Ernährung und Diätetik / Marketing, eHealth (BFH, ikf Luzern).

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